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Explosive Polarisierung

Blog Marcel Fratzscher vom 23. Oktober 2017

Dieser Text ist als Gastbeitrag im Handelsblatt vom 23. Oktober erschienen.

Was haben viele Männer aus Sachsen und Geflüchtete aus Syrien gemeinsam? Auf den ersten Blick wenig. Bei genauem Hinsehen jedoch zeigt sich, dass beide Gruppen der gleichen großen Herausforderung gegenüberstehen: der Integration in die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft. Der Rücktritt von Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich war die logische Konsequenz des Rechtsrucks der letzten Jahre oder sogar Jahrzehnte, der mit dem Erfolg von Pegida und dem guten Abschneiden der AfD - bei der Bundestagswahl stärkste Partei in Sachsen - seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat.

Die Behauptung, der Rechtsruck läge lediglich an der Ablehnung vieler Ostdeutscher gegenüber Geflüchteten, ist populistisch und grundfalsch. In den Regionen mit dem größten Zulauf für die AfD ist der Ausländeranteil gering. Keinem Sachsen sind staatliche Leistungen wegen Geflüchteten entgangen, noch sind Jobs oder Löhne durch sie gefährdet. Und kaum einer dort kann behaupten, die Geflüchteten stellten ein persönliches Sicherheitsrisiko dar.

Der starke Zuspruch für AfD und Pegida im Osten, vor allem in Sachsen, ist vielmehr der fehlenden wirtschaftlichen und sozialen Integration vieler Menschen und dem Abgehängtsein ganzer Regionen geschuldet. Seit ungefähr zehn Jahren holt Ostdeutschland wirtschaftlich nicht mehr gegenüber Westdeutschland auf. Ostdeutsche verdienen immer noch deutlich weniger, haben schlechtere Jobs, bekommen schlechtere staatliche Leistungen im Vergleich zu vielen Regionen Westdeutschlands. In vielen vor allem ländlichen ostdeutschen Regionen ist die demografische Entwicklung katastrophal. Junge Menschen ziehen in die Städte und nach Westdeutschland, um ihre Zukunft zu gestalten und Chancen zu nutzen.

Daran ist auch eine verfehlte Investitionspolitik von Bund und Ländern schuld. Die “schwarze Null” der öffentlichen Haushalte kann kein Selbstzweck sein. Nur mit guten Rahmenbedingungen werden private Unternehmen kommen und gute Jobs schaffen. Nur mit einer exzellenten Bildungs- und Familienpolitik werden junge Menschen bleiben, um die Zukunft der Region zu gestalten.

Die Integration vieler Menschen in Ostdeutschland ist gescheitert: Es ist vor allem für Ältere schwierig, gute Arbeit zu finden. Viele realisieren, dass ihre Aufstiegschancen gering sind und ihre eigenen Kinder es nicht besser haben werden als sie, wenn sie in ihrer Heimatregion bleiben. Es gibt auch andere Landstriche in Deutschland, auf die das zutrifft, vor allem im Westen und im Norden. In Ostdeutschland aber ist die Enttäuschung umso bitterer, als den Menschen dort vor nun 27 Jahren “blühende Landschaften” versprochen wurden.

Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping nennt die fehlende Geschichtsbewältigung der Nachwendezeit als eine zweite zentrale Ursache für den politischen Rechtsruck und die Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher. Sie beschreibt es als einen “Stachel der Demütigung im Fleisch vieler Ostdeutscher”, dass ihre Lebensgeschichten nicht ausreichend gewürdigt wurden, wo die Wiedervereinigung doch enorme Anpassungsanstrengungen gefordert hat. Dies trifft vor allem auf Männer zu, die sich in ihren Bemühungen, eine neue Existenz nach der Wiedervereinigung aufzubauen, nicht ausreichend gewürdigt fühlen.

Als die Ostdeutschen 1989 “Wir sind das Volk” riefen, war das eine Forderung für demokratische Rechte. Wenn in den letzten Jahren “Wir sind das Volk” gerufen wurde, war das in erster Linie, um Anerkennung für Sorgen und Nöte zu erlangen. Dieses legitime Bedürfnis in der Form von Fremdenfeindlichkeit auszudrücken ist falsch. Dieses Bedürfnis zu ignorieren jedoch genauso. Die Integration vieler Menschen in Ostdeutschland ist eine große Herausforderung, vielleicht sogar größer als die Integration der Geflüchteten. Daran sind Politik und Gesellschaft in den letzten 27 Jahren zumindest teilweise gescheitert. Weder eine härtere Politik gegen Ausländer noch ein Ignorieren noch der Versuch, über mehr Sozialleistungen die Menschen ruhigzustellen, werden die Fehler der Nachwendezeit beheben. Die Integration der Geflüchteten wird erst dann gelingen können, wenn die soziale Polarisierung innerhalb der deutschen Gesellschaft adressiert wird und Deutsche die Neuankömmlinge nicht als Kontrahenten im Wettbewerb um Anerkennung sehen.

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