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In der Niedriglohnfalle

Blog Marcel Fratzscher vom 17. Mai 2019

Deutschland hat einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa. Trotz Beschäftigungsboom und starkem Wirtschaftswachstum verdient jeder vierte abhängig Beschäftigte – rund acht Millionen Personen – hierzulande weniger als 10,80 Euro brutto pro Stunde. Dort liegt derzeit die sogenannte Niedriglohnschwelle. Europaweit liegt der Anteil bei einem Sechstel. Betroffen sind in Deutschland vor allem Frauen, Alleinerziehende, Ostdeutsche und Migranten.

Noch deprimierender ist die Tatsache, dass die Mobilität für diese Menschen ungewöhnlich niedrig ist und die große Mehrheit nur geringe Chancen hat, dem Niedriglohnsektor zu entfliehen und sich besserzustellen. Dies sind die zentralen Ergebnisse einer Studie zweier meiner Kollegen am DIW Berlin (PDF, 258.99 KB).

Die Politik streitet sich seit Langem um die Frage, wie der deutsche Sozialstaat reformiert und verbessert werden kann. Die neue Bundesregierung nimmt viel Geld in die Hand, um die gesetzliche Rente für Geringverdienerinnen und Geringverdiener zu erhöhen und soziale Leistungen – von Wohngeld über Kindergeld bis hin zu besseren Leistungen für Alleinerziehende – auszuweiten.

Arbeit muss angemessen entlohnt werden

Dabei bekämpft die Politik aber meist nur die Symptome eines Problems, das seine Wurzeln ganz woanders hat, nämlich im Arbeitsmarkt und in der Tatsache, dass ungewöhnlich viele Menschen in Deutschland geringe Stundenlöhne erhalten. Denn wer einen niedrigen Lohn erhält, hat es schwer, seine Miete zu zahlen und ist auf Wohngeld angewiesen. Niedrige Löhne bedeuten auch niedrige Rentensprüche und im Alter niedrige Rentenzahlungen. Dazu kommt, dass viele in Deutschland in Teilzeit arbeiten und unterbrochene Erwerbsbiografien haben.

Wenn sich Arbeit kaum lohnt, dann kann es uns auch nicht überraschen, dass immer mehr Menschen auf Leistungen des Sozialstaats angewiesen sind. Gleichzeitig wird der Sozialstaat für den Einzelnen immer weniger leistungsfähig. Arbeit muss angemessen entlohnt werden, um Menschen eine bessere Absicherung und Eigenverantwortung zu ermöglichen und gleichzeitig den Sozialstaat zu entlasten.

Die Fakten zu Deutschlands Niedriglohnsektor sind ernüchternd: Es gibt neun Millionen Beschäftigungsverhältnisse mit Niedriglöhnen, davon sind rund acht Millionen Hauptjobs. In anderen Worten: Acht Millionen Menschen müssen ihren Lebensunterhalt von diesen niedrigen Löhnen bestreiten. Das Argument, Niedriglöhne beträfen in erster Linie Neben- oder Studentenjobs, trägt also nicht.

Der Anteil derer, die im Niedriglohnbereich arbeiten, betrug Mitte der Neunzigerjahre 16 Prozent aller abhängig Beschäftigten, heute liegt er bei 24 Prozent. Dies liegt keineswegs daran, dass der Median, also der Referenzwert bei den Stundenlöhnen, gestiegen sei und die Menschen mit niedrigen Löhnen somit abgehängt worden sind. Das Gegenteil ist sogar der Fall: Der reale Stundenlohn des Medians ist seit Mitte der 1990er-Jahre kaum gewachsen. Die starke Ausdehnung des Niedriglohnbereichs ist vielmehr die Folge sinkender Reallöhne beim Drittel der Beschäftigten mit den niedrigsten Stundenlöhnen. Die Reallöhne der 10 Prozent der Beschäftigten mit den niedrigsten Stundenlöhnen sind seit 1995 um 10 Prozent gefallen. Die Reallöhne der oberen 50 Prozent dagegen sind deutlich gewachsen.

Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 geholfen hat, den Niedriglohnsektor temporär zu schrumpfen. Auch bei vielen, die ursprünglich über dem Mindestlohn von anfänglich 8,50 Euro verdienten, ist der Stundenlohn gestiegen. Diese Verbesserung scheint jedoch nur temporär gewesen zu sein, der Niedriglohnsektor ist im Jahr 2017 ja wieder gewachsen.

Minijobs als Falle

Wer erhält niedrige Löhne? Es sind vor allem Frauen – 28 Prozent der weiblichen Beschäftigten, bei Männern sind es 17 Prozent. Auch 40 Prozent aller alleinerziehenden Eltern, 30 Prozent der Beschäftigten mit Migrationshintergrund, ein Drittel der Beschäftigten aus Ostdeutschland und Menschen mit geringem Bildungsgrad finden sich besonders häufig im Niedriglohnsektor wieder.

Beinahe zwei von drei der Menschen, die für niedrige Löhne arbeiten, bleiben mittelfristig in diesem Niedriglohnsektor, zeigt die Studie auch. Das widerlegt diejenigen, die behaupten, viele Menschen würden Niedriglöhne nur übergangsweise bekommen und dann den Aufstieg schaffen. Niedriglöhne als Sprungbrett, sozusagen. Das Gegenteil ist der Fall, denn die wenigsten können sich durch Qualifizierung oder Aufstieg selbst aus dem Niedriglohnsektor herausziehen und finanziell besserstellen. Und der Niedriglohnjob ist für die meisten eben nicht ein Nebenerwerb.

Diese fehlende Mobilität erweist sich für Gesellschaft und Sozialstaat als Bumerang. Menschen, die langfristig zu geringen Stundenlöhnen arbeiten, werden in eine permanente Abhängigkeit vom Sozialstaat getrieben. Sie sind während ihres Arbeitslebens stark auf soziale Leistungen angewiesen und erfahren im Alter einen weiteren Einschnitt in ihrem Lebensstandard, weil sie selbst kaum Vorsorge betreiben und nur geringe Ansprüche an die gesetzliche Rente erwerben konnten.

Kaum Tarifbindungen

Warum arbeiten so viele Menschen in Deutschland so lange zu solch niedrigen Löhnen? Ein wichtiger Grund sind die Minijobs, die zum einen ungewöhnlich häufig niedrig entlohnt werden und zum anderen viele Beschäftigte in einem geringfügigen Arbeitsverhältnis gefangen halten. Die Betroffenen müssten nämlich einen großen Sprung in ihrem Bruttoeinkommen machen, damit sich das finanziell für sie lohnt.

Eine gewichtige Rolle spielt auch die abnehmende Bedeutung der Sozialpartnerschaft. Denn kaum ein Arbeitsvertrag im Niedriglohnsektor hat eine Tarifbindung und viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben daher wenig Verhandlungsmacht gegenüber ihren Arbeitgebern. Hinzu kommt die geringe Qualifizierung vieler Menschen im Niedriglohnbereich. Viel zu viele Menschen haben noch immer keinen Berufsabschluss oder arbeiten in Berufen, für die sie keine Qualifikation haben.

Auch wenn Qualifizierung und Weiterbildung essenzielle Maßnahmen sind, so darf man sich hiervon nicht zu viel versprechen. Die erfolgreiche Einführung des Mindestlohns – drei Millionen Beschäftigte haben eine zum Teil substanzielle Steigerung ihres Lohns erfahren, und entgegen aller Warnungen sind kaum Jobs vernichtet worden – zeigt beispielhaft, dass stärkere Sozialpartnerschaften wichtig sind, um Menschen aus dem Niedriglohnbereich zu heben.

Der ungewöhnlich große Niedriglohnbereich ist eine der schwerwiegendsten Schwächen unserer sozialen Marktwirtschaft. Sozial ist nicht, was irgendeine Arbeit schafft, sondern sozial ist, was gute Arbeit schafft. Zu diesem Anspruch der guten Arbeit sollten sowohl Löhne gehören, von denen Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten können, als auch die Chance des beruflichen und gesellschaftlichen Aufstiegs. Ansonsten verdient unsere Marktwirtschaft den Titel soziale Marktwirtschaft nicht.

Dieser Beitrag ist am 17. Mai in der ZEIT ONLINE–Kolumne „Fratzschers Verteilungsfragen“ erschienen.

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