DIW aktuell ; 62, 6 S.
Marius Clemens, Geraldine Dany-Knedlik, Simon Junker, Claus Michelsen, Werner Röger
2021
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10. Mai 2021 – Die vorübergehende Mehrwertsteuersenkung in der zweiten Jahreshälfte 2020 hat die Wirtschaftsleistung in Deutschland um 0,5 Prozent erhöht. Das zeigen Modellsimulationen am DIW Berlin. Der Effekt auf das Bruttoinlandsprodukt hätte sogar bei rund einem Prozent liegen können – wenn die Mehrwertsteuersenkung vollständig an die VerbraucherInnen weitergegeben worden wäre. Dennoch hat sie ihr Ziel, kurzfristig den Konsum zu stabilisieren, erreicht. Insbesondere die Nachfrage nach Gebrauchsgütern wie Elektrogeräte, Möbel, Fahrräder und Autos profitierte. Der Wermutstropfen dabei: In vielen Fällen handelte es sich um vorgezogene und nicht um zusätzliche Käufe – entsprechend geringer ist die Nachfrage insbesondere in diesem Jahr. Unter dem Strich dürfte sich die Mehrwertsteuersenkung daher nicht selbst finanziert haben. Es ist deshalb ratsam, parallel zum Konsum auch gezielt private Investitionen zu stimulieren.
Um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie zu bekämpfen, beschloss die Bundesregierung im vergangenen Jahr unter anderem eine Senkung der Mehrwertsteuer von 19 auf 16 Prozent (beziehungsweise im Fall des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes, der beispielsweise für Lebensmittel gilt, von sieben auf fünf Prozent).Zudem wurde im Juni 2020 im Gastronomiebereich ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf Speisen bis Juni 2021 beschlossen, der im Zuge des zweiten Lockdowns um ein Jahr bis Juni 2022 verlängert wurde. Siehe auch Stefan Bach und Claus Michelsen (2020): Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Zweites Corona-Steuerhilfegesetz (online verfügbar) und Marius Clemens (2021): Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Drittes Corona-Steuerhilfegesetz (online verfügbar). Die Maßnahme war von vornherein auf die zweite Jahreshälfte 2020 befristet. Die Steuermindereinnahmen dürften bei 20 Milliarden Euro gelegen haben, wobei auch der Staat bei seiner Beschaffung in nicht unwesentlichem Maße profitierte.Rund vier Milliarden Euro dürften die Gebietskörperschaften bei ihrer staatlichen Nachfrage einsparen, vgl. Bach und Michelsen (2020), a.a.O.
Obwohl andere Länder durchaus positive Erfahrungen mit der temporären Mehrwertsteuersenkung gemacht hatten,Siehe unter anderem Thomas Crossley, Hamish Low und Cath Sleeman (2014): Using a Temporary Indirect Tax Cut as a Fiscal Stimulus: Evidence from the UK. IFS Working Papers W14/16, Institute for Fiscal Studies. wurde sie in Deutschland recht kontrovers diskutiert. „Nicht zielgerichtet“, „ineffektiv während eines Lockdowns“ und „zu teuer aufgrund der nicht vollständigen Weitergabe“ waren die Hauptgegenargumente. Allerdings gab es auch Argumente für die temporäre Mehrwertsteuerreduktion: So kann durch bestimmte Übertragungseffekte während eines Lockdowns auch die Nachfrage nach Produkten beeinträchtigt werden, deren Hersteller vom Lockdown eigentlich nicht direkt betroffen sind.Vgl. Veronica Guerrieri et al. (2020): Macroeconomic Implications of COVID-19: Can Negative Supply Shocks Cause Demand Shortages? NBER Working Papers 26918, National Bureau of Economic Research. In solchen nicht direkt betroffenen Sektoren, etwa der Elektronik- oder der Fahrzeugbranche, kann die Nachfrage mithilfe einer Mehrwertsteuersenkung stabilisiert werden. Darüber hinaus ist diese ein potenziell sehr effektiver Stabilisator, wenn die Notenbank an der Nullzinsgrenze operiert – was die Europäische Zentralbank schon seit längerem tut.Vgl. Isabel Correia et al. (2013): Unconventional Fiscal Policy at the Zero Bound. American Economic Review 103(4), 1172–1211. Die Stabilisierungsfunktion wird noch einmal verstärkt, wenn die im Zuge der Corona-Krise getroffenen Eindämmungsmaßnahmen zu sinkenden Preisen führen und folglich – in Erwartung weiterer Preisrückgänge – die Nachfrage nach langlebigen Gebrauchsgütern wie Möbel oder Autos einbricht.
Zunächst ein Blick auf die Entwicklung einzelner Konsumgütergruppen seit dem vierten Quartal 2019 (Abbildung 1): Dabei wird zwischen Verbrauchsgütern, kurz- und langlebigen GebrauchsgüternKurz- und langlebige Gebrauchsgüter umfassen Möbel und Einrichtungsgegenstände, Haushaltsgeräte (inklusive Küchenequipment) Personentransportmittel (zum Beispiel Fahrräder), Freizeit- und Unterhaltungsgüter (inklusive Computer und Kommunikationsgeräte), aber auch Schmuckwaren, Armbanduhren und Uhren sowie therapeutische und medizinisches Geräte. Für eine detaillierte Einordnung vgl. André Casalis und Georgi Krustev (2020): Consumption of Durable Goods in the Euro Area. Economic Bulletin der Europäischen Zentralbank, Vol. 5. sowie Dienstleistungen unterschieden. Es zeigt sich, dass die Nachfrage nach Gebrauchsgütern ähnlich zurückging wie die Nachfrage nach Dienstleistungen, die vom Lockdown direkt betroffen waren. Insbesondere die Nachfrage nach langlebigen Gütern hat sich stark, um fast 15 Prozent verglichen mit dem vierten Quartal 2019, verringert. Die Gebrauchsgüter insgesamt sanken um 14 Prozent. Die Nachfrage nach Verbrauchsgütern, beispielsweise Lebensmittel, blieb nahezu konstant. Dienstleistungen, zu denen auch Hotelübernachtungen und Restaurantbesuche gehören, waren mit minus 17 Prozent am stärksten betroffen. Vergleicht man Gebrauchsgüter („Durables“) mit Verbrauchsgütern inklusive der Dienstleistungen („Non-Durables“), sind erstere sogar etwas stärker zurückgegangen, obwohl die Nachfrage nicht in dem Maße direkt von den Schließungsmaßnahmen betroffen war.
Im dritten Quartal zeigt sich bei allen Konsumkomponenten der starke Aufholprozess infolge der wirtschaftlichen Lockerungen nach der ersten Corona-Welle. Der relativ starke Anstieg der Gebrauchs- im Vergleich zu den Verbrauchsgütern und Dienstleistungen kann auf mehrere Aspekte zurückgeführt werden: Erstens führte die wirtschaftliche Lockerung fast automatisch zu einer starken Erholung, da zuvor mangels Konsummöglichkeiten gebildete Ersparnisse ausgegeben wurden.Ein weiterer Aspekt ist die während eines Lockdowns erhöhte Unsicherheit, die nach dessen Ende wieder sinkt. Zweitens waren Dienstleistungen zum Teil weiterhin von den Lockdown-Maßnahmen betroffen, während die Nachfrage nach Gebrauchsgütern keinen wesentlichen Einschränkungen mehr unterlag. Drittens haben die Maßnahmen des Konjunkturprogramms den Aufholprozess unterstützt. Insbesondere die Mehrwertsteuersenkung könnte diesen durch vorgezogene Käufe beschleunigt haben. Im vierten Quartal sank die Nachfrage nach Gebrauchs- und Verbrauchsgütern infolge des wiederaufflammenden Infektionsgeschehens und der neuerlichen wirtschaftlichen Einschränkungen wieder.
Abbildung 1: Nachfrage in einzelnen Konsumgütergruppen
Veränderung gegenüber dem jeweiligen Vorquartal in Prozent
Quellen: Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen.
© DIW Berlin 2021
Welchen Anteil hatte die Mehrwertsteuersenkung an dieser Entwicklung, vor allem am Aufhol- und Erholungsprozess im dritten und vierten Quartal? Dieser Frage wird im Folgenden auf Basis eines dynamischen stochastischen Gleichgewichtsmodells (DSGE) nachgegangen.Dieses DIW aktuell basiert auf Marius Clemens und Werner Röger (2021): Temporary VAT Reduction during the Lockdown. DIW Discussion Paper, Nr. 1944 (online verfügbar). Die detaillierten Modellbeschreibungen sind dort nachzulesen. Das DSGE-Modell ist auf die deutsche Wirtschaft kalibriert und berücksichtigt sowohl die unterschiedlichen Konsumgütergruppen als auch die spezifische Lockdown-Situation in Deutschland sowie die aktuelle Geldpolitik an der Nullzinsgrenze. Das Modell enthält die wesentlichen in der Fachliteratur diskutierten Kanäle, über die eine Mehrwertsteuersenkung wirkt, beispielsweise Einkommenseffekte, oder über die sie abgeschwächt wird, etwa indem die Händler sie nicht vollständig weitergeben. Zudem berücksichtigt das Modell alternative Erklärungen für die beobachtete Entwicklung der Konsumgüternachfrage, etwa staatliche Transfers wie den Kinderbonus oder das Kurzarbeitergeld sowie die gestiegene Sparquote.Damit greift das Modell in deutlich detaillierterem Maße Wirkungskanäle der Mehrwertsteuersenkung auf als in einer Wirkungsanalyse des gesamten deutschen Konjunkturprogramms. Siehe Marius Clemens, Claus Michelsen und Simon Junker (2020): Konjunkturelle Effekte der finanzpolitischen Maßnahmen des Konjunkturprogramms. DIW Politikberatung kompakt Nr. 156 (online verfügbar). In dieser ersten Schätzung wurde der Effekt der Mehrwertsteuersenkung auf einen BIP-Effekt von 0,3 und einem Konsumeffekt von 0,6 Prozent im ersten Jahr geschätzt, ähnlich zu den Ergebnissen bisheriger Umfrageanalysen. Eine Analyse des ifo Instituts hat auf Grundlage von Umfragen einen Konsumeffekt in Höhe von 0,6 Prozent im Jahr 2020 ermittelt. Siehe unter anderem Clemens Fuest, Florian Neumeier und Andreas Peichl (2021): Hat die Mehrwertsteuersenkung den Konsum belebt? ifo Schnelldienst digital, Nr.1; und IMK (2021): Wirkung des Konjunkturpakets 2020: Spürbarer Impuls vom Kinderbonus, wenig Wumms durch Mehrwertsteuersenkung? IMK Policy Brief Nr. 101. Anders als die bisherigen Studien basiert dieses DIW aktuell auf Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Zudem wird der Einkommenseffekt berücksichtigt, genauso wie ein voll umfänglicher Vorzieheffekt bei langfristigen Gebrauchsgütern. Das heißt beispielsweise auch, dass Haushalte bei ihrer ursprünglich geplanten, pandemiebedingt also nur vorrübergehend ins nächste Jahr verschobenen, Konsumnachfrage bleiben, was in einer Umfrage wohl nur schwer abfragbar ist. Das Modell simuliert zwei Szenarien: eines mit und eines ohne Mehrwertsteuersenkung. Durch diese kontrafaktische Analyse soll der Effekt der Mehrwertsteuersenkung auf das Bruttoinlandsprodukt isoliert werden.
Mithilfe des Modells werden drei sogenannte Schocks simuliert, also unerwartete Ereignisse. Dies sind der Lockdown im zweiten Quartal 2020, die temporäre Mehrwertsteuersenkung im dritten und vierten Quartal sowie ein neuerlicher Lockdown im vierten Quartal 2020, der bis in das zweite Quartal 2021 andauert.Es wird angenommen, dass alle Schocks unerwartet sind. Sowohl der erste Lockdown als auch das Konjunkturprogramm der Bundesregierung kündigten sich nur wenige Wochen vor dem jeweiligen im Modell unterstellten Quartal an. Lediglich der zweite Lockdown könnte zumindest aus epidemiologischer Sicht bereits im zweiten Quartal vorhersehbar und damit deterministisch gewesen sein. Allerdings enthielten die offiziellen Prognosen der Regierungen, Zentralbanken und internationalen Organisationen die zweite Corona-Welle nicht in ihrer Baseline-Prognose, sondern lediglich als Risikoszenario. Die beiden Lockdown-Schocks sind nicht identisch. So war zum einen die Mobilität im zweiten Lockdown um rund 25 Prozent höher als im ersten. Zum anderen war auch die Industrie nicht in dem Maße betroffen wie im ersten Lockdown. Die Ergebnisse der Simulation mit Mehrwertsteuersenkung werden mit denen einer Simulation ohne temporäre Mehrwertsteuersenkung verglichen.
Zunächst kann festgehalten werden, dass die Simulation der drei Schocks die empirisch beobachtete Entwicklung aller Variablen recht gut beschreiben kann. Die Simulationen bestätigen zudem die Ergebnisse einer Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes, der zufolge die Mehrwertsteuersenkung zu einem großen Teil die Nachfrage nach langlebigen Gütern stimuliert hat.Siehe Statistisches Bundesamt (2021): Pressemitteilung Nr. 114 vom 11. März 2021 (online verfügbar). Diese Sonderauswertung zeigt auch, dass ein Fünftel bis zu einem Viertel aller privaten Haushalte im dritten und vierten Quartal 2020 infolge der Mehrwertsteuersenkung zusätzlich konsumiert oder Konsum vorgezogen haben.
Abbildung 2: Entwicklung der Konsumgüternachfrage und weiterer wirtschaftlicher Größen mit und ohne
Mehrwertsteuersenkung
Veränderung gegenüber dem langfristigen Trend in Prozent bzw. Prozentpunkten
Anmerkung: Die hellblaue Fläche stellt die Spannbreite für die empirisch geschätzte prozentuale Abweichung des tatsächlich beobachteten Wertes und dessen Trends dar. Sie berücksichtigt die Unsicherheit bei der Trendschätzung.
Quellen: Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen.
© DIW Berlin 2021
Die Modellsimulationen zeigen, dass die Mehrwertsteuersenkung ihren größten Effekt im vierten Quartal 2020 entfacht hat, trotz des zweiten Lockdowns. In Summe dürfte die Mehrwertsteuersenkung das reale Bruttoinlandsprodukt um 0,5 Prozent und damit recht kräftig erhöht haben. Daraus ergibt sich ein kurzfristiger Multiplikator der Mehrwertsteuersenkung in Höhe von gut eins. Anders ausgedrückt: Für jeden in Form der Steuersenkung eingesetzten Euro gab es aus volkswirtschaftlicher Sicht diesen Euro mehr oder weniger auch wieder zurück. Mittelfristig dürfte der Effekt hingegen gering sein: So steigt das reale Bruttoinlandsprodukt insgesamt um knapp 0,2 Prozent, der kumulative Multiplikator liegt dementsprechend bei 0,3 Euro pro eingesetztem Euro – unter anderem, weil durch vorgezogene Käufe die zukünftige Konsumnachfrage gedämpft wurde. Insgesamt bleibt damit langfristig dennoch ein positiver Konsumeffekt durch die Mehrwertsteuersenkung bestehen. Die Effektivität der Mehrwertsteuersenkung – auch das ergeben die Modellsimulationen – sank dadurch, dass sie nur in etwa zur Hälfte an die VerbraucherInnen weitergegeben wurde. Bei voller Weitergabe hätte die Mehrwertsteuersenkung die Wirtschaftsleistung sogar um rund ein Prozent erhöht. Der Multiplikator wäre dann knapp zwei gewesen. Die kurzfristig recht hohe Effektivität der Mehrwertsteuersenkung ist auf den Effekt bei den Gebrauchsgütern, beispielsweise Elektrogeräte, Möbel, Fahrräder und Autos, zurückzuführen. Die Nachfrage nach diesen Gütern war den Modellsimulationen zufolge um rund zwölf Prozentpunkte höher als ohne die Mehrwertsteuersenkung, die Nachfrage nach Verbrauchsgütern und Dienstleistungen hingegen nur um zwei Prozentpunkte.
Die Mehrwertsteuersenkung in der zweiten Jahreshälfte 2020 war durchaus effektiv. Den Modellschätzungen zufolge erhöhte sie den privaten Konsum um rund ein Prozent und das Bruttoinlandsprodukt um gut 0,5 Prozent. Der kurzfristige Multiplikator für das Jahr 2020 ist eins, wobei der vertrauensschaffende Effekt, der durch derartige Maßnahmen in einer Situation großer Unsicherheit entsteht, noch hinzu kommen kann, im Modell aber nicht eindeutig quantifizierbar ist. Dadurch hat die Maßnahme das Ziel der kurzfristigen Konsumstabilisierung erfüllt.
Aus finanzpolitischer Perspektive fällt die Gesamtbilanz der Mehrwertsteuersenkung jedoch nicht so positiv aus. Zum einen ist sie recht kostenintensiv und zum anderen werden die positiven Effekte in den Folgejahren mit dann wieder höheren Preisen zumindest teilweise kompensiert. Da mindestens einige Käufe nur vorgezogen und nicht zusätzlich getätigt wurden, sinkt die reale Nachfrage vorübergehend. Unter dem Strich dürfte sich die Mehrwertsteuersenkung nicht selbst finanziert haben, da sie in erster Linie den kurzfristigen Konsum gestützt hat. Daher ist es sinnvoll, begleitend auch die privaten Investitionen über Zuschüsse, Änderungen des Investitionssteuergesetzes oder zusätzliche öffentliche Investitionen anzuregen.Siehe dazu auch Heike Belitz et al. (2020): Öffentliche Investitionen als Triebkraft privatwirtschaftlicher Investitionstätigkeit. DIW Politikberatung kompakt Nr. 158 (online verfügbar).
Themen: Wettbewerb und Regulierung, Steuern, Märkte, Konjunktur, Gesundheit
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/235915