Medienbeitrag vom 2. Juli 2021
Pflege ist für viele Familien weder zu stemmen noch zu bezahlen. Es braucht einen rechtlichen Rahmen für die häusliche 24-Stunden-Pflege und Ideen für ihre Finanzierung.
Dieser Gastbeitrag erschien am 2. Juli 2021 auf Zeit Online.
Auch in der häuslichen 24-Stunden-Pflege muss der Mindestlohn bezahlt werden – das hat kürzlich das Bundesarbeitsgericht (BAG) geurteilt. Das Urteil ist ein Paukenschlag in der anhaltenden Diskussion über eine bezahlbare Pflege, denn es trifft vor allem viele Pflegebedürftige finanziell, die zu Hause ambulant versorgt werden. Die Ökonomen Peter Haan und Julia Schmieder vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) fordern in ihrem Gastbeitrag von der Politik einen klaren Kurs statt eines Verweisens auf Gerichtsurteile, mit denen die Pflegebedürftigen und ihre Angehörige am Ende allein gelassen werden.
Das deutsche Pflegesystem steht wieder einmal im Fokus. Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts sorgt für Aufsehen, schürt Befürchtungen auf der einen Seite und Hoffnungen auf der anderen Seite. Und setzt die Politik unter Zugzwang. Es ist ein Vorgeschmack auf die kommenden Jahre und Jahrzehnte, in denen sich immer weniger junge Menschen um immer mehr ältere Menschen kümmern beziehungsweise entsprechende Hilfe organisieren müssen, in einem finanziell vertretbaren Rahmen. In Deutschland gibt es derzeit etwa 4,1 Millionen Menschen, die Leistungen der Pflegeversicherung erhalten. Etwa drei von vier pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause betreut, ein Großteil davon informell. Diese informelle Pflege wird zum großen Teil von Familienangehörigen geleistet – meist von Frauen, die dafür beruflich kürzertreten müssen, mit entsprechenden finanziellen Konsequenzen auch für ihre Rente.
Eine mögliche Alternative zur Pflege durch Familienangehörige sind ausländische Pflegekräfte, so genannte Live-ins, wie Agenturen diese Beschäftigten nennen. Sie leben bei den zu Pflegenden zu Hause und stehen ihnen damit häufig 24 Stunden am Tag zur Verfügung. Allerdings fehlen immer noch gesetzliche Regelungen, um die Dienstleistung der Live-in-Pflege arbeitsrechtlich einwandfrei zu gestalten. Die Strukturen sind daher sehr unübersichtlich. Das zeigt sich auch an den Zahlen: Es gibt keine belastbaren Statistiken über die Anzahl an Pflegebedürftigen, die informell Pflegende aus dem Ausland beschäftigen. Schätzungen gehen von 160.000 bis 210.000 Personen aus. Es werden aber auch Zahlen von bis zu 300.000 Personen genannt, die in diesem grauen Pflegemarkt tätig sind.
Viele der ausländischen Pflegekräfte sind als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei ausländischen Agenturen angestellt, die sich vertraglich gegenüber den Haushalten in Deutschland zur Übernahme der Pflegetätigkeit verpflichten. Die Pflegenden haben Anspruch auf den nationalen Mindestlohn, allerdings wird vertraglich oft eine Arbeitszeit von 40 Stunden oder weniger pro Woche vereinbart. Die Bereitschaftszeit wird also zumeist nicht berücksichtigt. Angesichts der Tatsache, dass Pflege oft rund um die Uhr erfolgen muss, oder zumindest Bereitschaft zur Hilfe erforderlich ist, ist diese Regel nicht nachvollziehbar und wurde bereits in der Vergangenheit von vielen Seiten moniert. Daher ist das Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das nun auch die Bezahlung der Bereitschaftszeit einfordert, keine große Überraschung.
Für viele Pflegebedürftige und Angehörige wird dieses Urteil jedoch merkliche Konsequenzen haben. Die finanzielle Belastung wird deutlich steigen und für viele nicht mehr zu stemmen sein. Das bedeutet, dass neue Lösungen gefunden werden müssen. Die psychische Belastung und sozialen Kosten sind nur schwer abzuschätzen – aber sie werden hoch sein: Vertrauen, persönliche Bindung und Verlässlichkeit sind ohne Zweifel die Voraussetzung für gute informelle Pflege.
Die Untätigkeit der Regierung, die Einhaltung der Arbeitszeiten und des Mindestlohns stärker zu kontrollieren, hat für viele Haushalte in Deutschland diese Form der Pflege überhaupt erst bezahlbar gemacht, allerdings auf Kosten der Pflegenden – und nun auch auf Kosten der Pflegebedürftigen, die sich in der schwierigen Lebenssituation umstellen müssen.
Das Urteil betrifft allerdings nicht alle in Privathaushalten tätigen ausländischen Pflegekräfte, zumindest nicht direkt. Einige von ihnen sind als selbständige Auftragnehmerinnen und Arbeitnehmer tätig; die Haushalte treten als Auftraggeber auf. Vorschriften des deutschen Arbeits- und Sozialrechts werden damit teilweise umgangen und Mindestlohnregelungen finden keine Anwendung. Jedoch gibt es auch hier rechtliche Probleme: Da die Pflegekräfte ihre Tätigkeit nicht autonom gestalten können, besteht die Gefahr der Scheinselbständigkeit. Daneben gibt es auch noch illegal Beschäftigte, die vermutlich die Mehrheit der ausländischen Pflegekräfte in Privathaushalten ausmachen. In der Regel sind sie ohne Beachtung rechtlicher Standards beschäftigt.
Nach dem Urteil ist davon auszugehen, dass die Pflege durch selbständige und illegal beschäftigte Pflegerinnen aus dem Ausland deutlich zunehmen wird. Wahrscheinlich aber wieder nur bis zum nächsten Urteil. Diesmal sollte die Regierung den Gerichten vorgreifen und endlich selber handeln.
Als eine Lösung wird oft das Beispiel Österreich genannt: Hier wurde 2007, also vor knapp 15 Jahren, ein rechtlicher Rahmen für die Rund-um-die-Uhr-Betreuung von Pflegebedürftigen zu Hause geschaffen. Weiterhin wurde eine finanzielle Unterstützung für Pflegebedürftige, die diese Leistungen in Anspruch nehmen, eingeführt. Nach der Reform ist die Anzahl ausländischer Live-in-Pflegekräfte deutlich gestiegen. Eine wissenschaftliche Studie zeigt auch, dass die Reform in Österreich und die damit verbundene bessere Verfügbarkeit von Live-in-Pflegekräften die Erwerbsbeteiligung von Personen mit pflegebedürftigen Angehörigen deutlich steigern konnte. Allerdings wurde und wird die Situation in Österreich auch kritisch gesehen: In Bezug auf die Arbeitsbedingungen und Bezahlung der Pflegekräfte gibt es nur wenig gesetzliche Vorgaben. Auch sind die qualitativen Anforderungen für die Rund-um-die-Uhr-Betreuung niedrig und es gibt keine regelmäßigen Qualitätskontrollen.
Die Regierung wird also kaum darum herumkommen, mehr Geld in die privat bereitgestellte Pflege zu stecken, um so die Pflegebedürftigen und die Angehörigen zu unterstützen, selbst wenn sie dem Beispiel Österreichs folgt – sei es über Steuerzuschüsse oder über höhere Sozialversicherungsbeiträge. Wichtig ist aber vor allem, dass die Regierung endlich klare Regeln für die Live-in-Pflege umsetzt. Unsicherheit und die Sorge vor Umstellungen sind für alle, die auf Pflege angewiesen sind, eine große Belastung – unabhängig von der finanziellen Last.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Gesundheit