DIW Wochenbericht 16/17 / 2025, S. 237-244
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„Der Tonfall in den geldpolitischen Stellungnahmen hat eine Vorhersagekraft für die Zinsentscheidung in der nächsten EZB-Ratssitzung, aber nicht für die darauffolgenden. Die EZB-Statements liefern also zusätzliche Informationen, aus denen abgeleitet werden kann, wie es mit den Leitzinsen im nächsten Monat weitergeht.“ Kerstin Bernoth
Zentralbanken nutzen heute die Kommunikation als zentrales Instrument der Geldpolitik: In Pressemitteilungen, Reden und Interviews erläutern sie ihre Entscheidungen, lenken Erwartungen und werben um Vertrauen in ihre Strategie. Dieser Wochenbericht analysiert die Kommunikation der Europäischen Zentralbank (EZB) von Januar 2019 bis März 2025 mithilfe eines speziell trainierten Textanalysemodells basierend auf künstlicher Intelligenz. Dafür werden offizielle Stellungnahmen ausgewertet, um einen Indikator zu berechnen, der den Tonfall der EZB-Kommunikation – restriktiv, expansiv oder neutral – misst. Die Analyse zeigt, dass der Ton der EZB-Kommunikation wertvolle Hinweise auf künftige Leitzinsentscheidungen liefern kann. In den letzten Monaten näherte sich die Kommunikation einem neutralen Niveau – ein Signal dafür, dass die EZB eine vorsichtigere Haltung einnimmt und womöglich das von der Notenbank als derzeit angemessen erachtete Zinsniveau bald erreicht sein dürfte. Ein Zinsprognosemodell, das die Inflation, die Konjunktur und den Ton der EZB-Kommunikation berücksichtigt, sagt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine weitere Zinssenkung im April 2025 voraus. Dies ist jedoch mit einer gewissen Unsicherheit verbunden, da in den letzten Wochen wichtige Ereignisse eintraten, die das Modell noch nicht erfasst hat. Die derzeitig hohe wirtschaftspolitische Unsicherheit und die anvisierten kräftigen staatlichen Investitionen mit potenziell inflationärer Wirkung sprechen für ein behutsames Vorgehen.
Die Inflation im Euroraum ist seit ihrem Höchststand von rund elf Prozent Ende 2022 stetig zurückgegangen und liegt aktuell bei 2,2 Prozent. Als Reaktion darauf hat die Europäische Zentralbank (EZB) seit Juni 2024 ihre Leitzinsen sechsmal gesenkt. Derzeit liegt der Einlagensatz der EZB, der als Referenzzinssatz für die Marktzinsen dient, bei 2,5 Prozent.Der Einlagensatz stellt den Zinssatz dar, den Geschäftsbanken für ihre Einlagen bei der EZB erhalten.
Doch wie wird sich die Geldpolitik in den kommenden Monaten entwickeln?Dieser Wochenbericht basiert auf einer Studie, die die Autorin auf Ersuchen des Ausschusses für Economics and Monetary Affairs (ECON) des Europäischen Parlaments im Vorfeld des monetären Dialogs mit der EZB-Präsidentin am 20. März 2025 erstellt hat. Kerstin Bernoth (2025): ECB Communication and Policy Responses: Being Effective in an Era of Disinflation and Economic Policy Uncertainty. Publication for the committee on Economic and Monetary Affairs, Economic Governance and EMU Scrutiny Unit, European Parliament, Luxemburg (online verfügbar, abgerufen am 18. März 2025. Dies gilt auch für alle anderen Onlinequellen, sofern nicht anders vermerkt.) Um diese Frage zu beantworten, richten Marktteilnehmer*innen und Expert*innen ihren Blick nicht nur auf die aktuelle Wirtschaftslage und Inflation, sondern auch auf die Wortwahl führender Vertreter*innen der EZB sowie der nationalen Zentralbanken im Euroraum. Denn die Kommunikation der Zentralbanken hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht nur durch die Einführung von Forward Guidance, also der Mitteilung ihrer künftigen geldpolitischen Absichten, erheblich an Bedeutung gewonnen. Sie gilt heute als zentrales Instrument der Geldpolitik: In Reden, Interviews oder Pressemitteilungen erklären Zentralbanken ihr Handeln, steuern Erwartungen und schaffen Vertrauen in ihre geldpolitische Strategie.
Besondere Aufmerksamkeit gilt den offiziellen geldpolitischen Stellungnahmen, die alle sechs Wochen im Anschluss an die EZB-Ratssitzungen veröffentlicht werden. Finanzmärkte und Analyst*innen analysieren diese Mitteilungen sorgfältig und achten auf feinste Formulierungen, die Rückschlüsse auf den künftigen geldpolitischen Kurs zulassen.
Diese Stellungnahmen sind klar strukturiert und folgen einem wiederkehrenden Aufbau: Zunächst werden die aktuellen geldpolitischen Entscheidungen bekannt gegeben, etwa Änderungen der Leitzinsen. Es folgt eine Einschätzung der wirtschaftlichen Lage im Euroraum, eine Analyse der Inflationsentwicklung und eine Bewertung der konjunkturellen Risiken. Abschließend beschreibt die EZB die aktuellen finanziellen und monetären Rahmenbedingungen und gibt einen Ausblick auf mögliche zukünftige wirtschaftliche Entwicklungen sowie denkbare geldpolitische Anpassungen.
Mit modernen Textanalysemethoden, die auf künstlicher Intelligenz basieren, kann man heute sehr präzise den Ton in der EZB-Kommunikation untersuchen und Signale zur geldpolitischen Ausrichtung herausfiltern. Ging dies früher nur mühsam per Hand, sind vortrainierte Algorithmen weniger fehleranfällig und können auch wesentlich größere Textmengen analysieren.
In diesem Wochenbericht werden die offiziellen geldpolitischen Stellungnahmen der EZB, die die geldpolitische Entscheidungen zwischen Januar 2019 und März 2025 begleiten, systematisch ausgewertet.Untersucht wurden die sogenannten Monetary Policy Statements ohne den Frage-und-Antwort-Teil (Q&A-Session) (online verfügbar). Jeder einzelne Satz wird mithilfe eines auf die EZB-Kommunikation trainierten Sprachmodells beurteilt, ob er ein Signal für eine straffere oder eine lockerere Geldpolitik aussendet. Aus diesen Einzelbewertungen wird der sogenannte EZB-Kommunikationskursindikator (englisch: ECB Communication Stance Indicator) berechnet. Er zeigt, wie restriktiv, expansiv oder neutral der Ton zu einem bestimmten Zeitpunkt insgesamt war und gegenwärtig ist.
Mithilfe eines statistischen Prognosemodells wird zudem untersucht, ob der ermittelte Tonfall in der EZB-Kommunikation zusätzliche Informationen enthält, die die Vorhersage zukünftiger Zinsentscheidungen des EZB-Rats verbessern können. Abschließend wird auf Basis des Prognosemodells und der aktuellen makroökonomischen Rahmenbedingungen eine Einschätzung der geldpolitischen Ausrichtung der EZB in den kommenden Monaten vorgenommen.
Die Analyse der geldpolitischen Ausrichtung in der EZB-Kommunikation basiert auf einem Textstimmungsmodell.Agam Shah, Suvan Paturi und Sudheer Chava (2023): Trillion dollar words: A new financial dataset, task & market analysis. Proceedings of the 61st Annual Meeting of the Association for Computational Linguistics 1: Long Papers, 6664–6679. Dieses große Sprachmodell ist speziell auf die Auswertung von Zentralbankkommunikation abgestimmt (Kasten 1). Das Modell klassifiziert einzelne Sätze als „hawkish“ (falkenhaft/restriktiv), „dovish“ (taubenhaft/expansiv) oder neutral – je nachdem, welches geldpolitische Signal sie aussenden.
Transformerbasierte große Sprachmodelle lesen komplette Sätze auf einmal und betrachten jedes Wort im Zusammenhang mit allen anderen – so erkennen sie Bedeutungen und Zusammenhänge viel besser als ältere Methoden, die Wörter einzeln verarbeiten. RoBERTa ist ein solches Modell, das auf enorm großen Textmengen vortrainiert wurde. Dabei blendet es zufällig Wörter aus („dynamische Maskierung“) und lernt so, fehlende Begriffe korrekt zu ergänzen, ohne sich auf Wort-für-Wort-Vorhersagen zu verlassen.Yinhan Liu et al. (2019): RoBERTa: A Robustly Optimzed BERT Pretraining Approach. arXiv:1907.11692 (online verfügbar). Diese Eigenschaften ermöglichen RoBERTa ein besonders genaues Verständnis von Sprache und machen es ideal, um selbst feine Tonunterschiede in der Kommunikation der EZB zu erfassen.
Ein ursprünglich auf die US-Notenbank trainiertes Modell wurde mithilfe eines umfangreichen Korpus von EZB-Kommunikation gezielt nachtrainiert.Shah, Paturi und Chava (2023), a.a.O. Dabei wurden ausschließlich geldpolitisch relevante Texte aus dem EZB-Umfeld verwendet, um dem Modell beizubringen, wie sich geldpolitische Signale im spezifischen Sprachgebrauch der EZB ausdrücken.
Zur Erstellung dieses EZB-Trainingsdatensatzes wurden alle geldpolitisch relevanten Reden von Mitgliedern des EZB-Direktoriums sowie der Präsident*innen und Vorstandsmitglieder der zwanzig nationalen Zentralbanken herangezogen. Außerdem wurden sämtliche offiziellen Stellungsnahmen der EZB zu geldpolitischen Entscheidungen im Zeitraum von 1999 bis 2022 analysiert.
Um Störgeräusche in den Trainingsdaten zu vermeiden und sicherzustellen, dass nur geldpolitisch relevante Inhalte analysiert werden, wurde der Textkorpus zunächst inhaltlich gefiltert. Reden wurden nur dann in die Analyse einbezogen, wenn bereits der Titel eines der folgenden Schlüsselwörter enthielt: Inflationserwartungen, Leitzins, Einlagensatz, Refinanzierungssatz, quantitative Lockerung/Straffung, Preise, Wirtschaftstätigkeit, Inflation/Deflation, Beschäftigung, BIP, Finanzstabilität, Arbeitslosigkeit, Wachstum, Wechselkurs, Produktivität, Defizit, Nachfrage oder Geldpolitik.Dieser Katalog an Wörtern basiert auf Yuriy Gorodnichenko et al. (2023): The Voice of Monetary Policy. American Economic Review 113(2), 548–584. Er wurde mit EZB-spezifischen Begriffen ergänzt.
Nach Anwendung dieser Filterkriterien umfasst der Trainingsdatensatz noch 1470 Reden und öffentliche Stellungnahmen, die insgesamt rund 54000 Sätze enthalten. Im nächsten Schritt wurden nur jene Sätze beibehalten, die vom ursprünglich auf die US-Notenbank trainierten Sprachmodell mit einer mindestens 90-prozentigen Klassifikationssicherheit einem der drei Kategorien (falkenhaft, taubenhaft oder neutral) zugeordnet werden konnten.
Bemerkenswert ist, dass dabei weniger als neun Prozent der EZB-Mitteilungen aus dem Datensatz ausgeschlossen werden mussten. Das deutet auf eine hohe Ähnlichkeit im Kommunikationsstil zwischen der US-Notenbank und der EZB hin – zumindest im Hinblick auf geldpolitische Kernaussagen.
Die verbliebenen rund 49000 Sätze dienten anschließend dazu, das Modell gezielt weiter zu trainieren und zu verfeinern. Ziel dieses Schritts ist es, die für die EZB typischen sprachlichen Nuancen besser zu erfassen und das Modell optimal auf den europäischen Kontext abzustimmen.
Ursprünglich wurde das Modell auf den Sprachgebrauch der US-Notenbank (Federal Reserve) trainiert. Da davon auszugehen ist, dass sich die Sprechweise der EZB von dem der US-Notenbank unterscheidet, wurde es für diese Analyse weiterentwickelt und gezielt an die Besonderheiten der EZB-Kommunikation angepasst.
Das neue Textstimmungsmodell analysiert die geldpolitischen Signale in den offiziellen Mitteilungen zu den EZB-Ratssitzungen im Zeitraum von Januar 2019 bis März 2025. Dabei wird jeder einzelne Satz dieser Mitteilungen danach bewertet, ob er auf eine restriktivere Geldpolitik, eine expansivere Geldpolitik oder eine neutrale Haltung hinweist (Tabelle 1). Aus diesen Bewertungen wird ein Gesamtwert pro Sitzung berechnet – der EZB-Kommunikationskursindikator. Dieser ergibt sich aus folgender Formel:
Auswahl an Sätzen | Tonfall |
---|---|
In particular, the decision to lower the deposit facility rate – the rate through which we steer the monetary policy stance – is based on our updated assessment of the inflation outlook, the dynamics of underlying inflation and the strength of monetary policy transmission. | Expansiv |
The upward revision in headline inflation for 2025 reflects stronger energy price dynamics. | Restriktiv |
For inflation excluding energy and food, staff project an average of 2.2 per cent in 2025, 2.0 per cent in 2026 and 1.9 per cent in 2027. | Neutral |
Domestic inflation remains high, mostly because wages and prices in certain sectors are still adjusting to the past inflation surge with a substantial delay. | Restriktiv |
The economy faces continued challenges and staff have again marked down their growth projections – to 0.9 per cent for 2025, 1.2 per cent for 2026 and 1.3 per cent for 2027. | Expansiv |
The assumption of higher energy price inflation led staff to revise up the headline inflation projection for 2025. | Restriktiv |
Especially in current conditions of rising uncertainty, we will follow a data-dependent and meeting-by-meeting approach to determining the appropriate monetary policy stance. | Neutral |
We are not pre-committing to a particular rate path. | Neutral |
The risks to economic growth remain tilted to the downside. | Expansiv |
Anmerkungen: Die Sätze wurden aus der EZB-Stellungnahme im März 2025 ausgewählt.
Quelle: EZB.
Ein positiver Indikatorwert deutet auf einen insgesamt restriktiven Ton in der EZB-Kommunikation hin. Ein negativer Wert zeigt hingegen, dass expansive Aussagen überwiegen.
Der Ton in den geldpolitischen Erklärungen der EZB hat sich über die Zeit deutlich verändert (Abbildung 1). Im Jahr 2019 war die Kommunikation zunächst leicht taubenhaft, also auf eine eher expansive Geldpolitik ausgerichtet. Mit dem Ausbruch der Coronapandemie Anfang 2020 wurde dieser Ton nochmals verstärkt. Diese Entwicklung fiel zusammen mit einer Inflationsrate, die sich in Richtung Null bewegte und zeitweise sogar negativ war. Gleichzeitig dazu sank der EU-Industrievertrauensindikator (EU Industrial Confidence Indicator, ICI) stark. Der ICI misst, wie Industrieunternehmen ihre aktuelle Geschäftslage und ihre Erwartungen für die Zukunft einschätzen und gilt als Frühindikator für die wirtschaftliche Entwicklung im Euroraum.
Ab Ende 2020 stieg die Inflation im Euroraum kontinuierlich. Gleichzeitig verbesserte sich die konjunkturelle Lage merklich – unter anderem erkennbar am wachsenden Vertrauen in der Industrie. Trotzdem blieb der Ton in den geldpolitischen Stellungnahmen zunächst weiter taubenhaft. Die Tonlage hielt sich bis Ende 2021, obwohl die Inflation zu diesem Zeitpunkt das Ziel von zwei Prozent bereits deutlich überschritt. Hier zeigt sich ein gewisser Einklang zwischen Worten und Taten – oder genauer: dem Ausbleiben von Taten. Denn der EZB wurde vielfach vorgeworfen, zu spät auf den Inflationsanstieg reagiert und nicht rechtzeitig eine geldpolitische Straffung eingeleitet zu haben.Bernoth (2025), a.a.O.
Erst Ende 2021 drehte der EZB-Kommunikationskursindikator ins Positive und damit in den restriktiven Bereich. Seinen Höchststand erreichte er in der zweiten Jahreshälfte 2022, zeitgleich mit dem Beginn einer Serie von Leitzinserhöhungen. Seither ist der Indikator zwar weiterhin positiv, jedoch zeigt sich ein rückläufiger Trend. Seit Mitte 2024 nähert sich der Ton in der EZB-Kommunikation zunehmend einem neutralen Niveau an. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass das von der Notenbank als derzeit angemessen erachtete Zinsniveau bald erreicht sein dürfte.
Im nächsten Schritt wird untersucht, ob der Tonfall in den geldpolitischen Stellungnahmen der EZB mit der Wahrscheinlichkeit von Leitzinsänderungen in Verbindung steht. Da die EZB ihre Zinssätze in der Regel nicht kontinuierlich, sondern in diskreten Schritten anpasst, kommt ein multinominales geordnetes Probit-Modell zum Einsatz (Kasten 2). Dieses Verfahren modelliert die Wahrscheinlichkeit verschiedener Zinsentscheidungen – also Erhöhung, Senkung oder Beibehaltung des Zinssatzes. Die Auswahl der erklärenden Variablen orientiert sich an der bewährten Taylor-Regel, nach der sich geldpolitische Entscheidungen vor allem an Inflation und Konjunktur orientieren. Darüber hinaus werden zwei weitere Einflussfaktoren berücksichtigt, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben: wirtschaftspolitische Unsicherheit sowie geopolitische Risiken.Die wirtschaftspolitische Unsicherheit wird mit dem European-Economic-Policy-Uncertainty-Index gemessen. Für diesen wird die Häufigkeit von Schlüsselbegriffen zum Thema fiskalischer, geldpolitischer oder handelspolitischer Unsicherheit in Zeitungsartikeln gezählt. So lässt sich prüfen, ob auch diese Größen die EZB-Zinsentscheidungen beeinflussen. Auch die vorherige Zinsentscheidung fließt in das Modell ein, da die EZB ihren Kurs häufig schrittweise anpasst.
Das multinominale Probit-Modell ist ein statistisches Verfahren zur Analyse diskreter, kategorischer Variablen anhand verschiedener erklärender Faktoren. In diesem Wochenbericht wird untersucht, ob der Leitzins gesenkt wird (–1), angehoben wird (+1) oder unverändert (0) bleibt – es zählt also nur die Richtung der Änderung, nicht deren Größe.
Das Modell nimmt an, dass der beobachteten kategorialen Leitzinsänderung eine latente, kontinuierliche Variable zugrunde liegt, die die gewünschte Leitzinsänderung widerspiegelt. Diese latente Variable (Δit*) wird demnach als eine lineare Funktion des EZB-Kommunikationskursindikators (KI), weiterer erklärender Faktoren wie Inflation, EU-Industrievertrauen, wirtschaftspolitische Unsicherheit, geopolitisches Risiko und die verzögerte Zinsänderung – zusammengefasst als Xt – sowie eines normalverteilten Fehlerterms modelliert:
,
Der Leitzins wird gesenkt, wenn Δit* kleiner als ein unterer Schwellenwert (τ1) ist, und erhöht, wenn er größer als ein oberer Schwellenwert (τ2) ist. Liegt Δit* zwischen τ1 und τ2, bleibt der Leitzins unverändert. Die Wahrscheinlichkeiten der drei möglichen Zinsentscheidungen lauten:
wobei Φ die kumulative Standardnormalverteilung bezeichnet. Die Schwellenwerte τ1 und τ2 sowie die Parameter β und γ werden per Maximum-Likelihood-Schätzung ermittelt.
In der Ein-Schritt-Vorhersage wird die Schätzung wiederholt, indem die erklärenden Variablen um eine Zeitperiode in die Vergangenheit verschoben werden. So ergeben sich letztendlich die prognostizierten Wahrscheinlichkeiten für die drei möglichen Zinsentscheidungen, indem die zuletzt beobachteten Faktoren mit diesen geschätzten Modellparametern multipliziert werden.
Auch diese Analyse erstreckt sich über den Zeitraum von Januar 2019 bis März 2025. Zunächst wird untersucht, inwiefern aktuelle Zinsentscheidungen durch Inflation, Wirtschaftslage und den Ton in der EZB-Kommunikation erklärt werden können (Tabelle 2, erste Spalte).Die Modelle werden unter Verwendung aller möglichen Kombinationen der erklärenden Variablen geschätzt und die Modellpassungen auf der Grundlage des Akaike-Informationskriteriums (AIC) verglichen und das Modell mit dem besten Fit ausgewählt.
Effekt einer Veränderung um eine Standardabweichung auf die latente Zinsänderungsentscheidung
Probit-Modell | Ein-Schritt-Vorhersage | ||||
---|---|---|---|---|---|
mit EZB-Kommunikationskursindikator | ohne EZB-Kommunikationskursindikator | ohne Inflation | ohne EZB-Kommunikationskursindikator | mit EZB-Kommunikationskursindikator und Inflation | |
EZB-Kommunikationskursindikator | –0,30 | –0,02 | –1,62** | ||
Inflation | 1,75** | 1,94 | 2,73** | 4,60** | |
Industrievertrauensindikator | –0,8* | –0,78* | 0,46 | –0,58 | –0,89 |
Index für wirtschaftspolitische Unsicherheit | –1,33** | –1,25** | 0,24 | –1,26* | –1,58* |
Index für geopolitisches Risiko | –0,12 | –0,87 | –0,71 | ||
Vorherige Zinsänderung | 1,74** | 1,81** | 2,42** | 2,02** | 3,01** |
Anmerkungen: * bzw. ** kennzeichnen die statistische Signifikanz auf dem Zehn- und Fünf-Prozent-Niveau. Das multinominale geordnete Probit-Modell modelliert die Wahrscheinlichkeit verschiedener Zinsentscheidungen – also Erhöhung, Senkung oder Beibehaltung des Zinssatzes. In der Ein-Schritt-Vorhersage wird der Zusammenhang zwischen den beobachtbaren Faktoren und der Zinsentscheidung in der jeweils folgenden Periode geschätzt. Während also im Probit-Modell die bisherigen Zinsänderungen anhand der Kommunikation analysiert werden, wird in der Ein-Schritt-Vorhersage die künftige Änderung modelliert. Der betrachtete Zeitraum ist Januar 2019 bis März 2025. Ein positiver Wert, etwa von 1,75 im Probitmodell, bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit einer Zinsänderung – von Zinssenkung zu unverändertem Zins oder von unverändertem Zins zu Zinsanhebung – steigt, wenn die Inflation steigt. Ein negativer Wert, etwa von –1,33 im Probit-Modell bei der wirtschaftspolitischen Unsicherheit, heißt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Zinsänderung – von Zinsanhebung zu unverändertem Zins oder von unverändertem Zins zu Zinssenkung – steigt.
Quelle: Eigene Berechnungen, Macrobond.
Die Schätzungen bestätigen einen intuitiven Zusammenhang: Eine höhere Inflation erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der EZB-Rat eine Zinserhöhung beschließt. Zudem steigt die Wahrscheinlichkeit eines Zinsanstiegs, wenn bereits in der vorherigen Sitzung eine Zinserhöhung vorgenommen wurde. Dies spiegelt die Präferenz der EZB wider, Leitzinsen in kleinen Schritten anzupassen.
Je höher dagegen die wirtschaftspolitische Unsicherheit ist – etwa im Hinblick auf zukünftige fiskalpolitische Maßnahmen oder regulatorische Rahmenbedingungen –, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer Zinserhöhung. Eine plausible Erklärung ist, dass politische Unsicherheit Investitionen dämpft und damit das Wirtschaftswachstum, was den Inflationsdruck abschwächt. Geopolitische Risiken zeigen hingegen keinen statistischen Einfluss auf die EZB-Zinsentscheidung. Der Tonfall in den geldpolitischen Stellungnahmen bietet keine zusätzliche Erklärung für aktuelle Zinsentscheidungen, was die Haltung der EZB bestätigt, Entscheidungen primär auf makroökonomische Daten zu stützen.
Die Analyse zeigt, dass der Tonfall in den EZB-Stellungsnahmen jedochHinweise auf bevorstehende Zinsentscheidungen liefert. Ein sogenannter Granger-Kausalitätstest belegt, dass der EZB-Kommunikationskursindikator Vorhersagekraft für die Zinsentscheidung bei der nächsten EZB-Ratssitzung hat.Der Granger-Kausalitätstest ist ein statistisches Verfahren, mit dem sich prüfen lässt, ob zwischen zwei Variablen ein Zusammenhang besteht, bei dem eine die andere beeinflusst. Ein One-Step-Ahead-Prognosemodell (Tabelle 2, dritte bis vierte Spalte) bestätigt einen positiven Zusammenhang zwischen aktueller Inflationsrate und der Wahrscheinlichkeit einer Zinserhöhung bei der anstehenden EZB-Ratssitzung. Ebenso steigt die Wahrscheinlichkeit für einen weiteren Zinsschritt, wenn bereits in der aktuellen Sitzung eine Erhöhung beschlossen wurde. Umgekehrt verringert sich die Wahrscheinlichkeit einer anstehenden Zinserhöhung, wenn die wirtschaftspolitische Unsicherheit zunimmt.
Ohne Berücksichtigung der Inflationsentwicklung hat der EZB-Kommunikationskursindikator keine signifikante Vorhersagekraft für zukünftige Leitzinsanpassungen (Tabelle 2, Spalte 4). Wird jedoch diese in das Modell aufgenommen, zeigt sich, dass eine restriktivere Kommunikation – entgegen theoretischen Erwartungen – mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Zinssenkungen verbunden ist. Dies dürfte auf Multikollinearität zurückzuführen sein: Der Kommunikationsindikator korreliert stark mit der Inflationsrate. Daher kann das Modell die Effekte beider Variablen kaum zuverlässig voneinander trennen.
Trotz dieses Effekts verbessert der Tonfall der EZB-Kommunikation die Prognosekraft für zukünftige Zinsentscheidungen. So steigt die Prognosegenauigkeit für Zinsänderungen bei der jeweils nächsten EZB-Ratssitzung von rund 70 Prozent auf 80 Prozent.Gemessen an der mittleren Wiedererkennungsrate. Das Modell sagt elf der letzten 14 Zinsentscheidungen korrekt vorher, ohne den Kommunikationsindikator nur zehn (Abbildung 2).
Insgesamt zeigt sich also, dass es durchaus sinnvoll ist, den Tonfall in den geldpolitischen Stellungnahmen der EZB genau zu beobachten. Er stellt eine wertvolle zusätzliche Informationsquelle dar, die die Fähigkeit zur Vorhersage geldpolitischer Entscheidungen verbessert.
Was verrät das Prognosemodell über die künftige Zinsentwicklung im Euroraum? Das Modell sieht eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine weitere Zinssenkung bei der anstehenden EZB-Ratssitzung am 17. April. Dies entspricht auch den Erwartungen der Finanzmärkte. Angesichts der sinkenden Inflation, des stagnierenden Wirtschaftswachstums und des Pessimismus in der Industrie scheint eine weitere geldpolitische Lockerung in den kommenden Monaten gerechtfertigt zu sein.
Diese Prognose ist jedoch mit einer gewissen Unsicherheit behaftet: In den letzten Wochen haben für die Geldpolitik bedeutsame wirtschaftliche und politische Ereignisse stattgefunden, die von dem Prognosemodell noch nicht berücksichtigt werden konnten, da diese sich noch nicht in den vom Modell verwendeten Daten widerspiegeln. Langfristige Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit im Euroraum erfordern umfassende Investitionen, insbesondere in die militärische Verteidigungsfähigkeit und in die vielfach vernachlässigte Infrastruktur. Mehrere Staaten, darunter auch Deutschland, haben sich jüngst auf eine zügige Umsetzung entsprechender Maßnahmen verständigt, die sie vor allem durch höhere Staatsverschuldung finanzieren wollen. Die Auswirkungen dieser Investitionen auf die Inflation in den kommenden Jahren sind gegenwärtig schwer einzuschätzen, dürften jedoch eher preistreibend wirken. Darüber hinaus hat US-Präsident Donald Trump angekündigt, Einfuhrzölle auf wichtige Industriegüter zu erheben – eine Maßnahme, die den Welthandel, die europäische Industrie und damit auch die Preisentwicklung im Euroraum stark beeinflussen könnte, sollten diese alle auch tatsächlich umgesetzt werden. Diese könnten dafür sorgen, dass der im Februar/März noch sicher erwartete Zinsschritt vielleicht doch erst ausgesetzt wird.
Der Ton der EZB in ihren jüngsten Pressemitteilungen bewegt sich nun auf einem vergleichsweise neutralen Niveau. Dies deutet darauf hin, dass die EZB ihren zukünftigen Kurs nun behutsamer verfolgen wird als noch vor einigen Monaten. Ein wesentlicher Grund hierfür dürfte sein, dass sich die geldpolitische Ausrichtung der EZB allmählich ihrem neutralen Niveau nähert. Hinzu kommt aber auch die derzeit hohe politische und wirtschaftliche Unsicherheit, die verlässliche makroökonomische Prognosen erheblich erschwert. Daher ist es geboten, dass die EZB ihre Politik der schrittweisen geldpolitischen Lockerung mit Bedacht fortführt. Eine Pause könnte nötig sein, um die Auswirkungen globaler wirtschaftspolitischer Entwicklungen – innerhalb wie außerhalb der EU – sorgfältig zu bewerten.
Themen: Geldpolitik, Finanzmärkte, Europa, Digitalisierung
JEL-Classification: E43;E47;E52;E58
Keywords: Monetary Policy, Central Bank Communication, Interest Rates, Multinominal Probit Model
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2025-16-1