Blog Marcel Fratzscher vom 31. Januar 2020
Viele Menschen vertrauen dem Staat nicht mehr – auch in Deutschland. Sie kritisieren die Ungleichheit und haben Angst vor der Zukunft. Zeit für die Regierung, zu handeln.
Wie viel Vertrauen haben Sie in Politiker, Unternehmer und Medien? Wie viel Kompetenz haben diese und wie ethisch verhalten sie sich? Seit dem Weltwirtschaftsforum in Davos wird darüber auf der Grundlage des Vertrauensindex der Kommunikationsagentur Edelman kontrovers diskutiert. Deutschland schneidet in dem Index trotz eines vermeintlichen Wirtschaftsbooms vergleichsweise schlecht ab.
Dieser Beitrag ist am 31. Januar 2020 in der ZEIT ONLINE–Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen erschienen. Hier finden Sie alle Beiträge von Marcel Fratzscher.
Man muss Umfragen mit Vorsicht genießen. Aber vieles deutet darauf hin, dass die westliche Welt eine zunehmende Vertrauenskrise des Staats erlebt und immer weniger Menschen ihren staatlichen Institutionen zutrauen, die Probleme unserer Zeit zu lösen. Laut dem Edelman-Index ist das Vertrauen in staatliche Institutionen insgesamt erschreckend niedrig – obwohl die Menschen an sich schon Vertrauen besitzen: Personen im eigenen Umfeld und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vertrauen sie beispielsweise sehr. Politikern und Vermögenden aber vertrauen sie besonders wenig.
Erschreckend ist vor allem der große Vertrauensverlust in die Politik und das tiefe Misstrauen sowohl in die Kompetenz als auch in das ethische Verhalten der Politiker. Auch Deutschland schneidet hier schlecht ab. Wir Deutsche nehmen unsere staatlichen Institutionen im Vergleich zu anderen westlichen Ländern zwar als etwas weniger unethisch wahr, allerdings auch als weniger kompetent.
Woher kommt der Vertrauensverlust? Mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland sagt, dass sie ein Problem mit dem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem haben. Sie sehen vor allem im Kapitalismus eine Gesellschaftsform, die dysfunktional ist und die die Interessen der Mehrheit der Gesellschaft nicht vertritt. Eine andere Umfrage des Forums New Economy hat im vergangenen Jahr gezeigt, dass 87 Prozent und damit eine große Mehrheit der Deutschen die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen als zu hoch und ungerecht empfinden. Die meisten sind der Meinung, dass die Marktwirtschaft daran scheitert, einen ausreichenden sozialen Ausgleich zu schaffen.
Mehr noch: Es gibt kaum ein Land, in dem sich die Menschen größere Sorgen um ihre wirtschaftliche Zukunft machen. Nur noch 23 Prozent der Deutschen glauben, dass es ihnen und ihrer Familie in fünf Jahren besser gehen wird als heute. Dies ist weniger als die Hälfte des globalen Durchschnitts, der bei 47 Prozent liegt. Lediglich in zwei anderen Ländern waren die Menschen noch besorgter um ihre Zukunft.
Nun werden manche monieren, dass dies lediglich Umfragen sind und Menschen gern auf hohem Niveau klagen, vor allem wir Deutsche. Diese Kritiker verweisen völlig zu Recht auf die gesamtwirtschaftlich sehr gute Lage in Deutschland, mit Rekordbeschäftigung, einer niedrigen Arbeitslosenquote und ordentlichen Lohnzuwächsen auch für Geringverdienende. Sie werden auch darauf verweisen, dass es in vielen anderen Ländern in Europa deutlich schlechter läuft, nicht nur in Italien und Griechenland.
Wer sich jedoch auf der vermeintlich guten wirtschaftlichen Lage ausruht und diese Kritik als unsinnig abtut, der macht es sich zu leicht. Wer in Hamburg oder Nürnberg lebt, vergleicht sich nicht mit den Einwohnern Athens oder Bukarests. Er oder sie hat eine Erwartung an Staat und Gesellschaft, die Teil unseres Gesellschaftsvertrags der Sozialen Marktwirtschaft ist. Und diese Erwartung wird aus Sicht vieler Deutscher nicht erfüllt.
Zudem zeigt die Edelman-Umfrage auch, dass es fast nirgends auf der Welt einen größeren Unterschied im Vertrauen in den Staat gibt als in Deutschland: Die sogenannte Elite, also gut ausgebildete Menschen mit hohem Einkommen, hat in Deutschland ein um fast 50 Prozent höheres Vertrauen in den Staat und seine Institutionen als der Durchschnitt der gesamten Bevölkerung. Oder, anders ausgedrückt: Der Staat mag für die Elite funktionieren. Aber aus Sicht der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger funktioniert er eben nicht ausreichend für sie.
Und vieles spricht dafür, dass nicht der kleine Mann oder die kleine Frau eine verzerrte Wahrnehmung der Realität hat, sondern eher die Privilegierten, die zu den Gewinnern von Globalisierung und technologischem Wandel gehören. Denn kaum ein Industrieland hat eine höhere Ungleichheit bei den Vermögen und geringere Aufstiegschancen durch Bildung und Arbeit als Deutschland. Dem gegenüber steht sicherlich ein starker Sozialstaat, der eine hohe soziale Absicherung gewährleistet, aber eben nicht fehlende Chancen und Eigenverantwortung kompensieren kann.
Wir erleben fast überall in der westlichen Welt eine Vertrauenskrise in den Staat mit einem massiven Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in ihre staatlichen Institutionen. Die großen Herausforderungen unserer Zeit sind fast alle von Menschen gemacht und bleiben von staatlichen Institutionen ungelöst — vom Klimawandel über Finanzkrisen bis hin zu einer zunehmenden sozialen Polarisierung und einem rapiden technologischen Wandel. Umfragen mögen ihre Schwächen haben, aber sie enthalten meist mehr Wahrheit, als viele sich eingestehen mögen. Der Vertrauensverlust in den Staat und seine Institutionen sollte ein Weckruf für die Politik sein, dringende Reformen endlich anzustoßen und sich das Vertrauen der Menschen wieder zu erarbeiten.
Themen: Öffentliche Finanzen , Ungleichheit , Wohlbefinden