Wieso ein Fachkräftemangel auch gut für Deutschland sein kann

Blog Marcel Fratzscher vom 17. September 2021

Viele Unternehmen suchen händeringend Personal. Ein Problem? Nicht unbedingt – der Mangel an Arbeitskräften kann die deutsche Wirtschaft modernisieren.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 17. September 2021 bei Zeit Online als Teil der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Immer wieder warnen Wirtschaft und Politik vor einem Fachkräftemangel: Die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und gar der Wohlstand unseres Landes seien dadurch gefährdet. Auch wenn dieses Argument nicht von der Hand zu weisen ist, gibt es eine überzeugende andere Perspektive, die den Arbeitskräftemangel nicht als Bedrohung, sondern als Chance sieht. Der mit dem demografischen Wandel zunehmende Fachkräftemangel könnte der wichtigste Impuls für eine Qualifizierungsoffensive und Investitionen in produktivere Arbeitsplätze sein – ein Impuls, der mittelfristig nicht nur dazu beiträgt, die deutsche Wirtschaft zu modernisieren, sondern auch die soziale Polarisierung in Deutschland zu reduzieren.

Die Arbeitslosigkeit in Deutschland befindet sich seit Jahren – trotz Pandemie – auf einem so niedrigen Niveau, wie wir es zuletzt vor 40 Jahren hatten. Viele Unternehmen suchen händeringend nach Beschäftigten. Vor der Pandemie gab es zeitweise mehr als eine Million offene Stellen. 

Der Begriff "Fachkräftemangel" ist allerdings irreführend, es handelt sich eher um einen Arbeitskräftemangel. Denn Unternehmen suchen nicht nur Ingenieurinnen und Programmierer, sondern auch Menschen mit geringen Qualifikationen. Reinigungskräfte sind ebenso gefragt wie Kurierfahrerinnen und -fahrer. Dass die Einführung des Mindestlohns 2015 und die folgenden Erhöhungen so gut wie keine Arbeitsplätze gekostet, sondern zu deutlichen Lohnsteigerungen geführt haben, ist genau diesem Umstand zu verdanken.

Mit Zuwanderung gegen den Arbeitskräftemangel

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, prophezeite kürzlich, dass Deutschland eine Zuwanderung von 400.000 Arbeitskräften im Jahr benötigen werde, damit der zunehmende Arbeitskräftemangel halbwegs begrenzt werden könne. Eine so starke Zuwanderung allerdings dürfte sich als illusorisch erweisen, zumal einige Politikerinnen und Politiker auch aus ideologischen Gründen mehr Migrantinnen und Migranten verhindern. Hinzu kommt, dass das sogenannte Fachkräftezuwanderungsgesetz, das vor knapp zwei Jahren in Kraft trat, die Hürden für eine Zuwanderung von außerhalb der EU enorm hoch legt: Die Menschen müssen nicht nur gute Sprachkenntnisse und eine ausreichende finanzielle Absicherung nachweisen, sie brauchen auch erhebliche Qualifikation. All das bewirkt, dass nur sehr wenige Menschen aus dem Ausland über dieses Gesetz nach Deutschland kommen.

Die Bedenken vieler Unternehmen, sie könnten in der Zukunft wichtige Positionen nicht mehr besetzen und somit in globalen Märkten und Wettbewerbsfähigkeit verlieren, sind insofern gerechtfertigt. Die spannende und wichtige Frage ist jedoch, wie Unternehmen auf den Fachkräftemangel reagieren und was dies für Deutschland bedeuten wird.

Der Mangel als Impuls

Es gibt vier Gründe, wieso der Arbeitskräftemangel unserem Land einen wichtigen Modernisierungsimpuls geben könnte. Der erste Grund ist, dass er die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und damit ihre Löhne erhöht. Unternehmen werden daher zum einen versuchen, bestimmte Arbeitsplätze durch Maschinen oder automatisierte Prozesse zu ersetzen. Wo dies nicht möglich ist, werden Unternehmen zum anderen so investieren wollen, dass ihre Arbeitskräfte produktiver werden und sich somit die höheren Löhne und Arbeitskosten rechnen. Ein Wegfall bestimmter Arbeitsplätze – häufig solche, die sehr mechanisch und körperlich anspruchsvoll sind – muss per se nicht schlecht sein, wenn die betroffenen Menschen anderswo bessere und besser bezahlte Arbeit finden. Genau dies ist die Erfahrung mit der Einführung des Mindestlohnes 2015: Die höheren Löhne haben zu einer Reallokation von Beschäftigten hin zu produktiveren und besser bezahlten Arbeitsplätzen und Unternehmen geführt und netto so gut wie keine Beschäftigung gekostet.

In der Pflege hat der Mangel zu mehr Wertschätzung geführt

Der zweite Vorteil ist die sich damit verändernde Wertschätzung für bestimmte Berufe, die besonders stark von einem solchen Mangel betroffen sind. Vor allem dem Menschen nahe, persönliche Dienstleistungen, wie in den Pflegeberufen, waren und sind in Deutschland relativ schlecht entlohnt – auch im Vergleich zu der erforderlichen Verantwortung und Belastung. Der Fachkräftemangel in der Pflege hat schon jetzt die Löhne erhöht und die Arbeitsbedingungen verbessert, auch wenn noch weiterer Nachholbedarf besteht. Das Bespiel zeigt, dass der Fachkräftemangel zu einer gesteigerten Wertschätzung, besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen führt. Infolgedessen dürften sich auch mehr Menschen für diese Arbeitsplätze entscheiden, die für unsere Gesellschaft unabdingbar sind.

Der Mangel erhöht die Lohnquote

Die dritte Chance ist, dass ein Arbeits- und Fachkräftemangel die Lohnquote erhöht, also ein größerer Anteil der Wertschöpfung in unserem Land in Zukunft wieder den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zugutekommt und weniger den Anteilseignern der Unternehmen. Höhere Löhne bedeuten für viele Menschen nicht nur einen höheren Lebensstandard und mehr Sicherheit, sondern werden den Konsum anschieben und damit das Wachstum stärken und den Wohlstand sichern helfen. Dies wird zwar den Anstieg der sozialen Polarisierung bei Einkommen und Vermögen der vergangenen Jahrzehnte nicht wieder umkehren, aber zumindest stoppen und einigen Menschen wieder neue Chancen eröffnen.

Höhere Löhne bedeuten mehr Steuereinnahmen

Der vierte Vorteil kommt dem Staat zugute, der durch eine bessere Lohnentwicklung und mehr Wirtschaftsleistung auch höhere Steuereinnahmen erzielen wird. Dies wird die Sozialsysteme entlasten, weil weniger Menschen auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Somit hat der Staat mehr Geld, um sich auf die verbleibenden Herausforderungen zu fokussieren, und damit bessere Chancen, diese erfolgreich zu bewältigen.

Arbeitskräftemangel als Chance der Modernisierung

Der Arbeitskräftemangel ist also nicht nur ein Grund zur Sorge, sondern wird auch viele positive Impulse setzen: bessere Arbeitsplätze, mehr Wertschätzung, höhere Lohnquote und mehr Steuereinnahmen. Er sollte von der Wirtschaft und der Politik als Chance verstanden werden, unsere Wirtschaft zu modernisieren, was dringend erforderlich ist. Nur so werden wir im globalen Kontext wettbewerbsfähig bleiben und der sozialen Polarisierung entgegenwirken.

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