Direkt zum Inhalt

Der Mythos der bösen Geldpolitik

Blog Marcel Fratzscher vom 6. April 2018

Dieser Beitrag ist am 6. April in der ZEIT ONLINE–Kolumne „Fratzschers Verteilungsfragen“ erschienen.

Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) enteigne die Sparerinnen und Sparer, und sie erhöhe dadurch die Ungleichheit: Das ist der Vorwurf vieler EZB-Kritiker in Deutschland. Angesichts der Tatsache, dass man wegen der EZB-Politik kaum noch Zinsen auf sein Sparkonto bekommt, scheint diese Behauptung auf den ersten Blick einleuchtend. Aber ist sie auch wahr?

Eine genauere Analyse zeigt, dass die Geldpolitik der EZB die Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen in Deutschland nicht erhöht, sondern reduziert hat. Doch viele der positiven Auswirkungen der Geldpolitik heften sich die Politiker zu Unrecht ans Revers. Umgekehrt macht die Politik gerne die EZB zum Sündenbock für ihre eigenen Fehler und Versäumnisse. Eine detaillierte Analyse ist daher wichtig, um nicht nur die Kosten und Risiken – die es durchaus gibt – aufzuzeigen, sondern sie gründlich gegen den Nutzen der expansiven Geldpolitik abzuwägen.

Die Vorwürfe der deutschen EZB-Kritiker überschlagen sich mit jeder Entscheidung der Notenbank, die kein schnelles Ende der expansiven Geldpolitik einläutet. Vor allem der Vorwurf, die expansive Geldpolitik vergrößere die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen, hat in Deutschland an Bedeutung gewonnen. Der frühere Finanzminister Wolfgang Schäuble warf im vergangenen Jahr der EZB gar vor, ihre Geldpolitik stärke die rechtsextreme AfD und verschärfe die politische Spaltung des Landes.

Das ist starker Tobak. Eine ehrliche Analyse muss unterscheiden zwischen den finanziellen Effekten, also der Wirkung auf die Zinseinkommen und Vermögen, und den makroökonomischen Effekten, also dem Einfluss auf Beschäftigung und Arbeitseinkommen. Die Niedrigzinspolitik und die Anleihekäufe der EZB haben durch niedrigere Zinsen die Zinseinkommen auf sichere Vermögenswerte wie Sparkonten und Staatsanleihen reduziert. Zugleich haben sie aber die Renditen auf relativ riskantere Vermögenswerte wie Aktien und Immobilien erhöht.

Der Staat ist der Gewinner

Alle Bürgerinnen und Bürger zusammen – die privaten Haushalte – haben nach Berechnungen der EZB seit 2014 positive Nettozinseinkommen erzielt, nicht negative. Die großen Verlierer der geringeren Zinseinkommen sind, das zeigen die Berechnungen, die Banken und andere Finanzinstitutionen, vor allem da sie viele sichere Anleihen halten. Die großen Gewinner hingegen sind der deutsche Staat und die Finanzminister des Bundes und der Länder, die viel niedrigere Zinsen auf ihre Schulden zahlen müssen.

Mancher argumentiert, die niedrigen Zinseinkünfte von Banken und Versicherungen würden letztlich zulasten der Bürgerinnen und Bürger gehen. Dies ist nur zum Teil richtig. Denn die gleichen Bürgerinnen und Bürger sind auch Steuerzahler, und ihnen kommen die niedrigeren Zinsausgaben des Staates zugute. Ohne die niedrigen Zinsen, die dem Staat jedes Jahr über 40 Milliarden Euro sparen, wären Steuersenkungen im Wahlkampf und in den Koalitionsverhandlungen kein Thema gewesen.

Auch Deutschland hat profitiert

Was die Verteilungseffekte betrifft, ist die Behauptung nur halb richtig, dass hauptsächlich vermögende Bürgerinnen und Bürger von den hohen Renditen auf Aktien und Immobilien profitierten. Denn wie Studien der Bundesbank zeigen, haben 40 Prozent der deutschen Haushalte praktisch kein Nettovermögen. Für diese Haushalte macht es also keinen Unterschied, ob die Zinsen bei null oder zehn Prozent liegen – wer kein Erspartes hat und sein gesamtes Monatseinkommen für den Lebensunterhalt ausgeben muss, der hat auch von höheren Zinsen keinen Vorteil. Mehr noch, über zehn Prozent der ärmsten Haushalte sind netto verschuldet. Die niedrigeren Zinsen helfen diesen Menschen, ihre Schulden etwas besser bedienen zu können. Kurzum, die EZB-Geldpolitik hat über Nettozinseinkommen die Ungleichheit in Deutschland tendenziell eher reduziert.

Geldpolitik belastet deutsche Mieterinnen und Mieter

Schwieriger ist das Bild bei den Vermögenseffekten. Die expansive Geldpolitik hat dazu beigetragen, den Wert von Vermögenswerten wie Aktien und vor allem Immobilien zu erhöhen. Dies führt jedoch nicht automatisch zu einer höheren Ungleichheit von Einkommen und Vermögen innerhalb eines Landes. Hier ist der Unterschied zwischen Deutschland und anderen Ländern der Eurozone wichtig. In den meisten anderen Ländern der Eurozone, in denen zum Teil mehr als 80 Prozent der Haushalte ein Eigenheim besitzen, hat der Anstieg der Immobilienwerte die Ungleichheit bei Vermögen reduziert.

Im Gegensatz dazu hat Deutschland mit 45 Prozent eine sehr geringe Eigenheimquote. Vor allem die 40 Prozent der Menschen, die keinerlei Erspartes haben – also weder ein Eigenheim noch Finanzvermögen –, haben hier nicht von Vermögenseffekten profitieren können. Im Gegenteil: Die Immobilienwerte haben zu Mietsteigerungen geführt, was dann wiederum vor allem die Mieterinnen und Mieter, also meist Menschen mit keinen oder geringen Vermögen und Einkommen, stark belastet und ihren Lebensstandard reduziert.

Wichtig dabei ist jedoch, zu betonen, dass – wie sich für die meisten Länder der Eurozone zeigt – nicht die Geldpolitik per se der Grund für diese ungleichen Vermögenseffekte ist. Sondern es ist die Politik, die vor allem durch eine verfehlte Wohnungspolitik die Hauptverantwortung für steigende Mieten in Ballungszentren trägt.

Deutschland profitiert makroökonomisch

Diesen finanziellen Effekten auf Zinseinkommen und Vermögenswerten stehen die makroökonomischen Auswirkungen der EZB-Geldpolitik gegenüber. Selbst die deutschen Kritikerinnen und Kritiker der EZB räumen mittlerweile ein, dass ohne die expansive Geldpolitik der EZB die Kreditvergabe und damit auch Investitionen in der Eurozone und in Deutschland deutlich geringer ausgefallen wären. Die expansive Geldpolitik hat also geholfen, die Arbeitslosigkeit schneller und stärker zu reduzieren und vor allem Jobs für die sozial schwächsten Menschen zu schaffen.

Auch Deutschland hat profitiert: Ohne die Erholung der Eurozone wären Deutschlands Exporte nicht so stark gewachsen, die auch in Deutschland zu mehr Beschäftigung und guten Lohnanstiegen für einkommensschwache Menschen in den vergangenen Jahren geführt haben. Diese makroökonomischen Effekte der EZB-Geldpolitik haben also die Einkommensungleichheit in Deutschland reduziert oder zumindest einen weiteren Anstieg verhindert.

Der Mythos der bösen Geldpolitik, die Sparer enteignet und die Ungleichheit in Deutschland erhöht, ist falsch. Er ist ein Konstrukt einer interessengeleiteten Politik, mithilfe derer manche die EZB für ihre eigenen Fehler zum Sündenbock stempeln wollen. Die expansive EZB-Geldpolitik birgt zweifelsohne Kosten und Risiken, aber die Erhöhung der Ungleichheit gehört nicht dazu. Stattdessen war und bleibt sie entscheidend für die wirtschaftliche Erholung und damit das Absinken der Arbeitslosigkeit und den Anstieg der Einkommen, vor allem für Menschen mit geringen Einkommen und Vermögen.

Der öffentliche Diskurs in Deutschland sollte sich viel stärker auf die Frage konzentrieren, was denn die Politik tun kann und tun sollte, um die wirtschaftliche Erholung zu unterstützen und wichtige Reformen auf den Weg zu bringen. Will sie den Anstieg der Ungleichheit von Einkommen, Vermögen und Lebensstandards begrenzen, werden vor allem die steigenden Miet- und Eigentumspreise von Wohnimmobilien zunehmend zu ihrer größten Herausforderung.

Themen: Europa , Geldpolitik

keyboard_arrow_up