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Die Angst vor Stigmatisierung hindert Menschen daran, Transferleistungen in Anspruch zu nehmen

DIW Wochenbericht 26 / 2019, S. 455-461

Jana Friedrichsen, Renke Schmacker

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  • Angst vor Stigmatisierung ist eine mögliche Ursache für die niedrige Inanspruchnahme von Sozialleistungen
  • Diese Hypothese wird mittels eines kontrollierten Laborexperiments untersucht; dies lässt eine isolierte Betrachtung des Stigma-Effekts zu
  • Wenn die Inanspruchnahme öffentlich sichtbar ist, wird eine Transferzahlung deutlich seltener in Anspruch genommen
  • Der Stigma-Effekt setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Leistungsstigma und moralischem Stigma
  • Um die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu erhöhen, sollte die Beantragung und Auszahlung möglichst diskret erfolgen

„Unser Laborexperiment zeigt: Für Menschen, denen eine Transferzahlung zusteht, spielt es tatsächlich eine große Rolle, was andere im Prozess der Beantragung und der Auszahlung über sie in Erfahrung bringen können. Sie fürchten sich vor dem Urteil der anderen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit. Diese Angst vor Stigma kann sie davon abhalten, die Zahlung abzurufen.“ Jana Friedrichsen, Studienautorin

Die Scham, auf staatliche Hilfe angewiesen zu sein, wird häufig als Grund für eine niedrige Inanspruchnahme von Sozialleistungen genannt. Im Vergleich zu anderen Hemmnissen, wie beispielsweise mangelnden Informationen oder Transaktionskosten, gibt es aber nur wenig empirische Forschung zu den Effekten der Stigmatisierung von Sozialleistungen. In diesem Wochenbericht wird ein kontrolliertes Laborexperiment vorgestellt, dessen Ergebnisse folgende Hypothese stützen: Potentielle LeistungsempfängerInnen fürchten, als weniger leistungsfähig oder als„TrittbrettfahrerInnen“ wahrgenommen zu werden. Wenn die Inanspruchnahme für andere sichtbar ist, verzichten sie deswegen auf eine für sie vorteilhafte Transferzahlung. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine möglichst diskrete Gestaltung des Beantragungs- und Auszahlungsprozesses dazu beitragen kann, die Stigmatisierung abzubauen und somit die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu erhöhen.

Die meisten Sozialleistungen werden nicht automatisch ausbezahlt, sondern müssen beantragt werden. Dadurch kann zwar die Bedürftigkeit der AntragsstellerInnen geprüft werden, das bedeutet aber auch, dass nicht alle Bedürftigen die Leistungen bekommen – weil viele sie nicht beantragen. In Deutschland beantragt ein großer Prozentsatz der Anspruchsberechtigten keine Sozialleistungen: bei Hartz IV wird die Quote der Nichtinanspruchnahme (non take-up rate) auf 43 bis 56 Prozent geschätztinfoKerstin Bruckmeier und Jürgen Wiemers (2017): Benefit Take-Up and Labor Supply Incentives of Interdependent Means-Tested Benefit Programs for Low-Income Households. Comparative Economic Studies 60 (4), 583–604; Michelle Harnisch (2019): Non-Take-Up of Means-Tested Social Benefits in Germany. DIW Discussion Paper Nr. 1793 (online verfügbar, abgerufen am 6. Juni 2019). und bei Grundsicherung im Alter sogar auf ungefähr 60 Prozent.infoIrene Becker (2012): Finanzielle Mindestsicherung und Bedürftigkeit im Alter. Zeitschrift für Sozialreform 58 (2), 123–148. Wenn Sozialleistungen nicht in Anspruch genommen werden, können sozialpolitische Ziele – wie Armutsbekämpfung und Umverteilung – schwerer erreicht werden.

Als einer der Gründe für niedrige Inanspruchnahme wird häufig die Angst vor Stigmatisierung angeführt. Anspruchsberechtigte verzichten auf Sozialleistungen, um kein negatives Signal über ihre Fähigkeiten, ihre Arbeitsmotivation oder ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit zu senden. Die daraus resultierende Stigmatisierung wird nicht nur vermieden, um ein positives Selbstbild aufrecht zu erhalten, sondern auch aus Furcht, von anderen schlechter beurteilt und behandelt zu werden.

In der politischen Diskussion gewinnt das Thema an Bedeutung: Die SPD möchte zum Beispiel mit einer „Respekt-Rente“ (Grundrente) eine erhöhte Grundsicherung ohne Bedürftigkeitsprüfung für RentnerInnen mit über 35 Beitragsjahren einführen. So soll Menschen mit langen Erwerbsbiografien das Stigma erspart werden, das mit der Beantragung von Grundsicherung einhergeht, und dadurch die Inanspruchnahme erhöht werden. Gleichzeitig dürfte diese Maßnahme jedoch das Stigma der Grundsicherung für all jene, die keine 35 Beitragsjahre vorweisen können, zusätzlich erhöhen.

Bisher gibt es jedoch kaum empirische Evidenz für den Effekt von Stigma auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen. Während Informationsdefizite und Transaktionskosten als Gründe für niedrige Inanspruchnahme empirisch mehrfach belegt sind (Kasten 1), gestaltet sich die Untersuchung des Einflusses von Stigma als schwierig. Grund dafür ist, dass beim Vergleich von Transferleistungen häufig nicht nur stigmatisierende Faktoren variieren, sondern auch andere Charakteristika wie Transaktionskosten. Wenn beispielsweise eine Sozialleistung online beantragt werden kann und kein persönliches Treffen mit den Sachbearbeitenden mehr erforderlich ist, nimmt die Stigmatisierung ab, jedoch gleichzeitig auch der Aufwand, die Leistung zu beantragen. Eine unterschiedliche Inanspruchnahme der Transferleistungen kann daher nicht eindeutig einem Stigma-Effekt zugeschrieben werden. Ein beobachteter Anstieg bei der Inanspruchnahme könnte auch auf die gesunkenen Transaktionskosten zurückzuführen sein. Umfragestudien deuten aber daraufhin, dass die Angst vor Stigmatisierung in der Tat ein Hemmnis für die Inanspruchnahme von Transferleistungen darstelltinfoBen Baumberg (2016): The Stigma of Claiming Benefits: A Quantitative Study. Journal of Social Policy 45 (2), 181–199. und dazu beiträgt, dass viele Sozialleistungen nicht in dem Maß in Anspruch genommen werden, in dem Menschen ein Anrecht darauf hätten.infoEurofound (2015): Access to Social Benefits: Reducing Non-take-up. Publications Office of the European Union, Luxembourg.

Als weitere Gründe, warum Berechtigte Sozialleistungen nicht aufnehmen, werden in der Regel Informationsdefizite (Berechtigte wissen nicht, dass sie berechtigt sind oder wie sie sich bewerben können) und Transaktionskosten (die Zeit und Arbeit für die Antragstellung übersteigen die erwarteten Bezüge) angeführt. In einem Überblicksartikel von 2006 wird die Forschung, welche die Inanspruchnahme von Wohlfahrtsleistungen mit unterschiedlichen Charakteristika vergleicht, zusammengefasst.infoJanet Currie (2006): The take-up of social benefits. In: Alan Auerbach, David Card und John Quigley (Hrsg.): Poverty, the Distribution of Income, and Public Policy. New York, 80–148. Der Artikel kommt zu dem Fazit, dass sowohl Informations- als auch Transaktionskosten für die Nichtinanspruchnahme bedeutsam sind. Seither hat sich die Forschung zu diesem Thema vermehrt randomisierten, kontrollierten Studien (RCTs) zugewandt.

In einem Experiment im Rahmen eines Lohnsubventionsprogramms für Niedrigverdienende in den USA (Earned Income Tax Credit, EITC) wurden verschiedene Varianten einer amtlichen Benachrichtigung verschickt.infoSaurabh Bhargava und Dayanand Manoli (2015): Psychological Frictions and the Incomplete Take-Up of Social Benefits: Evidence from an IRS Field Experiment. American Economic Review 105 (11), 3489–3529. Jede/r EmpfängerIn erhielt nur eine Variante des Briefs. Die sprachliche und inhaltliche Vereinfachung der Benachrichtigung sowie die Nennung der maximal zu erwartenden Leistungshöhe hatten den größten Effekt auf die Inanspruchnahme. Dass scheinbar unbedeutende Veränderungen im Antragsmaterial zu starken Effekten führen, deutet daraufhin, dass sogenannte Ärgerniskosten (hassle costs) eine wichtige Rolle für die Nicht-Inanspruchnahme spielen. Wenn das Antragsmaterial auf den ersten Blick zu kompliziert erscheint, möchten sich viele Personen damit gar nicht erst beschäftigen, obwohl sie dadurch auf Geld verzichten. Darüber hinaus zeigt die Studie, dass die Aversion, sich mit unübersichtlichen Materialen zu beschäftigen besonders die Bedürftigsten, denen die höchsten Zuschüsse zustünden, von der Beantragung abhält.

Der Einfluss von Informationsdefiziten wurde in einem Feldexperiment mit Anspruchsberechtigten für Lebensmittelmarken (food stamps) untersucht.infoAmy Finkelstein and Matthew J. Notowidigdo (forthcoming): Take-up and Targeting: Experimental Evidence from SNAP. Quarterly Journal of Economics. Im Experiment erhielt ein Teil der Stichprobe einen Brief, der darüber informierte, sie seien mit großer Wahrscheinlichkeit berechtigt Lebensmittelmarken zu erhalten. Eine andere Gruppe von Teilnehmenden erhielt zusätzlich eine Telefonnummer, unter der sie Hilfe bei der Beantragung erhalten konnten. Eine Kontrollgruppe erhielt keine Intervention. Die Inanspruchnahme über die nächsten neun Monate war in den ersten beiden Gruppen mit jeweils 11 und 18 Prozent signifikant höher als in der Kontrollgruppe mit sechs Prozent. Diejenigen, die aufgrund der zusätzlichen Informationen die Leistungen beantragt hatten, bekamen jedoch im Durchschnitt geringere Leistungen als solche in der Kontrollgruppe. Diese Art von Informationstreatments scheint also nicht geeignet zu sein, die Inanspruchnahme der Bedürftigsten zu erhöhen.

Aufgrund der Schwierigkeit, den Effekt der Angst vor Stigmatisierung mit Beobachtungsdaten zu identifizieren, wurde ein Laborexperiment durchgeführt (Kasten 2), welches in einer stilisierten Umgebung die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Transfers nachvollzieht.infoDie vollständige Studie, die diesem Wochenbericht zugrunde liegt, wurde veröffentlicht als Jana Friedrichsen, Tobias König und Renke Schmacker (2018): Social Image Concerns and Welfare Take-up. Journal of Public Economics, 168 (December 2018), 174–192.

Bereits in den 1930er Jahren wurden in der Ökonomie Experimente durchgeführt, um individuelles Entscheidungsverhalten zu untersuchen. Seit Ende der 1980er Jahre ist die experimentelle Methode in der Ökonomie als Feld der Wirtschaftswissenschaften rapide expandiert. Die wichtigste Motivation, eine ökonomische Fragestellung mittels eines Experiments zu untersuchen, ist die Möglichkeit, die Teilnehmenden zufällig unterschiedlichen experimentellen Bedingungen zuzuordnen (Randomisierung). Diese Randomisierung erlaubt Einsichten darüber, welche kausalen Effekte bestimmte Bedingungen, die von den ForscherInnen gezielt variiert werden, auf die Entscheidungen oder das Verhalten der Teilnehmenden haben. Solche kausalen Schlüsse sind mit Beobachtungsdaten oft schwierig zu erreichen.

Auf Basis ökonomischer Experimente können verschiedenste Forschungsfragen aus allen Bereichen der Ökonomie untersucht werden. Traditionellerweise werden ökonomische Experimente in „Laboren“ durchgeführt, d. h. in speziell dafür eingerichteten Räumen, in denen die Teilnehmenden an separat abgetrennten Arbeitsplätzen vor Computern sitzen und anonymisierte Entscheidungen treffen. Werden die Teilnehmenden während des Experimentes in Gruppen eingeteilt, innerhalb derer sie miteinander agieren, so erfolgt dies in der Regel ebenfalls anonym, sodass die Teilnehmenden nicht wissen, mit wem oder gegen wen sie spielen und wieviel die anderen Beteiligten verdienen.

Es werden heutzutage immer häufiger auch Feldexperimente genutzt, die meist so organisiert sind, dass die Teilnehmenden nicht wissen, dass sie Teil eines Experimentes sind. Alternativ kann ein Experiment auch als „Labor im Feld“ durchgeführt werden, d. h. das Experiment wird in der natürlichen Umgebung der Teilnehmenden durchgeführt. Online-Experimente, bei denen die Teilnehmenden zu Hause ihren eigenen Computer oder ihr Smartphone benutzen, gehören zu letzterer Kategorie.

Neben der Ökonomie nutzen viele andere Disziplinen Experimente, um menschliches Verhalten zu analysieren. Insbesondere in der Psychologie hat die experimentelle Methode eine lange Tradition. Ökonomische Experimente unterscheiden sich allerdings in mehrerer Hinsicht von Experimenten in der Psychologie.

Erstens ist bei ökonomischen Experimenten Täuschung nicht erlaubt. Die Teilnehmenden werden zu jedem Zeitpunkt vollständig und korrekt über die monetären und sonstigen Konsequenzen ihrer Entscheidungen informiert. Beispielsweise kommt es in ökonomischen Experimenten nicht vor, dass Teilnehmenden gesagt wird, sie würden mit einer anderen Person interagieren, wenn dies nicht tatsächlich der Fall ist.

Zweitens sind bei Experimenten in der Ökonomie die Entscheidungen der Teilnehmenden mit monetären Anreizen verbunden: Die Auszahlungen, die die Teilnehmenden erhalten, hängen von ihren Entscheidungen bzw. ihrem Verhalten im Experiment ab, um sicherzustellen, dass die Teilnehmenden die Spiele bzw. Aufgaben ernst nehmen. In der Psychologie wird hingegen üblicherweise allen Teilnehmenden eine pauschale Aufwandsentschädigung bezahlt.

In den letzten Jahren hat sich ein Forschungsstrang innerhalb der experimentellen Ökonomie der Frage gewidmet, ob beziehungsweise wie sich Ergebnisse von Laborexperimenten verändern, wenn anstelle der traditionell untersuchten Population von Studierenden repräsentativere Stichproben von Individuen untersucht werden. Obwohl die konkreten Ergebnisse vom jeweiligen Experiment abhängen, kann allgemein festgestellt werden, dass sich die bisher am häufigsten untersuchte Population der Studierenden in ihrem Verhalten oft nicht wesentlich von anderen Populationen unterscheidet.

Weitere Studien gehen der Frage nach, inwieweit das Verhalten beziehungsweise Entscheidungen im Labor Rückschlüsse auf Verhalten und Entscheidungen im wirklichen Leben zulassen. Auch hier hängen die Ergebnisse vom genauen Kontext ab. Häufig wurde aber eine starke Korrelation zwischen dem Verhalten im Labor und im wirklichen Leben gefunden, beispielsweise in Studien zur individuellen Wettbewerbsneigung, Altruismus und Kooperationswilligkeit. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Erkenntnisse über das Verhalten von Menschen im Labor tatsächlich auf andere Bereiche übertragen werden können.infoAlvin Roth und John Kagel (1993): Handbook of Experimental Economics. Princeton University Press. Alvin Roth und John Kagel (2016): Handbook of Experimental Economics, Volume 2. Princeton University Press.

Ein Laborexperiment erlaubt Isolierung des Effektes

Das experimentelle Design der Untersuchung ermöglicht die exogene Variation der Stigmatisierung. So kann getestet werden, ob sich Transferberechtigte in ihrer Entscheidung für oder gegen die Inanspruchnahme einer Transferleistung durch die Angst vor Stigmatisierung beeinflussen lassen. Das Experiment gibt außerdem Aufschluss darüber, wodurch das wahrgenommene Stigma entsteht und erlaubt Rückschlüsse darauf, in welchen Situationen stärkere oder geringere Stigma-Effekte zu erwarten sind.

Grundaufbau: platzierungsabhängige Auszahlung mit Transfer

Im Experiment wurden die Teilnehmenden in Dreiergruppen eingeteilt, ohne jedoch zu wissen, mit wem sie in einer Gruppe waren. Die folgenden Entscheidungen wurden anonym am Computer getroffen. Die Teilnehmenden beantworteten zunächst alle ein Quiz mit Fragen zum Allgemeinwissen. Ausgehend von der jeweils erreichten Punktzahl im Quiz wurde in jeder Gruppe ein erster Platz, ein zweiter Platz sowie ein dritter Platz vergeben. Die individuellen Auszahlungsbeträge hingen direkt vom erzielten Platz in der jeweiligen Gruppe ab (Tabelle, Spalte 1). Bevor die Teilnehmenden über ihr relatives Abschneiden im Quiz informiert wurden, sollten sich alle vorstellen, sie hätten den dritten Platz erreicht. Für diese hypothetische Situation sollten die Teilnehmenden entscheiden, ob sie eine Transferzahlung in Anspruch nehmen würden oder nicht. Letztlich erhielt aber nur die Person, die tatsächlich den dritten Platz belegte, die Transferleistung, sofern sie sich dafür entschieden hatte, diese in Anspruch zu nehmen. Wurde ein Transfer in Anspruch genommen, stieg die individuelle Auszahlung der Empfängerin oder des Empfängers auf Kosten der anderen beiden Gruppenmitglieder (Tabelle, Spalte 2).

Tabelle: Modalitäten eines Laborexperiments zur Isolierung des Stigma-Effekts

Auszahlung der Teilnehmenden je nach Platzierung und Entscheidung zur Inanspruchnahme eines Transfers

Transfer nicht abgerufen Transfer abgerufen
1. Platz 16 Euro 14 Euro
2. Platz 11 Euro 10 Euro
3. Platz 6 Euro 9 Euro

Anmerkung: Der oder die Drittplatzierte kann eine Transferzahlung abrufen, die die eigene Auszahlung auf Kosten der anderen beiden Gruppenmitglieder reduziert.

Quelle: eigene Darstellung.

Stigma als erwartete Zuschreibung negativer Eigenschaften

Das Experiment basiert auf der Idee, dass Menschen sich dadurch stigmatisiert fühlen, dass ihr soziales Umfeld ihnen aufgrund beobachtbaren Verhaltens nicht beobachtbare, negative Eigenschaften zuschreiben könnte. Die Inanspruchnahme der Transferzahlung wird innerhalb des Experimentes dadurch stigmatisiert, dass es nur dem oder der Drittplatzierten möglich ist, eine Transferzahlung abzurufen. Dadurch wird die Inanspruchnahme des Transfers mit einer niedrigen Punktzahl im Quiz und damit relativ geringer Allgemeinbildung assoziiert. Zudem bewirkt die Transferzahlung eine Umverteilung der Einkommen. Diejenigen, die sie in Anspruch nehmen, erhöhen ihr eigenes Einkommen auf Kosten der anderen Gruppenmitglieder. Auch die Bereitschaft, sich auf Kosten anderer finanziell besser zu stellen, kann also mit der Inanspruchnahme des Transfers assoziiert werden.

Manipulation der Beobachtbarkeit

Stigmatisierung erfordert, dass das potentiell stigmatisierte Verhalten von anderen beobachtet wird. Dieser Aspekt wird im Laborexperiment dadurch gesteuert, dass die Inanspruchnahme der Transferzahlung entweder „privat“ oder „öffentlich“ ist. „Privat“ bedeutet hierbei, dass die Teilnehmenden lediglich dem Computerprogramm mitteilen, ob sie die Zahlung im Falle eines dritten Platzes abrufen möchten. „Öffentlich“ hingegen bedeutet, dass diejenigen, die eine Transferzahlung abrufen wollen, sich für alle anderen Teilnehmenden im Labor sichtbar einen Berechtigungsschein bei den Experimentleitern abholen müssen.

Alle Teilnehmenden treffen daher zwei Entscheidungen: Sie entscheiden, ob sie den Transfer im Falle eines dritten Platzes abrufen wollen, wenn dies 1) privat und 2) öffentlich geschieht. Nachdem alle Teilnehmenden diese beiden Entscheidungen getroffen haben, erfahren sie, welche Platzierung sie tatsächlich erreicht haben. Anschließend wird in jeder Gruppe entschieden, ob die Transferzahlung privat oder öffentlich abgerufen werden kann, bevor die entsprechende Entscheidung des oder der Drittplatzierten für diese Situation umgesetzt wird.

Im Experiment lässt sich der Effekt der erzeugten Stigmatisierung messen, indem die Rate der Transferaufnahme in der privaten mit der in der öffentlichen Situation verglichen wird.

Ergebnisse des Experiments

Angst vor Stigmatisierung reduziert Inanspruchnahme

Fast 90 Prozent der insgesamt 165 Teilnehmenden nahmen den Transfer in Anspruch, wenn dies privat möglich war. Dieser Anteil sank auf unter 60 Prozent, wenn der Transfer öffentlich abgerufen werden musste. Die Angst vor Stigmatisierung erklärt im Experiment also einen Rückgang der Inanspruchnahme um 30 Prozentpunkte (Abbildung 1). Dieser Rückgang ist statistisch signifikant.

Das Ergebnis zeigt, dass die Angst vor Stigmatisierung selbst in einem abstrakten Laborexperiment die Inanspruchnahme einer Transferleistung deutlich beeinflussen kann, weil die Teilnehmenden der Stigmatisierung entgehen wollen. Diejenigen, die einen Transfer zwar in der privaten Situation in Anspruch nehmen aber nicht in der öffentlichen, wollen zum einen vermeiden, geringere Allgemeinbildung zugeschrieben zu bekommen (Leistungsstigma). Zum anderen wollen sie nicht als „Trittbrettfahrerin“ oder „Trittbrettfahrer“ wahrgenommen werden, die oder der sich auf Kosten anderer finanziell besser stellt („moralisches“ Stigma). Weitere experimentelle Bedingungen erlauben es, diese beiden Mechanismen separat mit anderen Teilnehmenden zu untersuchen.

Zerlegung des Stigma-Effekts

Die erste Variation des Experiments weist den Teilnehmenden die Platzierungen innerhalb der Dreiergruppen zufällig zu, so dass die Platzierung nicht mit der Leistung im Quiz zusammenhängt. Auch hier nahmen knapp 90 Prozent der 159 Teilnehmenden den Transfer in Anspruch, wenn dies privat möglich war. Der Anteil lag bei unter 70 Prozent, wenn der Transfer öffentlich abgerufen werden musste. Stigma bewirkt im Experiment also auch dann noch einen Rückgang der Inanspruchnahme, wenn die Inanspruchnahme nicht in Zusammenhang mit der Leistung der Teilnehmenden im Quiz gebracht werden kann. Der Rückgang um rund 20 Prozentpunkte ist statistisch signifikant (Abbildung 2). Dies deutet darauf hin, dass die Teilnehmenden nicht so wahrgenommen werden wollen, als würden sie sich auf Kosten anderer besserstellen, obwohl die Regeln des Experiments ihnen diese Umverteilung explizit zugestehen. Der Effekt der Stigmatisierung auf die Inanspruchnahme ist hier jedoch signifikant niedriger als in dem Experiment, in dem die Platzierungen innerhalb der Gruppen auf Leistung im Quiz basieren. Beides zusammen deutet darauf hin, dass sowohl Leistungsstigma als auch moralisches Stigma im Experiment eine Rolle spielen.

Um noch besser zu verstehen, wodurch der Stigma-Effekt entsteht, wurden die beschriebenen Experimentbedingungen in einer weiteren Abwandlung durchgeführt, bei der die Inanspruchnahme des Transfers die Einkommen der anderen Gruppenmitglieder nicht beeinflusste. Dadurch wird das moralische Stigma, sich auf Kosten anderer besserstellen zu wollen, ausgeschaltet, jedoch gibt die Inanspruchnahme weiterhin Aufschluss über eine schwache Leistung im Quiz. Aufgrund des Leistungsstigmas ist eine signifikant niedrigere Inanspruchnahme von 77 Prozent in der öffentlichen Situation im Vergleich zu 94 Prozent in der privaten Situation zu beobachten. Dieser Effekt verschwindet vollständig, wenn die Platzierungen zufällig verteilt werden, das heißt, wenn die Inanspruchnahme des Transfers weder mit Leistungsstigma noch mit moralischem Stigma einhergeht. In diesem Fall, beträgt die Inanspruchnahme 92 Prozent in der privaten und 90 Prozent in der öffentlichen Situation. Der Unterschied ist statistisch nicht signifikant. Dies deutet darauf hin, dass sich der Stigma-Effekt im Experiment vollständig aus diesen beiden Komponenten zusammensetzt.

Fazit: Diskrete Prozesse und Informationsaustausch könnten mehr bezugsberechtigte Menschen dazu bringen, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen

Das Experiment zeigt, dass Individuen weniger geneigt sind, einen öffentlich sichtbaren als einen privaten Transfer in Anspruch zu nehmen. Diese Differenz ist größer, wenn die Berechtigung zu einem Transfer auf einer geringen Punktzahl in einem Allgemeinwissenstest beruht, als wenn die Berechtigung zufällig ist. Wenn der Transfer nicht öffentlich ist, nehmen fast alle Teilnehmenden den Transfer in Anspruch, unabhängig davon, ob die Berechtigung auf niedrigem Allgemeinwissen oder Zufall beruht.

Die Ergebnisse legen somit nahe, dass Stigma besonders dann relevant ist, wenn der Bezug eines Transfers für andere sichtbar ist. Dies bedeutet, dass Veränderungen, die die Beantragung und Auszahlung von Transferleistungen weniger sichtbar machen, einen größeren Einfluss haben können als Appelle an die Bezugsberechtigung. Soll die Inanspruchnahme erhöht werden, könnte man daher den Antragstellenden die Möglichkeit geben, Sozialleistungen online zu beantragen oder in Bürgerämtern, in denen auch nicht-stigmatisierte Anliegen bearbeitet werden.

Zielführend könnte auch ein automatischer Datenaustausch zwischen verschiedenen Ämtern sein, der es ermöglichen würde, Sozialleistungen ohne separaten Antrag auszuzahlen. Würde von einer Vermögensprüfung abgesehen, könnten beispielsweise die Ämter für Soziales aus Steuerinformationen die Grundsicherungsansprüche für die meisten Rentner selbst berechnen. Ähnlich wird in Österreich auf eine Vermögensprüfung verzichtet und bei jedem Pensionsantrag geprüft, ob durch ein geringes Gesamteinkommen Anspruch auf die „Ausgleichszulage“ besteht. In dem Fall wird sie ohne weiteren Antrag mit der Pension ausbezahlt. Dies würde nicht nur das Problem der Stigmatisierung beseitigen, sondern gleichzeitig auch Informationsprobleme und Transaktionskosten.

Renke Schmacker

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Staat



JEL-Classification: C91;D03;H31;I38
Keywords: Stigma, Signaling, Non-take-up, Welfare program
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-26-1

Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/201812

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