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Erdogan steckt in der Zwickmühle

Medienbeitrag vom 6. Dezember 2021

Dieser Gastbeitrag von Alexander Kriwoluzky und Gökhan Ider ist am 06.12.2021 in der Frankfurter Rundschau erschienen.

Ist das wirklich der Anfang vom Ende der Präsidentschaft von Erdogan? Die ökonomischen Zeichen stehen jedenfalls auf Sturm. Die türkische Lira verliert rapide an Kaufkraft: Die Inflation lag zuletzt bei 21 (!) Prozent. Angesichts der rasant steigenden Konsumentenpreise befindet sich der Wechselkurs der türkischen Lira im freien Fall: In den vergangenen drei Monaten wertete sie um rund 40 Prozent relativ zum Dollar ab. Importe in die Türkei werden in Lira gerechnet also teurer und heizen die Inflation noch weiter an.

All dies ist aber nicht etwa die Folge einer längeren ökonomischen Pechsträhne, sondern die Konsequenz der Wirtschaftspolitik des türkischen Präsidenten.

In den letzten Jahren hat Präsident Erdogan die Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank systematisch ausgehöhlt. Die wichtigste Aufgabe der türkischen Zentralbank ist das Sicherstellen eines stabilen Preisniveaus beziehungsweise von geringer Inflation. Dieses Ziel kann die Zentralbank aber nur erreichen, wenn sie sich ausschließlich darauf konzentrieren und dementsprechend auch die Leitzinsen setzen kann.

In Zeiten steigender Preise sollte die Zentralbank die Zinsen eigentlich erhöhen. In den zurückliegenden drei Jahren haben sich mehrere anerkannte Experten, darunter Murat Çetinkaya and Naci Agbal, als Zentralbankpräsidenten an dieser Aufgabe die Zähne ausgebissen. Denn sobald sie ernsthaft die Inflation durch Zinserhöhungen bekämpfen wollten, wurden sie vom türkischen Präsidenten entlassen. Statt die Zinsen zu erhöhen, wurde der Leitzins seit September sogar um vier Prozent gesenkt, völlig entgegengesetzt zur ökonomischen Notwendigkeit. Diese Maßnahmen haben das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Glaubwürdigkeit der Zentralbank und damit das Vertrauen in die Lira nachhaltig beschädigt.

Die ökonomischen Kosten dieser Strategie sind mittlerweile recht hoch, um es vorsichtig auszudrücken. Viele türkische Haushalte flüchten in den Euro oder Dollar. Auch Kryptowährungen wie Bitcoin sind ein beliebtes Wertaufbewahrungsmittel. Inzwischen hat sie die türkische Regierung aber zumindest als Zahlungsmittel verboten. Die hohen Inflationsraten treffen nun vor allem Haushalte mit geringen Einkommen. Diese Haushalte verfügen häufig nicht über angesparte Reserven, die sie in Euro oder Dollar umtauschen können. Stattdessen müssen sie mit einem rapide sinkenden Realeinkommen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Gerade diese Schicht stellt aber eine wichtige Wählerschaft für Erdogan und seine Partei dar. Unzufrieden mit ihrer ökonomischen Situation wenden sie sich nun mehr und mehr ab. In Anbetracht der Tatsache, dass im Jahr 2023 die nächsten Wahlen anstehen, ein nicht zu unterschätzendes Problem für den Präsidenten.

Die einzige Möglichkeit, den Wertverfall der türkischen Lira zu stoppen, besteht darin, die Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank wiederherzustellen. Das würde aber bedeuten, dass die Zentralbank zum einem die Zinsen stark anheben müsste, und zum anderen die Fiskalpolitik aufhören müsste, hohe Defizite anzuhäufen. Beides zusammen würde unweigerlich eine Rezession zur Folge haben. Das kann ein Jahr vor den Wahlen nicht im Sinne der Regierung sein. Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank würde auch an den Grundpfeilern des Erfolgs von Erdogan rütteln: Wachstum durch günstige inländische Kredite und das Demonstrieren von außenpolitischer Stärke, unter anderem durch militärische Einsätze. Letzteres ist kostspielig und ein Grund für den labilen Zustand der öffentlichen Haushalte.

Präsident Erdogan befindet sich dementsprechend in einer ökonomischen Zwickmühle. Ob dies der Anfang vom Ende seiner Präsidentschaft ist, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen. Immerhin ist er ein politischer Überlebenskünstler, dem es zuzutrauen ist, auch aus dieser Situation einen Ausweg zu finden. Allerdings wird er von der ökonomischen Wirklichkeit sukzessive eingeholt und sein wirtschaftspolitischer Spielraum zunehmend enger.

Themen: Europa , Geldpolitik

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