Blog Marcel Fratzscher vom 10. Juni 2025
Zurückweisungen an den Grenzen schwächen Europa und höhlen die Demokratie aus. Obendrein verursacht diese Politik erheblichen wirtschaftlichen Schaden für Deutschland.
Bundeskanzler Friedrich Merz und sein Innenminister Alexander Dobrindt haben angekündigt, an der Zurückweisung von Asylsuchenden an Grenzen prinzipiell festhalten zu wollen, obwohl ein Berliner Gericht diese Praxis kürzlich untersagt hat. Das ist aus mehreren Gründen ein schwerer Fehler.
Der Wunsch nach einer besseren Steuerung der Zuwanderung ist legitim und verständlich. Aber mit dem angekündigten Vorgehen höhlen ausgerechnet Regierungsverantwortliche unsere Demokratie aus, vertiefen die politische Spaltung und verstärken den Zulauf zur AfD. Zudem schwächen sie mit ihrem nationalen Alleingang Europa – in Zeiten, in denen ein starkes Europa wichtiger denn je ist. Und sie richten erheblichen wirtschaftlichen Schaden an.
Vieles deutet darauf hin, dass Merz und Dobrindt sich in der Migrationspolitik ein Beispiel an Donald Trump nehmen. Seit Jahren bedienen sie sich einer populistischen Rhetorik, in der Geflüchtete die deutschen Sozialsysteme missbrauchen, sich nicht integrieren wollen und unfaire Vorteile gegenüber Deutschen haben. Zitat Merz: "Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine." Nun, da sie an den Schalthebeln der Macht sitzen, versuchen sie, selbst im Grundgesetz verankerte Rechte zu umgehen. Was kommt als Nächstes? Wie weit sind sie gewillt, Trumps Kurs zu folgen?
Diese Kolumne von Marcel Fratzscher erschien am 6. Juni 2025 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Die Migrationspolitik der Union, die scheinbar auch vom Koalitionspartner SPD getragen wird, richtet aus drei Gründen erheblichen Schaden für Deutschland und Europa an.
Auch wenn es im Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts nur um einen Einzelfall ging, rüttelt die Ankündigung, trotz des Urteils generell an Zurückweisungen festhalten zu wollen, erstens an demokratischen Grundfesten. Das Recht auf Asyl ist fest und unmissverständlich im Grundgesetz verankert. Anstatt Brücken zu bauen und einen breiten Konsens zu finden, vertieft dieses Vorgehen die politische Spaltung in unserem Land. Merz und Dobrindt scheinen die Lehren der vergangenen zehn Jahre nicht verstanden zu haben: Die AfD ist die einzige Gewinnerin dieser Politik. Verlierer sind unsere Demokratie, der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.
Zweitens schwächt der Kurs der deutschen Migrationspolitik Europa empfindlich. Das Gericht hat angemahnt, dass die Bundesregierung sich an europäisches Recht halten muss und keinen nationalen Alleingang gehen darf. Zurückweisungen an der Grenze fallen auf unsere Nachbarländer zurück und stärken auch dort die extrem rechten politischen Ränder. Wir sehen gerade in Polen, wohin das führen kann – und wozu die deutsche Politik einen Beitrag leistet.
Mit dieser Schwächung Europas schadet Deutschland vor allem sich selbst. Denn im Konflikt mit den USA und China ist Deutschland durch seine Größe und Offenheit sehr viel verletzlicher als andere und stärker auf ein geeintes, starkes Europa angewiesen.
Drittens richtet die Migrationspolitik der Bundesregierung erheblichen wirtschaftlichen Schaden an. Sie wird unweigerlich dazu führen, dass qualifizierte Fachkräfte in den kommenden zehn Jahren einen Bogen um Deutschland machen werden. Denn Ingenieurinnen aus Indien, Pfleger aus den Philippinen oder IT-Programmiererinnen aus Brasilien haben Alternativen: Sie meiden seit langem Deutschland, da sie sehr wohl die politischen Signale des Nicht-Willkommenseins wahrnehmen. Menschen, die wegen Krieg, Verfolgung oder Armut nach Deutschland kommen, haben dagegen meist keine andere Wahl. Die Konsequenz für Deutschland ist: weiterhin ungesteuerte Zuwanderung, wegen Krieg, Verfolgung und Armut – aber kaum gesteuerte Zuwanderung, die wir für unseren Arbeitsmarkt dringend benötigen.
Viele Bereiche der Daseinsfürsorge wie Pflege und Gesundheit werden darunter leiden – und damit alle Bürger*innen. Viele kleine und mittelständische Unternehmen sind durch fehlende Fachkräfte in ihrer Existenz bedroht, was auch viele gute Arbeitsplätze für Deutsche gefährdet. Eine starke und anhaltende Zuwanderung von Fachkräften ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.
Wir brauchen daher dringend einen Kurswechsel in der Migrationspolitik – mit drei zentralen Elementen: Erstens müssen Kanzler Merz und seine Bundesregierung schnell und glaubwürdig kommunizieren, dass sie sich an Recht und Gesetz halten werden. Und dass sie Deutschlands Verantwortung in Europa – auch in der Migrationspolitik – in Zukunft besser gerecht werden. Dies erfordert ein Ende nationaler Alleingänge und die Stärkung europäischer Institutionen und Regeln, um die Zuwanderung besser und fairer steuern zu können.
Zweitens müssen die demokratischen Parteien die Migrationsdebatte wieder mit mehr Ehrlichkeit und ohne den unsäglichen Populismus der vergangenen Jahre führen. Dazu muss man sich eingestehen, dass die Zuwanderung zwar eine große Herausforderung, aber für keines unserer großen Probleme verantwortlich ist. Demokratische Politiker sollten nicht ausschließlich über die Probleme und Gefahren, sondern viel stärker über die Erfolge und Chancen der Zuwanderung sprechen. Und sie sollten den Menschen ehrlich vermitteln, dass unser wirtschaftlicher Wohlstand und die Zukunft vieler Unternehmen und Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, wenn wir nicht eine offene Gesellschaft bleiben und unsere Willkommenskultur verbessern.
Drittens benötigen wir eine Verlagerung der Migrationspolitik – weg von dem Fokus, wie Menschen aus Deutschland ferngehalten werden können, hin zu der Frage, wie die 3,2 Millionen Schutzsuchenden, die bereits in Deutschland sind, besser in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integriert werden können. Denn die meisten dieser Menschen werden auch langfristig in Deutschland bleiben – und es ist im Interesse aller, dass sie gute Chancen und alle Unterstützung erhalten, um sich möglichst gut zu integrieren. Das erfordert den Abbau der vielen Hürden, die den Geflüchteten in den Weg gelegt werden – von viel zu langsamen Verfahren bei der Anerkennung von Qualifikationen und Sprachkenntnissen bis hin zum Zugang zu Wohnraum und anderen Leistungen, die für eine erfolgreiche Integration notwendig sind.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Migration