Blog Marcel Fratzscher vom 27. Dezember 2019
Vieles spricht für einen höheren Mindestlohn – und die negativen Effekte wie Jobabbau werden überschaubar bleiben. Dafür aber muss die Wirtschaft weiter florieren.
Dieser Beitrag ist am 27. Dezember 2019 in der ZEIT ONLINE–Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen erschienen. Hier finden Sie alle Beiträge von Marcel Fratzscher.
Die Forderung der neuen SPD-Parteivorsitzenden nach einem Mindestlohn von zwölf Euro könnte sich zu einem zentralen Streitpunkt der großen Koalition ausweiten. Es ist aber mehr als nur ein Streit auf parteipolitischer Ebene, denn kaum ein Thema betrifft so viele Menschen direkt. Mehr als zehn Millionen Deutsche verdienen weniger als zwölf Euro pro Stunde, aber auch viele mit höheren Stundenlöhnen wären indirekt betroffen. Was ist der Nutzen und was sind die Kosten eines solchen Mindestlohns? In welchem Ausmaß würde er Arbeitsplätze und Firmen zerstören, und wie viele Menschen würden von ihm profitieren? Es ist Zeit, dieses Thema nicht alleine den Parteien zu überlassen, sondern eine sachliche und unideologische Debatte anzustoßen.
Der Nutzen eines angemessenen Mindestlohns ist offensichtlich: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können bessere Einkommen erzielen, ihren Lebensstandard steigern und mehr Eigenverantwortung über ihr Leben erhalten. Er entlastet auch die Steuerzahlerinnen und -zahler, da sie nicht mehr die rund eine Million sogenannter Aufstocker mitfinanzieren müssten, die wegen der niedrigen Löhne auf zusätzliche Leistungen des Sozialstaats angewiesen sind. Auch sind niedrige Löhne (wie auch ein hoher Anteil an Teilzeit und unterbrochenen Erwerbsbiografien) einer der wichtigsten Gründe für spätere Altersarmut.
Ein Mindestlohn birgt aber auch Kosten und Risiken. Nicht jede Firma kann einen Mindestlohn bezahlen, sodass manches Unternehmen Beschäftigte entlassen muss und im Extremfall sogar gezwungen werden könnte, zu schließen. Manche Kritiker wenden zudem ein, dass ein Mindestlohn die Tarifautonomie zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern untergräbt.
Um die Auswirkungen eines Mindestlohns von zwölf Euro zu evaluieren, ist es sinnvoll, sich die Einführung des Mindestlohns 2015 von 8,50 Euro anzuschauen. Es gibt einen breiten wissenschaftlichen Konsens (Link hier), dass diese Einführung ein Erfolg war, da er zu einem deutlichen Anstieg der Löhne von mehr als vier Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geführt hat, ohne dass die Arbeitslosigkeit gestiegen wäre. Dies war aus drei Gründen möglich: Einige Beschäftigte sind in produktivere Unternehmen und Jobs gewechselt, Unternehmen konnten die höheren Löhne sehr wohl aus ihren Erträgen decken und höhere Löhne haben häufig auch die Produktivität von Beschäftigten verbessert.
Deutschland hat einen ungewöhnlich großen Niedriglohnbereich – 22 Prozent der Beschäftigten arbeiten für weniger als zwei Drittel des Medianlohns. Im Vergleich dazu sind nur drei Prozent der Schweden, fünf Prozent der Finnen oder acht Prozent der Dänen und Franzosen im Niedriglohnsektor tätig. Dafür verantwortlich ist nicht, dass Deutschland mehr unqualifizierte Beschäftigte oder unproduktive Arbeitsplätze hat. Vielmehr spielt eine Rolle, dass in anderen Ländern die Mindestlöhne höher sind, aber vor allem auch, dass kaum jemand hierzulande im Niedriglohnsektor über Tarifverträge abgesichert ist. Der Mindestlohn in Deutschland hat insgesamt dazu geführt, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen höheren Anteil des von ihnen erarbeiteten Mehrwerts im Vergleich zum Arbeitgeber erhalten.
Betont werden muss aber auch, dass zahlreiche Beschäftigte durch die Einführung des Mindestlohns ihre Arbeitgeber gewechselt haben. Sie sind von Unternehmen mit geringer zu solchen mit höherer Produktivität gewechselt. Dies mag gesamtwirtschaftlich gut sein, aber manche kleine Wäscherei oder Bäckerei in einer ländlichen Region in Brandenburg oder Niedersachsen war gezwungen, Beschäftigte zu entlassen, da sie diese nicht länger zahlen konnte. Einige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind von marginalen Beschäftigungsverhältnissen wie Minijobs in eine reguläre, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gewechselt. Andere haben dagegen ihre Arbeitsstunden reduziert, um unter der Höchstgrenze des Minijobs zu bleiben.
Eine negative Auswirkung des Mindestlohns war zudem der Anstieg von informeller Arbeit und Missbrauch. So zeigt eine Studie des DIW Berlin, dass fast zwei Millionen, also fast die Hälfte aller direkt Betroffenen, nach Einführung des Mindestlohns diesen von ihren Arbeitgebern nicht erhalten haben, sondern noch immer effektiv weniger verdienten. Kurzum, diese Evidenz mag per se kein Argument für oder gegen den Mindestlohn sein, aber man muss diese Effekte sehr wohl in der Analyse eines Mindestlohns berücksichtigen.
Wie könnte sich ein Mindestlohn von zwölf Euro auswirken? Die größte Sorge wäre, dass ein solch kräftiger Sprung die Arbeitslosigkeit signifikant erhöhen könnte. Denn mehr als zehn Millionen, also fast jede fünfte Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer in Deutschland verdient heute weniger als zwölf Euro pro Stunde. Aber wird dies passieren?
Ein internationaler Vergleich zeigt, dass ein Mindestlohn von zwölf Euro zwar hoch, aber nicht außergewöhnlich hoch ist, denn viele andere Länder wie Australien, manche nordische Länder und zum Teil die USA haben nach Kaufkraft einen noch höheren Mindestlohn. Ein zweiter Grund zum Optimismus ist, dass es in Deutschland heute noch immer fast eine Million offener Jobs gibt. Unternehmen suchen nach Beschäftigten, und zwar nicht nur nach hochqualifizierten, sondern in allen Bereichen. Die demografische Alterung, mit vielen Babyboomern, die in den kommenden zehn Jahren in Rente gehen, wird diesen Arbeitskräftemangel weiter verschärfen.
Ein Mindestlohn von zwölf Euro würde daher mit hoher Wahrscheinlichkeit Beschäftigung über Unternehmen und Sektoren hinweg verlagern – stärker noch als nach der Einführung des Mindestlohns 2015.
Zudem werden einige Unternehmen auf einen Mindestlohn von zwölf Euro mit Preissteigerungen reagieren, um die höheren Kosten an die Kundinnen und Kunden weiterzugeben. Brötchen, Taxis und die Reinigung von Autos, Kleidern und Wohnungen könnten somit teurer werden. Solange die Wirtschaft in Deutschland floriert, werden viele sich dies leisten können, sodass ein damit verbundener Beschäftigungsverlust recht begrenzt sein könnte.
Es sprechen also gute Gründe für die Einführung eines Mindestlohns von zwölf Euro. Dieser sollte jedoch mit unterschiedlichen Maßnahmen flankiert werden. Er sollte frühzeitig angekündigt werden, sodass Unternehmen sich darauf einstellen können. Die Politik darf zudem den Mindestlohn nicht als Ersatz für eine Stärkung der Sozialpartnerschaften, gerade im Niedriglohnbereich, ansehen. Denn verbindliche Tarifverträge, die auf die Eigenheiten einzelner Sektoren und Regionen eingehen können, sind meist zielgenauer als ein flächendeckender Mindestlohn.
Zudem sind niedrige Löhne häufig mit Erwerbstätigkeit von Frauen in Teilzeit verbunden. Eine Abschaffung von Fehlanreizen, wie Minijobs, und eine Stärkung des Rechts auf Rückkehr in Vollzeit sind wichtig, um Beschäftigten bessere Löhne zu ermöglichen. Auch der massive Missbrauch des Mindestlohns muss noch entschiedener durch einen personell stärker ausgestatteten Zoll bekämpft werden.
Bei aller Vorsicht und Ungewissheit kann ein Mindestlohn von zwölf Euro durchaus machbar und realistisch sein. Aber zu einer ehrlichen, sachlichen Debatte gehört es, zu betonen, dass ein solcher Mindestlohn auch seinen Preis haben wird: Er wird von vielen Beschäftigten und Firmen mehr Mobilität erfordern, in manchen Sektoren zu höheren Preisen für Konsumenten und somit wohl auch zu einem zumindest leichten Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Und hier ist dann wieder die Politik gefragt: Sie muss die Vorteile der höheren Löhne für zehn Millionen Menschen gegen diese Kosten und Risiken abwägen.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Ungleichheit