Kommerzielle Energieerzeugung mit Kernfusion nicht absehbar – Anwendungsforschung entwickelt sich dynamisch

DIW Wochenbericht 13 / 2025, S. 195-201

Alexander Wimmers, Fanny Böse, Alexander Buschner, Claudia Kemfert, Johanna Krauss, Julia Rechlitz, Björn Steigerwald, Christian von Hirschhausen

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  • Erfolge in der Fusionsforschung werden medial oft als Durchbrüche gefeiert
  • Kommerzielle Nutzung zur Energieerzeugung aber trotz Teilerfolgen nach wie vor nicht absehbar
  • Internationales Pilot-Großforschungsprojekt ITER um Jahrzehnte verzögert und mit Fokus auf Grundlagenforschung
  • Privat kofinanzierte Unternehmen bringen mit hohen Investitionen neue Dynamik in die Forschung
  • Fokus bei diesen Unternehmen liegt nicht auf der energetischen Nutzung der Kernfusion, sondern auf der Weiterentwicklung von eher nutzbaren Produkten wie Magneten und Lasern

„Die Nutzung der Kernfusion für die Strom- und Energieversorgung ist wie seit 70 Jahren nach wie vor nicht absehbar. Im Gegensatz zu den traditionellen Pilotprojekten der öffentlichen Großforschungsanlangen, die oftmals verzögert sind, konzentrieren sich neue, privat kofinanzierte Unternehmen auf anwendungsorientierte Forschung.“ Christian von Hirschhausen

Die Kernfusion wurde seit den 1940er Jahren für die militärische Nutzung entwickelt. Die Hoffnungen, diese Technik in wenigen Jahrzehnten für die Energieerzeugung nutzen zu können, haben sich bis heute nicht erfüllt. Trotz einiger medial aufgegriffener Erfolge, wie bei den Experimenten der National Ignition Facility in Kalifornien Ende 2022, sind die wesentlichen Herausforderungen heute nicht kleiner als in der Vergangenheit. Eine Untersuchung von Expert*innenmeinungen zeigt, dass noch kein konkreter Pfad zu einer kommerziellen Nutzung dargelegt werden kann. Repräsentativ für allgegenwärtige Verzögerungen ist das vormalige Vorzeigeprojekt International Thermonuclear Experimental Reactor (ITER): 1985 von den USA und der Sowjetunion initiiert, musste seit den 1990er Jahren der Beginn der Forschungsarbeiten immer weiter verschoben werden. Inzwischen ist die Inbetriebnahme der Fusionsexperimente erst für die späten 2030er Jahre vorgesehen. Gleichzeitig entstehen neue, privat kofinanzierte Unternehmensstrukturen, welche sich auf konkrete Anwendungen fokussieren, wie die Entwicklung von Magnetspulen und Lasertechnik. Die deutsche, europäische und internationale Forschungsförderung muss sich auf die neuen Entwicklungen einstellen und insbesondere die Großforschungseinrichtungen in Bezug auf das Ziel Kernfusion kritisch hinterfragen.

Seit den 1950er Jahren haben sich die Erwartungen, die Kernfusion könne in einigen Jahrzehnten kommerziell zur Energieerzeugung genutzt werden, nicht bewahrheitet.infoShutaro Takeda, Alexander Ryota Keeley und Shunsuke Managi (2023): How Many Years Away Is Fusion Energy? A Review. Journal of Fusion Energy 42 (1), 16. Vielmehr sind bei grundlegenden technischen Herausforderungen bis heute keine Lösungen abzusehen, die einen gewinnbringenden Einsatz in der Energiewirtschaft möglich machen würden. Wie vor 70 Jahren ist auch heute offen, welches Reaktorkonzept langfristig die besten Perspektiven aufweist und eines Tages tatsächlich einsetzbar sein könnte (Kasten). Besonders kritisch stellt sich die Situation bei dem vormaligen Vorzeigeprojekt, dem International Thermonuclear Experimental Reactor (ITER) sowie seinem derzeit noch geplantem Folge- und Demonstrationsprojekt (DEMO), dar. Beide Projekte sind um Jahrzehnte verspätet.

Es gibt verschiedene Arten der Kernfusion. Die am häufigsten Angestrebte ist die der Verschmelzung der Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium zu Helium, bei der große Mengen an Energie sowie ein Neutron freigesetzt werden (Abbildung). Damit die Deuterium- und Tritium-Ionen trotz ihrer gegenseitigen elektrostatischen Abstoßung verschmelzen, muss das Wasserstoffgemisch in einem Plasmazustand vorliegen und eine bestimmte Zeit sehr hohen Temperaturen und ausreichend hohem Druck ausgesetzt werden. Dazu braucht es geeignete physikalische Bedingungen, welche bis heute nur für sehr kurze Zeiten, in vereinzelten Experimenten und ohne energetische Nutzung erreicht worden sind.

Es gibt zwei wesentliche Technologielinien:

  • Beim magnetischen Einschluss wird mit Hilfe von Magnetspulen ein heißes Plasma erzeugt, welches zur Fusion führen kann. Die geläufigsten Reaktorkonzepte mit Magneteinschluss sind der Tokamak und der Stellerator. Während der Tokamak einen gepulsten Strom benötigt, um das Plasma zu erzeugen, ist der Stellerator durch seine spezielle Verwindung der Spulen darauf nicht angewiesen und könnte deshalb im sogenannten Dauerbetrieb laufen.
  • Beim Trägheitseinschluss wird die Trägheit des Plasmas für den Einschluss genutzt und die Dichte des Plasmas maximiert. Bei der trägheitsbasierten Laserfusion wird mit Hilfe von hochenergetischen Lasern auf ein sehr kleines Brennstoffpellet geschossen, in dem es dann zur Fusion kommt.

Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Fusionskonzepte und Technologielinien, die unter anderem auf einer Kombination von Magnet- und Trägheitseinschluss basieren. Jedoch sind die meisten dieser Konzepte technologisch noch weniger ausgereift als die der Magnet- und Laserfusion. Beispielsweise muss ein entzündetes Plasma je nach Technologielinie dauerhaft stabil gehalten werden, um kontinuierliche Fusionsprozesse zu ermöglichen. In Magnetfusionskonzepten sollen Hochleistungsmagneten für lange Einschlusszeiten sorgen, die jedoch externe Heizsysteme erfordern, durch Störungen das Plasma destabilisieren und die Anlage beschädigen können. Bei Trägheitskonzepten wird ein einziges sogenanntes Target gezielt erhitzt, welches äußerst präzise hergestellt werden muss, um eine Zündung zu garantieren. Weiterhin sind unter anderem Fragen der Brennstoffversorgung, vorranging mit Tritium, ungeklärt. Angedachtes Erbrüten von Tritium im laufenden Betrieb ist technisch unerprobt und Tritium lässt sich aufgrund seiner geringen Halbwertszeit nicht auf Vorrat lagern. Bisher gab es keine erfolgreiche technische Demonstration einer Fusionsanlage im Dauerbetrieb; vielmehr liefen bisherige Experimente einmalig oder nur für wenige Minuten.

Andererseits ist in der Forschungslandschaft rund um die Kernfusion seit einigen Jahren eine Dynamik zu beobachten, die sich insbesondere auf Unternehmen mit privater Kofinanzierung und der Beteiligung privater Akteure an öffentlichen Pilotprojekten gründet. So flossen in den vergangenen zehn Jahren zweistellige Milliardenbeträge (US-Dollar) in etwa 80 private kleine und mittelgroße Unternehmen der Branche. Damit wird eine Verschiebung der Akteursstrukturen absehbar, die die Entwicklung der Fusionstechnologie dynamisieren und bestehende Forschungsstrukturen in Frage stellen könnte.

Dieser Wochenbericht nutzt zwei Datensätze, um die aktuellen und längerfristigen Trends in dem Sektor zu analysieren: Mittels einer umfangreichen Literaturrecherche wurden Prognosen von Expert*innen bezüglich der kommerziellen Nutzung der Kernfusion ausgewertet. Zudem wird anhand einer Analyse laufender Entwicklungsprojekte die Dynamik privatwirtschaftlicher Unternehmen dargestellt, die auf Anwendungsforschung und kurzfristige Kommerzialisierung von Nebenprodukten setzt.

Kurzer Rückblick: Kontrollierte Kernfusion als Ziel von Großforschungseinrichtungen …

Während des Kalten Kriegs entstanden in vielen Ländern Großforschungseinrichtungen, die sich sowohl mit der militärischen als auch mit der zivilen Nutzung von Kernfusion beschäftigten. In Deutschland wurden mit dem Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) an den Standorten Garching und (ab 1991) Greifswald sowie den Kernforschungszentren Karlsruhe und Jülich große Dauerforschungseinrichtungen mit einem Schwerpunkt auf Kernfusion geschaffen.

Die Entwicklung teurer Infrastrukturen der Grundlagenforschung war von regelmäßig wiederkehrenden Tech-Hype- Phasen begleitet, in denen Fortschritte öffentlichkeitswirksam gefeiert wurden, auch wenn das Ziel der kommerziellen Nutzung kaum näher rückte.infoVgl. Vaclav Smil (2023): Invention and Innovation: A Brief History of Hype and Failure. Cambridge, sowie Jascha Bareis, Maximilian Roßmann und Frédérique Bordignon (2023): Technology Hype: Dealing with Bold Expectations and Overpromising. TATuP – Zeitschrift Für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis 32 (3), 10–71 (online verfügbar, abgerufen am 2. März 2025. Dies gilt für alle Onlinequellen in diesem Bericht, sofern nicht anders vermerkt). Dies begann auf der ersten Konferenz zur kommerziellen Nutzung der Atomenergie in Genf im Jahr 1955, bei der die kommerzielle Verfügbarkeit von Kernfusion in 20 Jahren ankündigt wurde.infoVgl. Joachim Radkau (1983): Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975: Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse. Hamburg. Zuletzt sorgte im Dezember 2022 das Kernwaffenforschungsinstitut National Ignition Facility (NIF) in Kalifornien für weltweite Aufmerksamkeit, als erstmals mehr Energie durch eine Fusionsreaktion freigesetzt wurde als für ihre Zündung notwendig war. Dieses Ergebnis wurde medial zwar als ein Meilenstein in der Kernfusion aufgenommen, ein kommerzieller Durchbruch ist aber selbst in der Ferne nicht absehbar, weil die Zündung nur für ein einziges Brennstoffpellet mit einer sehr geringen Energieausbeute durchgeführt wurde und die für die Aufbringung der Laserenergie notwendige Primärenergie in der Energiebilanz nicht berücksichtigt wurde.infoDer erzielte Energieüberschuss von 1,1 Megajoule entspricht der Energie, die bei der Verbrennung von circa 32 Gramm Steinkohle freigesetzt wird, vgl. Pressemitteilung des Lawrence Livermore National Lab vom 14. Dezember 2022: A shot for the ages: Fusion ignition breakthrough hailed as ‘one of the most impressive scientific feats of the 21st century’ (online verfügbar). Vgl. auch Reinhard Grünwald (2024): Auf dem Weg zu einem möglichen Kernfusionskraftwerk – Wissenslücken und Forschungsbedarfe aus Sicht der Technikfolgenabschätzung. TA-Kompakt. Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) (online verfügbar).

Auch in Deutschland führte das Experiment in den USA zu einer Dynamisierung der Forschungspolitik. Im Jahr 2024 veröffentlichte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) das Förderprogramm Fusion 2040, in dem der Betrieb eines deutschen Fusionskraftwerks explizit angestrebt wird.infoBundesministerium für Bildung und Forschung (2024). Förderprogramm Fusion 2040 – Forschung auf dem Weg zum Fusionskraftwerk (online verfügbar). Darüber hinaus rief die Bayerische Staatsregierung eine Mission Kernfusion ins Leben und plant die Einrichtung eines eigenen Fusionscampus mit Lehrstühlen, Nachwuchsgruppen und einem eigenen Studiengang.infoStaatsministerium für Wissenschaft (2024): Bayern startet die Mission Kernfusion: Ministerpräsident Dr. Markus Söder und Wissenschaftsminister Markus Blume stellen Masterplan vor (online verfügbar). Auch Hessen legte eine Forschungsstrategie zur Kernfusion auf.infoHessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr, Wohnen und ländlichen Raum (2024): Focused Energy erhält 2,5 Millionen Euro (online verfügbar), sowie die Stellungnahme für den Hessischen Klimarat von Matthias Englert und Anna Kopp (2024): Übersichtsstudie Kernfusion für den Klimabeirat Hessen. Öko-Institut e.V. (online verfügbar).

… aber kommerzielle energetische Nutzung ist nach wie vor nicht konkret absehbar

Unabhängige Analysen waren von Anfang an sehr kritisch bezüglich der möglichen Wettbewerbsfähigkeit von Kernfusionsreaktoren. So kommt das Lehrbuch Atomkraft aus dem Jahr 1960 zu dem Schluss, dass Fusionsreaktoren „wahrscheinlich wesentlich kostspieliger als Spaltungsreaktoren werden“ würden, die ihrerseits weit von der Wettbewerbsfähigkeit entfernt waren.infoVgl. Friedrich Münzinger (1960): Atomkraft: Der Bau ortsfester und beweglicher Atomantriebe und seine technischen und wirtschaftlichen Probleme. Eine kritische Einführung für Ingenieure, Volkswirte und Politiker. New York, 169. Daran hat sich bis heute nichts geändert.infoVgl. Sven Wurbs et al. (2024): Kernfusion als Baustein einer klimaneutralen Energieversorgung? Chancen, Herausforderungen, Zeithorizonte. Impuls. Acatech (online verfügbar), Grünwald (2024), a.a.O. sowie Axel Kleidon und Harald Lesch (2024): Kann Kernenergie zur Energiewende beitragen? Zukünftige Energieversorgung in Deutschland. Physik in unserer Zeit 55 (6), 286–293 (online verfügbar).

Trotz ungelöster technisch-physikalischer Herausforderungen haben Expert*innen in der Kernfusionsforschung über die letzten Jahrzehnte immer wieder einen baldigen Beitrag der Kernfusion zur Energieproduktion erwartet.infoSamuele Meschini et al. (2023): Review of commercial nuclear fusion projects. Frontiers in Energy Research 11, 1157394 (online verfügbar). Diese Entwicklung veranlasst einige Wissenschaftler*innen sogar dazu, von einer sogenannten „Fusionskonstante“ zu sprechen, die besagt, dass die Prognosen bis zur kommerziellen Verfügbarkeit von Fusionskraftwerken unabhängig vom Zeitpunkt der Prognose immer 20 bis 40 Jahre betrage.infoTakeda, Keeley und Managi (2023), a.a.O. Eine umfassende Literaturauswertung zeigt, dass sich die heute prognostizierten Zeiträume bis zur Erreichung kommerzieller Kernfusion gegenüber den letzten Jahrzehnten nicht wesentlich verändert haben (Abbildung 1).infoSiehe Alexander Buschner und Julia Rechlitz (mimeo): Forecasting Nuclear Fusion Availability Using Experts’ Assessment.

Darüber hinaus fällt die starke Streuung der Prognosezeiträume auf. Bei einem Vergleich der Mittelwerte (Mediane) ist zu erkennen, dass die rein technische Umsetzung der Kernfusion (Betrieb eines Demonstrationskraftwerks) im Mittel circa zehn Jahre vor seiner kommerziellen Nutzung erwartet wird. Obwohl man vermuten könnte, dass die prognostizierten Zeiträume mit der fortschreitenden Forschung abnehmen, lässt sich dies durch die erhobenen Daten nicht bestätigen. Die Prognosezeiträume für Demonstrationskraftwerke wie auch für die kommerzielle Verfügbarkeit der Kernfusion werden im Mittel über den Beobachtungszeitraum nicht kleiner. Prognosen, die nach 2000 veröffentlicht wurden, gehen im Mittel weiterhin von einem Zeitraum von etwas mehr als 24 Jahren bis zur Verfügbarkeit eines Demonstrationskraftwerks und von 40 Jahren bis zur kommerziellen Verfügbarkeit der Kernfusion aus.

Vorzeigeprojekt ITER seit 1985 in Dauerkrise

Systematische Verzögerungen und hohe Kostensteigerungen lassen sich anhand des vormaligen Vorzeigeprojekts ITER besonders gut nachvollziehen.infoITER (2024): On the road to ITER (online verfügbar), Elizabeth Gibney (2014): Five-year delay would spell end of ITER. Nature Q&A (online verfügbar), sowie Elizabeth Gibney (2024): ITER delay: what it means for nuclear fusion. Nature 631, 488–489 (online verfügbar).  Das Projekt geht auf eine Kooperation der USA und der Sowjetunion aus dem Jahr 1985 zurück. Mittlerweile gehören dem Großprojekt 33 Länder an. Am Standort Cadarache in Südfrankreich sollte, der Planung von 1993 entsprechend, bereits im Jahr 2005 eine Versuchsanlage und in den 2020er Jahren ein Demonstrationskraftwerk (DEMO) in Betrieb geben. Allerdings hat sich das als Grundlagenforschung angelegte Großprojekt immer wieder verzögert (Abbildung 2). Das Ziel beim bereits erheblich verzögerten Baubeginn im Jahr 2007 war der Beginn der Plasmaexperimente im Jahr 2016, das im Jahr 2010 aber bereits auf 2019 verschoben wurde. Nach weiteren Verschiebungen im Projektplan geht man inzwischen davon aus, dass die erste Deuterium-Tritium-Fusion nicht vor 2039 erfolgen wird. Auch die Kosten des ITER sind erheblich gestiegen.infoMeschini et al. (2023), a.a.O., David Kramer (2023): ITER appears unstoppable despite recent setbacks. Physics Today 78 (8), 18–22 (online verfügbar) sowie ITER (2024): Why have ITER costs risen (online verfügbar). Ausgehend von einer initialen Kostenschätzung von fünf Milliarden Euro wird inzwischen von 20 Milliarden Euro, teilweise sogar von über 40 Milliarden Euro gesprochen.infoITER (2024): Updated baseline presented (online verfügbar), Kramer (2023), a.a.O. sowie Science & Business (2024): ITER fusion project confirms more delays and €5B cost overrun (online verfügbar).

Das ITER-Projekt ist ein reines Forschungsprojekt, bei dem unter anderem die Funktionsfähigkeit der supraleitenden Magnete, das Verhalten des Plasmas sowie das Erbrüten von Tritium untersucht werden sollen. Es ist deshalb nicht dazu geeignet, die technische Umsetzung der kontrollierten Fusion mittels magnetischen Einschlusses zur Stromproduktion zu demonstrieren. Erst das Nachfolgeprojekt DEMO soll eine Demonstrationsanlage darstellen, bei der Kernfusion und Stromproduktion inklusive des erforderlichen Tritiumbrütens im Betrieb gezeigt werden. Frühere Planungen gingen von einer Betriebsphase ab 2020 aus, inzwischen ist dies auf die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts verschoben worden. Vor diesem Hintergrund ist die gesamte Planung des DEMO-Projekts kritisch zu hinterfragen. Auch sind öffentlich finanzierte DEMO-Projekte in China, Japan, Südkorea, Russland, Indien und den USA für die 2040er bis 2050er Jahre geplant, die eine (Re-)Nationalisierung der Fusionsforschung andeuten, sodass die weitere Finanzierung des ITER aufgrund reduzierter Forschungsmittel in Frage gestellt werden könnte.infoBereits 2002 stellte das Büro für Technikfolgenabschätzung am Bundestag eine Neuausrichtung der Kernfusionsforschung in den Raum, bei der die Weiterentwicklung von Tokamakkonzepten aktiv beendet werden könnte. Armin Grunwald et al. (2002): Kernfusion. TAB-Sachstandbericht, Arbeitsbericht Nr. 75 (online verfügbar).

Hohe Dynamik bei öffentlich-privater Finanzierung und Unternehmensentwicklung

Während sich die Fusionsforschung und Anlagenentwicklung in den 1980er und 1990er Jahren in öffentlichen Forschungseinrichtungen konzentrierte, wurden seit den 2000er Jahren einige wenige neue private oder privat-öffentliche Unternehmen (New Ventures) gegründet (Abbildung 3). Weltweit sind derzeit circa 80 New Ventures in der Kernfusion aktiv. Diese New Ventures betreiben privat finanzierte Anwendungsforschung, die auf den Ergebnissen der Grundlagenforschung an Experimentalanlagen großer Forschungsinstitute aufbaut. Unter anderem stehen dabei die Entwicklung leistungsfähiger Magnete und die Optimierung der Effizienz von Lasersystemen im Fokus. Kommerzielle Kernfusionsenergie ist von diesen Unternehmen in den nächsten Jahren nicht zu erwarten; geplant sind ausschließlich Experimentalanlagen.

Laut der FusDIS-Datenbank der Internationalen Atomenergieorganisation sind 50 der insgesamt 169 weltweit gebauten oder geplanten Fusionsanlagen in privater Hand.infoIAEO (2024): Fusion Device Information System (FusDIS) (online verfügbar, zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2024). Die Anlagen der vier deutschen New Ventures Gauss Fusion, Focused Energy, Marvel Fusion und Proxima Fusion werden als geplant gelistet. Die Anlagen von Focused Energy und Marvel Fusion werden allerdings in den USA geplant. Die gelisteten Anlagen können teilweise als Reaktoren bezeichnet werden. Sie sind ausschließlich Experimentalanlagen und deshalb nicht für die kommerzielle Energieerzeugung ausgelegt, zudem ist nicht jedem New Venture eine konkrete Anlage zuzuordnen. Die aufgeführten Anlagen unterscheiden sich nach Betriebsstatus, Finanzierungsstruktur und Anlagenkonzept (Abbildung 4).infoDie FusDis listet abgeschaltete Anlagen nicht auf. Beispielsweise fehlt der Joint European Torus, der Ende 2023 seinen Betrieb einstellte, vgl. Daniel Clery (2024): European fusion reactor goes out with a bang. Science (online verfügbar). Die in Planung befindlichen Anlagen sind überwiegend privat finanziert.

Fazit: Anwendungsorientierte Forschung sollte in den Fokus der Forschungsförderung rücken

Bei der Kernfusion handelt es sich um langfristig angelegte Grundlagenforschung. Die Verbindung militärischer Interessen mit einer breit aufgestellten Grundlagenforschung hat seit den 1940er Jahren zur Entwicklung nationaler und internationaler Großforschungseinrichtungen geführt. Diese Strukturen haben gewisse Erfolge beim Verständnis der wissenschaftlichen Grundlagen der Kernfusion erzielt und militärische Anwendungen ermöglicht, sind jedoch darüber hinaus nicht auf kommerzielle Anwendungen zur Energieerzeugung ausgelegt. Vielmehr laufen die in den 1960er bis 1990er Jahren aufgelegten Forschungsprogramme mit Blick auf die öffentlich propagierte kommerzielle Nutzung inzwischen ins Leere. Symptomatisch hierfür sind die jahrzehntelangen Verzögerungen beim ITER.

Andererseits entwickelt sich in bestimmten Anwendungsbereichen seit ein bis zwei Jahrzehnten eine rasch anwachsende Zahl von kleineren Unternehmen mit substanzieller privater Kofinanzierung. Inzwischen weist rund ein Drittel der Testanlagen eine privatwirtschaftliche Unternehmensstruktur auf, mit steigender Tendenz. Schwerpunkte sind Entwicklungen in der Magnetforschung und der Lasertechnik. Die energetische Nutzung steht bisher nicht im Mittelpunkt dieser Unternehmen und ist angesichts bestehender technischer, institutioneller und ökonomischer Unsicherheiten auch nicht absehbar.

Die öffentliche nationale und internationale Forschungsförderung sollte sich den neuen Rahmenbedingungen anpassen. Statt den Fokus auf ein hypothetisches Fusionskraftwerk zu legen, sollte der Schwerpunkt auf anderen potenziellen Anwendungen liegen. Eine technologieoffene Förderung unterschiedlicher Fusionskonzepte, wie den Magnet- und Trägheits- und anderen Fusionsansätzen, auf allen föderalen Ebenen (Land, Bund, EU, global) ist angesichts knapper Mittel und anderer forschungswürdiger Energiekonzepte nicht sinnvoll.

Claudia Kemfert

Abteilungsleiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt



JEL-Classification: L51;L95;Q48
Keywords: nuclear fusion, economics, R&D
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2025-13-1

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