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Ist ein Mindestlohn von zwölf Euro sinnvoll?

Blog Marcel Fratzscher vom 3. September 2021

Die Einführung des Mindestlohns hat Deutschland nicht geschadet – im Gegenteil. Einen deutlich positiven Effekt könnte auch dessen Erhöhung auf zwölf Euro haben.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 3. September 2021 bei Zeit Online als Teil der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Ist ein Mindestlohn von zwölf Euro sinnvoll? Über diese Frage, die Millionen von Menschen in Deutschland ein höheres Einkommen bescheren könnte, streiten im Wahlkampf die politischen Parteien. Die einen sehen in einem deutlichen Anstieg des gegenwärtigen Mindestlohns von 9,60 Euro einen Akt der sozialen Gerechtigkeit, die anderen einen unberechtigten Eingriff in die Tarifautonomie und befürchten Arbeitsplatzverluste. Aber eine neue wissenschaftliche Studie von Ökonominnen und Ökonomen des University College London kommt zu einer erstaunlich klaren Antwort in dieser Frage: Der Mindestlohn zahlt sich aus – ohne ihn würde die Einkommensschere noch weiter aufgehen.

Dabei waren die Aufregung und der Widerstand in Deutschland groß, als sich die große Koalition nach den Bundestagswahlen im Jahr 2013 auf die Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde ab 2015 festlegte. Die Gewerkschaften waren anfänglich nicht begeistert, sie befürchteten einen Eingriff in ihren Einflussbereich, stimmten dann jedoch zu. Zahlreiche deutsche Ökonomen und Ökonominnen warnten ebenso wie die Unternehmen vor einer rückwärtsgewandten Wirtschaftspolitik und prognostizierten gar einen Verlust von bis zu einer Million Arbeitsplätze durch den Mindestlohn.

Höhere Löhne, sinkende Ungleichheit, bessere Jobs

Doch der Mindestlohn kam – und war ein großer Erfolg. Vor allem für die Beschäftigten, aber auch für die Beschäftigung. Was sich nach der Einführung schnell abzeichnete, belegt nun die eingangs genannte und renommierte Studie nochmals wissenschaftlich. Die Untersuchung zeigt, dass der Mindestlohn die Löhne von mehr als fünf Millionen Beschäftigten (oder 15 Prozent aller Beschäftigten) zum Teil erheblich erhöhte – und damit auch deren Einkommen und Lebensstandard. Die Einführung des Mindestlohns stabilisierte und reduzierte sogar die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen in Deutschland. Ohne den Mindestlohn wäre die Einkommensschere wohl noch weiter aufgegangen.

Gut für strukturschwache Regionen

Die Studie zeigt auch, dass der Mindestlohn netto keine Arbeitsplätze vernichtet hat. Das wichtigste Resultat aber ist, dass die Einführung des Mindestlohns zu einer Reallokation von Arbeitsplätzen von schlechter zu besser zahlenden Unternehmen und zu produktiveren Firmen geführt hat. Und dieser Reallokationseffekt fiel in strukturschwächeren Regionen sogar stärker aus. Wenn es gerade in wirtschaftlich schwächeren Regionen eine deutliche Verlagerung von Arbeitsplätzen hin zu produktiveren Unternehmen gibt, kann dies für diese Regionen hilfreich sein, um im Wettbewerb mit anderen Regionen attraktiver für Beschäftigte und Unternehmen zu werden.

Fünf gute Gründe für zwölf Euro

So weit, so gut. Nach einer schrittweisen Erhöhung des Mindestlohns auf mittlerweile 9,60 Euro (und bis Juli 2022 auf 10,45 Euro) pro Stunde debattieren die Parteien jetzt, ob sie einen Anstieg auf zwölf Euro umsetzen wollen. Sowohl die SPD als auch die Grünen wollen eine solche Erhöhung. Aber birgt das nicht die Gefahr, dass viele Menschen ihre Beschäftigung verlieren könnten?

Es sind wieder die gleichen Argumente wie vor der Einführung des Mindestlohns – und auch jetzt mahnen häufig die gleichen Kritikerinnen und Kritiker, dass eine Erhöhung schädlich sei und zum Verlust von Arbeitsplätzen führen könnte. Aber stimmt das auch?

Richtig ist, dass ein Mindestlohn von zwölf Euro inzwischen fast zehn Millionen Beschäftigte in Deutschland direkt oder indirekt betreffen würde, 2015 waren es noch fünf Millionen Menschen.

Niemand kann daher zuverlässig prognostizieren, wie sich ein Mindestlohn von zwölf Euro auswirken würde. Aber fünf gute Argumente sprechen dafür, dass mehr Grund zu Optimismus als zu Pessimismus besteht.

Der Boom kommt dem Mindestlohn entgegen

Zum einen befindet sich Deutschland nach der Pandemie in einer wirtschaftlichen Erholungsphase, bei der vor allem auch ein Boom der Weltwirtschaft gerade den deutschen Unternehmen zugutekommen wird. Zum anderen stehen viele Unternehmen vor einer wichtigen Transformation in Bezug auf Klimaschutz und Digitalisierung. Einige werden in den kommenden Jahren vom Markt verschwinden, andere sich grundlegend wandeln und wiederum andere neu entstehen. Diese Transformation erfordert eine erhebliche Reallokation von Beschäftigten zwischen Unternehmen und auch Wirtschaftssektoren, was der Mindestlohn ja gerade befördert, wie die eingangs erwähnte Studie bestätigt hat. 

Die Lohnsummen werden steigen - und die Sozialabgaben sinken

Interessanterweise sind ausgerechnet diejenigen, die sich hierzulande gegen eine Verlängerung des Kurzarbeitergeldes in der Pandemie ausgesprochen haben – mit dem Argument, dies verhindere eine notwendige Reallokation von Beschäftigten hin zu produktiveren Unternehmen –, häufig auch diejenigen, die am vehementesten gegen den Mindestlohn protestiert haben und jetzt eine Erhöhung ablehnen.

Dazu ist ein Mindestlohn von zwölf Euro auch eine gute Konjunkturpolitik und eine gute Finanzpolitik. Denn wie neue Berechnungen zeigen, werden die zusätzlichen Lohnsummen der fast zehn Millionen Betroffenen durch den Mindestlohn um 18 Milliarden Euro im Jahr steigen – und somit die Nachfrage und das Wirtschaftswachstum stärken. Dies bedeutet auch höhere Steuereinnahmen und Sozialbeiträge, die sich auf zehn Milliarden Euro an zusätzlichen staatlichen Einnahmen belaufen könnten. Und hinzu kommen auch geringere Sozialausgaben des Staates, da er weniger Menschen mit aufstockenden Sozialleistungen unterstützen muss, weil diese nun wieder besser von ihrer eigenen Arbeit leben können.

Arbeitskräftemangel eindämmen

Das vierte Argument, das einen negativen Beschäftigungseffekt eines Mindestlohns von zwölf Euro unwahrscheinlich macht, ist der erhebliche Arbeitskräftemangel, der in Deutschland bereits vor der Pandemie bestand und sich durch die demografische Entwicklung in den kommenden Jahren intensivieren dürfte. Es lässt sich zu Recht einwenden, dass einige der Menschen im Niedriglohnbereich geringe Qualifikationen haben und daher auch einem Fachkräftemangel nicht entgegenwirken können. Aber die Erfahrung zeigt, dass der Mindestlohn für recht viele Menschen Chancen eröffnet, in produktivere Jobs und Unternehmen zu kommen, wie auch die genannte Studie belegt.

Eine bessere Bezahlung erhöht die Loyalität

Es gibt ein fünftes Argument, das für eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns spricht. Die Forschung zeigt, dass eine bessere Bezahlung die Loyalität der Beschäftigten erhöht und damit auch zu einem geringeren Arbeitsplatzwechsel führt. Davon profitieren die Unternehmen, da es ihre Kosten für Neueinstellungen und Qualifikationen ihrer Beschäftigten reduziert. Der Mindestlohn kann somit die Produktivität steigern und von erheblichem gesamtwirtschaftlichem Nutzen sein. Er würde den Druck auf viele Unternehmen erhöhen, mehr in die Qualifikation und Produktivität ihrer Beschäftigten zu investieren.

Ein Mindestlohn ist kein Allheilmittel

Trotz vieler guter Argumente für einen Mindestlohn von zwölf Euro gibt es keine Sicherheit, dass nicht doch manche Unternehmen einen solchen Lohn nicht zahlen können und manche Beschäftigte ihre Arbeit verlieren. Die Schwierigkeit für die Politik ist die Abwägung, ob deutlich höhere Löhne für fast zehn Millionen Beschäftigte den möglichen Arbeitsplatzverlust von Zehntausenden Menschen rechtfertigen. Doch netto werden voraussichtlich eben kaum Arbeitsplätze verloren gehen, das zeigt die bestehende Forschung.

Die Politik muss die Sozialpartnerschaften stärken und auf Tarifeinheiten pochen

Trotzdem sollte sich die Politik nicht zu sehr auf den Mindestlohn zu verlassen. Ein Mindestlohn ist immer nur eine Krücke und das Eingeständnis, dass Sozialpartnerschaften zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmenden nicht funktionieren, dass also Beschäftigte nicht die Macht und Möglichkeit haben, einen fairen, angemessenen Lohn für sich auszuhandeln. Daher muss die Politik die Sozialpartnerschaft stärken und mehr auf Tarifeinheit für einzelne Sektoren pochen. Hinzu kommt die dringende Notwendigkeit, den Missbrauch des Mindestlohns, den das DIW Berlin wiederholt angemahnt hat, zu unterbinden. Ebenso wichtig wird es sein, die Anzahl von Schulabbrechenden zu reduzieren, mehr Ausbildungsplätze zu schaffen und vor allem auch Langzeitarbeitslosen Perspektiven zu eröffnen, wie beispielsweise durch das solidarische Grundeinkommen, das derzeit in Berlin getestet wird.

Es gibt keine einfachen Lösungen, um Menschen in Deutschland bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Aber ein Mindestlohn von zwölf Euro könnte ein wichtiger Schritt in dieser sozialen und wirtschaftlichen Mission sein.

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