Mehr Mut zur Zinswende: Die EZB muss entschiedener handeln

Blog Marcel Fratzscher vom 11. April 2024

Es gibt gute Argumente für einen Kurswechsel in der Geldpolitik. Doch die Europäische Zentralbank wird die Chance für eine Zinssenkung am Donnerstag wohl ungenutzt lassen. Das ist schlecht für Europas Konjunktur.

Die Europäische Zentralbank (EZB) wird in dieser Woche voraussichtlich die Chance verstreichen lassen, eine Kehrtwende in ihrer Zinspolitik einzuleiten. Sie scheint sich an die US-Notenbank anlehnen zu wollen, statt dem Vorbild anderer, kleinerer Zentralbanken in Europa zu folgen und die Zinsen bereits jetzt zu senken.

Dieser Gastbeitrag von Marcel Fratzscher erschien am 11. April 2024 im Tagesspiegel erschienen.

Das ist keine gute Nachricht, denn die Geldpolitik ist, neben der Finanzpolitik, nicht nur weiterhin die stärkste Bremse für die europäische Konjunktur. Sie verhindert womöglich auch wichtige Investitionen und macht europäische Unternehmen weniger wettbewerbsfähig.

Zugegebenermaßen befindet sich die EZB derzeit in einem großen Dilemma: Auf der einen Seite sinkt die Teuerungsrate insgesamt – nach drei Jahren mit einer teilweise viel zu hohen Inflation – und ist mit zuletzt 2,4 Prozent im Euroraum wieder auf einem Niveau, das mit dem Ziel der Preisstabilität der EZB übereinstimmt. Auf der anderen Seite liegen die Kerninflation sowie die Inflation im Dienstleistungsbereich noch über dem Ziel der Preisstabilität. Und auch eine Erholung der Löhne dürfte 2024 und 2025 weiterhin Druck auf die Preise ausüben.

Das sind Gründe, warum die EZB den jüngsten Entwicklungen noch nicht zu trauen scheint. Allerdings sind all dies auch temporäre Faktoren. Ängste vor einer Lohn-Preis-Spirale bleiben unbegründet, denn Löhne sind nicht mehr indexiert und nur die Hälfte aller Jobs über Tarifverträge abgedeckt. Und die Inflationserwartungen sind sehr gut verankert – Bürger:innen, Unternehmen und Märkte haben Vertrauen, dass die Inflation gering bleiben wird.

Vier Gründe für eine Änderung

Es gibt vier gewichtige Argumente dafür, dass der EZB-Rat bereits im Zuge seines Zinsentscheids diese Woche Donnerstag einen Kurswechsel der Geldpolitik einleitet: Der erste Grund ist die schwache konjunkturelle Entwicklung in der Eurozone und insbesondere in Deutschland. Die Stimmung bei Unternehmen und Verbraucher:innen ist nach wie vor schlecht. Vor allem aber wird die Wirtschaft auch in den kommenden zwei Jahren zum Teil erheblich unter ihrem Potenzial produzieren. Und eine zu geringe Nachfrage könnte die Preise stärker drücken, als der EZB recht sein kann.

Als Zweites würde die Geldpolitik der EZB selbst bei starken, baldigen Zinssenkungen noch auf längere Zeit restriktiv bleiben. Der Leitzins befindet sich bei 4,5 Prozent, der neutrale Zins – bei dem Nachfrage und Angebot im Gleichgewicht sind und Preisstabilität vorherrscht – dürfte derzeit deutlich unter drei Prozent liegen.

Drittens dauert es eineinhalb Jahre und mehr, bis geldpolitische Maßnahmen ihre volle Wirkung auf die Wirtschaft entfalten. Selbst wenn die EZB nun also zügig und deutlich die Zinsen senkt, würde dies bei vielen Unternehmen und Bürger:innen in Gänze erst im nächsten oder übernächsten Jahr ankommen.

Der vierte Grund liegt in den Effekten der Geldpolitik auf die Angebotsseite. Kurz- und mittelfristig wirkt sich die Geldpolitik vor allem auf die einheimische Nachfrage aus – also den Konsum und die Investitionen –, langfristig jedoch auch auf die Angebotsseite. Dies zeigt die gegenwärtige Entwicklung in den USA: Trotz eines anhaltenden Wirtschaftsbooms sinkt die Inflation in den USA erheblich, auch weil sich die Produktivität dank robuster Unternehmensinvestitionen sehr positiv entwickelt.

All dies bedeutet für die EZB, dass sie kurzfristig wenig gegen globale Schocks ausrichten kann und die einheimische Nachfrage mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in den kommenden Jahren nicht der Grund für eine zu hohe Teuerungsrate sein wird. Eine zu restriktive Geldpolitik der EZB befeuert jedoch die Gefahr, dass die europäische Wirtschaft weiterhin unter zu geringen Investitionen leidet und europäische Unternehmen einen Nachteil im globalen Wettbewerb haben.

In anderen Worten: Die aktuell restriktive Geldpolitik trägt kaum mehr zum Erreichen des Ziels der Preisstabilität bei, droht die Wirtschaft der Eurozone aber zu schwächen und damit langfristig das Erreichen des Inflationsziels wiederum zu erschweren.

Die EZB sollte entschlossener eine symmetrische Geldpolitik verfolgen. Sie sollte sich nicht bemühen, der US-Notenbank zu folgen, denn Amerikas Wirtschaft ist in einer ganz anderen Situation.

Die EZB sollte entschiedener handeln, als sie es bisher signalisiert. Eine erste Zinssenkung erst im Juni ist zu spät und ein Senken des Leitzinses um 0,75 Prozentpunkte bis Jahresende zu wenig. Das Risiko, dass die EZB mit ihrer Geldpolitik die Wirtschaft nachhaltig schwächt und die Preisentwicklung zu stark dämpft, ist derzeit höher als das Risiko einer dauerhaft zu hohen Inflation.

Themen: Europa , Geldpolitik

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