Blog Marcel Fratzscher vom 7. August 2020
Offizielle Statistiken beschönigen die Armutsgefährdung von Kindern in Deutschland. Auch weil sie sich immer nur auf einen Zeitpunkt beziehen.
Jedes fünfte Kind in Deutschland ist zurzeit von Armut bedroht, jedes dritte Kind macht diese Erfahrung früher oder später. Dies sind zwei der zentralen Resultate einer Studie der Bertelsmann Stiftung zum Thema Kinderarmut. Trotz des hohen Wohlstandsniveaus in Deutschland lebt also ein erheblicher Teil der Kinder und Jugendlichen unter massiven Einschränkungen, die auch ihre Zukunftschancen vermindern.
Dieser Beitrag ist am 7. August 2020 in der ZEIT ONLINE–Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen erschienen. Hier finden Sie alle Beiträge von Marcel Fratzscher.
Das besondere Verdienst dieser Studie besteht darin, dass sie einen häufig ignorierten Aspekt der Armut stärker in den Mittelpunkt rückt: die soziale und kulturelle Teilhabe. Denn das Armutsrisiko ist eben nicht nur eine Frage des Geldes. Wer verstehen will, was ein Leben mit wenig materieller Unterstützung mit Kindern und Jugendlichen macht und wie es sie beeinflusst, muss sich mit dem Empfinden der Kinder und Jugendlichen auseinandersetzen. Letztlich sollte es der Anspruch guter Politik sein, dass jedes Kind und jede und jeder Jugendliche sich in der eigenen Situation wohlfühlen und Teil der Gesellschaft, des sozialen Umfelds sein kann.
Um den Grad der Teilhabe zu messen, erfasst die Studie 23 Dinge, die als Grundlage für eine ausreichende Versorgung angesehen werden. Dazu gehören neben den Wohnverhältnissen, Nahrung, Kleidung, Konsumgütern (wozu auch der Zugang zu einem Computer mit Internetanschluss gehört) und einer ausreichenden Finanzausstattung eben auch soziale und kulturelle Dinge: mit Freunden ins Kino gehen, sie nach Hause zum Essen einladen oder einmal im Jahr für mindestens eine Woche in den Urlaub fahren zu können zum Beispiel. Zwei von drei Kindern aus von Armut gefährdeten Familien geben an, bestimmte Freizeitbeschäftigungen nicht ausüben zu können, weil ihnen das Geld dafür fehlt.
Üblicherweise gelten Kinder und Jugendliche als von Armut gefährdet, die in Haushalten leben, die mit weniger als 60 Prozent des Nettoeinkommens eines mittleren Haushalts (Median) auskommen müssen. Dies gilt beispielsweise für eine vierköpfige Familie mit zwei Eltern und zwei Kindern sowie einem monatlichen Nettoeinkommen von weniger als 2.174 Euro. Davon sind laut der offiziellen Statistiken 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen. Die Zahlen der Bertelsmann-Studie liegen aufgrund der anderen Methodik deutlich höher: Demnach sind 21,3 Prozent oder 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche von Armut gefährdet.
Noch höher fallen die Zahlen aus, wenn man nicht nur wie sonst üblich die Armutsgefährdung zu einem bestimmten Zeitpunkt misst, sondern auch danach fragt, wie viele Kinder oder Jugendliche immer mal wieder temporär mit ihrer Familie Einschränkungen erfahren oder auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen sind. Die Berücksichtigung dieser zeitlichen Komponente ergibt, dass sogar jedes dritte Kind in der eigenen Kindheit zumindest temporär von Armut bedroht ist oder war.
Besonders hoch ist das Armutsrisiko für Kinder von Alleinerziehenden: In stabilen Ein-Eltern-Haushalten sind zwei von drei Kindern früher oder später von Armut bedroht. Es sind meist alleinerziehende Mütter, die diese Situation betrifft. Denn sie haben häufig das Problem, dass sie nach einer unterbrochenen Erwerbsbiografie wieder Zugang zum Arbeitsmarkt finden müssen. Sie können das häufig nur in Teilzeit, nicht selten weil das Betreuungsangebot an Schulen und Kitas eine Arbeit in Vollzeit nicht ermöglicht.
Auch regional gibt es große Unterschiede: Vor allem in großen Städten wie Berlin und Bremen ist das Risiko für Kinder, von Armut bedroht zu sein, besonders groß. So sind in Berlin 27 Prozent oder 161.319 Kinder und Jugendliche von Armut bedroht. In Bayern und Baden-Württemberg dagegen sind die Zahlen deutlich geringer (6 beziehungsweise 8 Prozent).
Nun wenden Kritiker und Kritikerinnen der Studie ein, dass die Anzahl der Kinder in Armut nicht signifikant gefallen ist, liege lediglich an der hohen Zuwanderung von Geflüchteten ab 2015. Die Anzahl der deutschen Kinder, die in Armut leben, sei dagegen zurückgegangen. Dies ist allerdings ein seltsames Argument. Suggeriert es doch, ausländische Kinder seien nicht so wichtig, ihre Armut müsse uns weniger Sorgen machen.
Die Argumentation ist aber auch insofern irreführend, als Deutschland im internationalen Vergleich bei der Kinderarmut beschämend schlecht abschneidet. Vergleichbare Länder wie Dänemark, Finnland oder Norwegen, aber auch eine Reihe wirtschaftlich schwächerer europäischer Länder haben ein zum Teil deutlich geringeres Armutsrisiko für Kinder und Jugendliche. Es ist also ganz und gar nicht so, als sei ein gewisses Maß an Armutsrisiko in einer Marktwirtschaft unvermeidbar.
Die Politik hat viele Optionen, um Kinderarmut zu bekämpfen und deutliche Verbesserung herbeizuführen. Deutschland hat einen starken Sozialstaat mit starken Sicherungssystemen. Das Problem ist nur, dass diese häufig zu wenig zielgenau sind oder bestimmte Gruppen bevorzugen. Das Ehegattensplitting beispielsweise nutzt kinderlosen Paaren, aber ignoriert die alleinerziehende Mutter. Auch sind viele der Sozialleistungen zu wenig aufeinander abgestimmt, sodass es nicht selten passiert, dass alleinerziehende Eltern wenig davon haben, wenn sie mehr arbeiten oder eine Gehaltserhöhung bekommen, weil Sozialleistungen dann wegfallen oder das zusätzliche Einkommen von der Steuer aufgefressen wird.
Eine Lehre aus der Studie der Bertelsmann Stiftung sollte deshalb sein: Wir als Gesellschaft müssen besser zuhören und verstehen, was junge Menschen in ihrem Leben benötigen – nicht nur um eine gute Kindheit zu erleben, sondern auch um Zukunftschancen zu haben und als Erwachsene nicht mit den Einschränkungen leben zu müssen, die ihre Eltern erfahren haben. Denn zu häufig heißt es in Deutschland noch: Arm bleibt arm und Hartz IV vererbt sich. Dies ist vielleicht der wichtigste Makel in Bezug auf Armut in Deutschland.
Themen: Familie , Ungleichheit , Verteilung