DIW Wochenbericht 38 / 2020, S. 707-711
Sophia Schmitz, Felix Weinhardt
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„Durch die Zuwanderung aus der ehemaligen DDR Anfang der 1990er Jahre hat sich die Wiedervereinigung auch auf das Arbeitsmarktverhalten und die Normen der Westdeutschen ausgewirkt.“ Felix Weinhardt
Die Wiedervereinigung brachte einschneidende wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Veränderungen für die Bevölkerung in der ehemaligen DDR mit sich. Weniger beachtet wurden bisher mögliche Einflüsse auf das Leben der Menschen in Westdeutschland. Dieser Bericht dokumentiert Veränderungen im Beschäftigungsumfang von Frauen im Westen der Bundesrepublik, die durch die Migration aus der ehemaligen DDR nach Westdeutschland Anfang der 1990er Jahre ausgelöst wurden. Erwerbstätige westdeutsche Frauen haben in Regionen mit hohem Zuzug im Durchschnitt wöchentlich eine Stunde mehr gearbeitet zwischen den Jahren 1990 und 2015 als in Regionen, in denen sich weniger Ostdeutsche niedergelassen haben. Der Zuzug von Menschen, die in der DDR sozialisiert wurden und daher eine höhere Vereinbarkeit zwischen Mutterrolle und Erwerbstätigkeit sahen, könnte die Veränderung kultureller Normen in Westdeutschland beschleunigt haben.
Die geschlechtsspezifischen Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt sind trotz zunehmender Erwerbsbeteiligung von Frauen nach wie vor enorm.Dieser Bericht fasst ausgewählte Ergebnisse der folgenden Studie zusammen: Sophia Schmitz und Felix Weinhardt (2019): Immigration and the Evolution of Local Cultural Norms. IZA Discussion Paper Nr. 12509 (online verfügbar). Die Beschäftigungsquote von Frauen liegt in Deutschland knapp sieben Prozent unter der von Männern, wobei fast die Hälfte aller Frauen in Teilzeit arbeitet.Für weitere Informationen vgl. Christoph Breunig et al. (2020): Frauen erwarten geringere Lohnsteigerungen als Männer. DIW Wochenbericht Nr. 10, 153–158 (online verfügbar). Über die letzten Dekaden hat sich die Quote erwerbstätiger Frauen in den alten Bundesländern erhöht, aufgrund zunehmender Teilzeitbeschäftigung hat sich jedoch die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von erwerbstätigen Frauen sogar reduziert.Eigene Berechnungen auf Basis des Mikrozensus. Der vorhergehende Bericht dieser AusgabeSiehe Denise Barth et al. (2020): Mütter in Ost und West: Angleichung bei Erwerbstätigenquoten und Einstellungen, nicht bei Vollzeiterwerbstätigkeit. DIW Wochenbericht Nr. 38, 699–706 (online verfügbar), erster Bericht in dieser Ausgabe. hat in diesem Zusammenhang auf die Angleichung und die bis heute bestehenden Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland verwiesen.
Über genaue Ursachen und einzelne Mechanismen der teilweisen Angleichung des Arbeitsmarktverhaltens in West- und Ostdeutschland ist bisher relativ wenig bekannt. In dem Zusammenhang fokussiert dieser Bericht auf die Veränderungen im Arbeitsmarktverhalten von Frauen im Westen der Bundesrepublik, die durch den Zuzug aus Ostdeutschland ausgelöst wurden. Dieser Fokus ist aus mindestens zwei Gründen von Interesse: Erstens wurden mögliche Einflüsse der Wiedervereinigung auf die Gesellschaft in Westdeutschland bisher nicht ausreichend betrachtet. Zweitens hat sich durch die Wiedervereinigung für Haushalte in Westdeutschland im Vergleich zu Haushalten in Ostdeutschland ansonsten relativ wenig verändert. So lassen sich Effekte der Zuwanderung isolieren und getrennt von generellen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Veränderungen untersuchen.
Die Auswirkungen des Zuzugs für den Beschäftigungsumfang erwerbstätiger Frauen in Westdeutschland werden mit Daten der Migrationsstatistik und des Mikrozensus untersucht. Hierbei ist nicht das Ziel, auf deskriptiver Ebene die generellen Anpassungen und Zeittrends der Lebensweisen in Ost- und Westdeutschland zu erklären. Stattdessen wird der kausale Effekt der Migrationsbewegung aus der ehemaligen DDR nach der Wende auf westdeutsche Frauen und Haushalte isoliert und analysiert.
In den ersten drei Jahren nach der Wiedervereinigung sind über eine Million Menschen von den neuen in die alten Bundesländer gezogen. Diese „erste Migrationswelle“ war wenig zielgerichtet, so spielen Faktoren wie die regionale Wirtschaftsstruktur oder Betreuungsquoten für Kleinkinder (unter zwei Jahren), die jeweils einen Zusammenhang mit Migration innerhalb Westdeutschlands haben, hier keine signifikante Rolle.Für Details vgl. Schmitz und Weinhardt (2019), a.a.O., Tabelle A2. Der Zuzug aus der ehemaligen DDR verteilte sich jedoch regional sehr unterschiedlich (Abbildung 1). Es zeigt sich ein Gefälle mit zunehmender Entfernung zu den neuen Bundesländern: Je weiter ein westdeutscher Kreis von der ehemaligen Grenze entfernt liegt, desto weniger Ostdeutsche ließen sich im Jahr 1991 dort nieder.
Um die Auswirkungen dieser frühen Zuwanderung aus Ostdeutschland auf das Arbeitsmarktverhalten westdeutscher Frauen in Westdeutschland zu ermitteln, werden die Raumordnungsregionen der alten Bundesländer anhand des Anteils der Zugezogenen in zwei gleich große Hälften geteilt: In der einen Gruppe sind die Regionen mit hohem Anteil, wohingegen in der anderen Gruppe Regionen mit niedrigeren Anteilen Zugezogener aus der ehemaligen DDR an der Gesamtbevölkerung enthalten sind.
Mit den Daten des Mikrozensus wird untersucht, wie sich die Anzahl der wöchentlichen Erwerbsstunden von erwerbstätigen Frauen in den alten Bundesländern zwischen diesen beiden Regionsgruppen entwickelt hat. Dabei wird lediglich der Beschäftigungsumfang derjenigen, die bereits zuvor in Westdeutschland lebten, einbezogen. Das Arbeitsmarktverhalten der Zugezogenen selbst wird nicht analysiert.
Für die Berechnung wird das sogenannte Differenz-in-Differenzen-Verfahren angewendet. Dieses statistische Verfahren rechnet systematische Unterschiede zwischen den beiden Regionsgruppen innerhalb Westdeutschlands heraus. Die ermittelten Unterschiede im Erwerbsverhalten zwischen den beiden Regionsgruppen können somit unmittelbar auf die Unterschiede in der Zuwanderung nach der Wiedervereinigung zurückgeführt werden.
Zwischen der Wiedervereinigung und dem Jahr 2015 arbeiteten westdeutsche erwerbstätige Frauen durchschnittlich eine knappe Stunde pro Woche mehr, wenn sie in einer Region mit hohem Anteil Zugezogener lebten (Tabelle). Dieses Ergebnis ist sehr robust. Wird zusätzlich für weitere persönliche Eigenschaften kontrolliert, um Frauen zwischen beiden Regionsgruppen nur dann miteinander zu vergleichen, wenn sie im gleichen Bundesland leben, das gleiche Alter, gleiche Nationalität oder eine ähnliche Bildung haben, ändert sich der geschätzte Effekt kaum.
In Stunden
Abhängige Variable: Arbeitsumfang erwebstätiger westdeutscher Frauen in den alten Bundesländern | |||
---|---|---|---|
(1) | (2) | (3) | |
Effekt von viel Zuwanderung aus der ehemaligen DDR | 0,919 | 0,984 | 0,865 |
(0,282) | (0,357) | (0,300) | |
Kontrollvariablen: | |||
Bundesland-Jahr-spezifische Entwicklungen | ja | ja | |
Individuelle Charakteristika | ja |
Anmerkungen: Geschätzt wird der Effekt von hoher (versus niedriger) Zuwanderung aus der ehemaligen DDR unmittelbar nach der Wende auf den durchschnittlichen Arbeitsumfang erwerbstätiger westdeutscher Frauen in den alten Bundesländern bis 2015. In der zweiten Spalte wird zusätzlich für bundeslandspezifische Effekte kontrolliert. In der dritten Spalte wird zusätzlich für individuelle Charakteristika der westdeutschen Frauen kontrolliert, wir Alter, Nationalität und höchster Bildungsabschluss. Standardfehler in Klammern. Alle Effekte sind auf dem Ein-Prozent-Niveau statistisch signifikant.
Quellen: Eigene Berechnungen auf Grundlage von Migrationsstatistiken und Mikrozensus 1982 bis 2015.
Eine detailliertere Analyse im Zeitverlauf seit dem Jahr 1990 zeigt, dass sich die Effekte des Zuzugs auf den Beschäftigungsumfang insbesondere ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre manifestiert haben. Westdeutsche Frauen erhöhten in Regionen mit viel Zuzug nach der Wiedervereinigung sukzessive die Arbeitsstunden im Vergleich zu Frauen in den anderen westdeutschen Regionen. Sie arbeiteten ab Mitte der 2000er Jahre durchschnittlich sogar bis zu 1,5 Stunden pro Woche länger, verglichen mit westdeutschen Frauen in Regionen mit weniger Zuwanderung nach der Wende (Abbildung 2).
Mögliche Ursachen dieser Effekte könnten wirtschaftliche Unterschiede in den westdeutschen Regionen sein, die durch den Zuzug aus den neuen Bundesländern entstanden sind. Man könnte vermuten, dass Regionen durch die Zuwanderung wirtschaftlich profitiert haben, so dass die Arbeitsnachfrage stieg und die Frauenerwerbstätigkeit überdurchschnittlich angestiegen ist.
Um diesen Zusammenhang zu untersuchen, werden die Effekte der Migration auch innerhalb von Haushalten berechnet. Es zeigt sich, dass erwerbstätige westdeutsche Frauen auch im Vergleich zu ihren Partnern mehr arbeiteten, wenn sie in Regionen mit hohem Zuzug wohnten. Regionale wirtschaftliche Veränderungen sollten den Erwerbsumfang von Männer jedoch vermutlich ebenso wie den von Frauen betreffen. Da in der Analyse für Effekte auf Bundeslandebene kontrolliert wird, können zudem bundeslandspezifische wirtschaftliche Veränderungen als Wirkmechanismen ausgeschlossen werden. Es erscheint daher wenig plausibel, dass regionale wirtschaftliche Mechanismen gänzlich für die Erhöhung des Beschäftigungsumfangs verantwortlich sind.
Eine weitere Möglichkeit ist, dass erwerbstätige westdeutsche Frauen ihre Einstellungen in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verändert haben und ihr Arbeitsmarktverhalten daher dem der zugezogenen Frauen aus den neuen Bundesländern angepasst haben. Solch ein Prozess wird als „horizontales kulturelles Lernen“Vgl. Alessandra Fogli und Laura Veldkamp (2011): Nature or Nurture? Learning and the Geography of Female Labor Force Participation. Econometrica 79 (4), 1103-1138. bezeichnet. Normen, wie etwa die Vorstellungen zur Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit, verändern sich, wenn sich anders denkende und handelnde Menschen der gleichen Generation im Umfeld aufhalten.
Die Einstellungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf waren unmittelbar nach der Wende sehr unterschiedlich zwischen in West- und Ostdeutschland sozialisierten Männern und Frauen:Siehe auch Abbildung 3 in Barth et al. (2020), a.a.O., in dieser Ausgabe. So glaubten beispielsweise 90 Prozent der Ostdeutschen, dass eine arbeitende Mutter ebenfalls eine so herzliche und vertrauensvolle Beziehung zu ihren Kindern haben könne wie eine nicht erwerbstätige Mutter. Im Westen stimmten hingegen knapp ein Viertel der Bevölkerung dieser Aussage nicht zu. Darüber hinaus glaubten 60 Prozent der Ostdeutschen, dass es sogar gut für Kind und Familie sei, wenn die Mutter erwerbstätig ist, anstatt lediglich im Haushalt beschäftigt zu sein. In Westdeutschland teilten lediglich ein Drittel der Befragten diese Ansicht.Allbus Daten für das Jahr 1991, eigene Berechnungen. Weitere Details dazu, vgl. Schmitz und Weinhardt (2019), a.a.O, Abbildung 2.
Es wurde gezeigt, dass westdeutsche Haushalte ab dem Jahr 2000 weniger konservative Geschlechternormen hatten, wenn sie in einer Region mit viel Zuzug aus dem Osten lebten, im Vergleich zu entsprechenden westdeutschen Haushalten in Regionen mit weniger Zuzug.Vgl. Schmitz und Weinhardt (2019), a.a.O., Tabelle 5.
Der Mechanismus des kulturellen Lernens ist darüber hinaus auch konsistent mit dem gezeigten Zeitverlauf der Beschäftigungseffekte (Abbildung 2). Die Übernahme der Normen benötigt Zeit und wirkt daher erst verzögert auf das Arbeitsmarktverhalten.
Dieser Bericht untersucht den Einfluss der frühen Zuwanderung aus den neuen Bundesländern auf die Erwerbstätigkeit von Frauen und Haushalten, die in den alten Bundesländern sozialisiert wurden. Erwerbstätige westdeutsche Frauen, die einem relativ hohen Zuzug in ihrer Region ausgesetzt waren, haben ihre Arbeitszeit im Vergleich zu den Frauen, die eine niedrigere Zuwanderung im Umfeld erlebt haben, erhöht. Als zentrales Ergebnis lässt sich somit festhalten, dass westdeutsche Frauen in Westdeutschland ohne den Zuzug nach der Wende bis zum Jahr 2015 durchschnittlich weniger gearbeitet hätten.Dieser positive Effekt ist nicht stark genug, um den zu Beginn des Berichts erwähnten Rückgang der durchschnittlichen Arbeitszeit im Zeitverlauf bei westdeutschen Frauen insgesamt umzukehren. Für den Gesamttrend der Arbeitszeit von Frauen in Westdeutschland spielen weitere Faktoren eine Rolle. Ohne den hier dokumentierten positiven kausalen Effekt des Zuzugs aus Ostdeutschland wäre der Gesamttrend noch stärker negativ.
Die Ergebnisse legen zudem nahe, dass westdeutsche Frauen durch den Migrationsstrom aus Ostdeutschland mit anderen kulturellen Normen konfrontiert wurden und so ihre Einstellungen in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verändert haben. Dementsprechend zeigt sich, dass Anpassungen im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands nicht nur auf die Bevölkerung der ehemaligen DDR beschränkt sind, sondern auch Verhaltensweisen und Normen in Westdeutschland beeinflusst haben.
Die Ergebnisse dieses Berichts stehen im Einklang damit, dass soziale und kulturelle Normen Einflussfaktoren für das Verhalten am Arbeitsmarkt sein können. Durch politische und gesellschaftliche Veränderungen werden diese Normen unter Umständen beeinflusst, was Verhaltensanpassungen nach sich ziehen kann. Oft wird davon ausgegangen, dass sich gesellschaftliche Normen nur sehr langsam im Zeitverlauf verändern und beispielsweise durch das Verhalten der eigenen Eltern geprägt werden. Die Ergebnisse dieses Berichts bedeuten jedoch auch, dass gesellschaftliche Normen über einen relativ kurzen Zeitraum beeinflusst werden können. Auch bei kleineren Reformen und allgemeinen politischen Entscheidungen sollte daher der Einfluss von und auf gesellschaftliche Normen mitgedacht werden.
Themen: Migration, Gender, Familie, Arbeit und Beschäftigung
JEL-Classification: J16;J21;D1
Keywords: labor supply, migration, gender norm
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2020-38-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/226738