Blog Marcel Fratzscher vom 15. Juli 2022
Die soziale Lage in Deutschland ist dramatisch. Die hohe Inflation trifft die vulnerabelsten Menschen unserer Gesellschaft hart – und das Ende ist wohl noch nicht erreicht. Die bisherigen Entlastungspakete der Bundesregierung sind jedoch unzureichend, um in dieser Notlage adäquat zu helfen. Sie erfüllen keine der vier notwendigen Kriterien einer effektiven Entlastung: Sie sind weder zielgenau noch schnell, weder ausreichend noch klug. Die Diakonie schlägt einen sozialen Notfallplan vor, um dieses Versagen der Entlastungspakete zu adressieren. Dieser wäre ein guter erster Schritt, der jedoch durch weitere grundlegende Veränderungen ergänzt werden müsste.
Dieser Text erschien am 15. Juli 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Eine Studie der DIW Econ, einer Tochtergesellschaft des DIW Berlin, im Auftrag der Diakonie zeigt, wie dramatisch die gegenwärtige Situation vor allem für einkommensschwache Gruppen ist. So erfahren Menschen mit geringem Einkommen eine – gemessen an ihrem Haushaltseinkommen – in etwa fünfmal höhere Inflation als Menschen mit hohem Einkommen. Der Grund ist, dass die 20 Prozent der Menschen mit den geringsten Einkommen knapp zwei Drittel ihres monatlichen Einkommens für Dinge der Grundversorgung wie Lebensmittel, Energie und Mobilität ausgeben müssen. Das Problem für diese Menschen ist nicht nur, dass sie nicht auf Essen, Heizen oder den Weg zur Arbeit verzichten können. Sondern das noch größere Problem sind die fehlenden Schutzmechanismen. Jeder dritte Haushalt in Deutschland hat kaum Erspartes, also keine Rücklagen, die für die Mehrausgaben beispielsweise des wöchentlichen Lebensmitteleinkaufs genutzt werden könnten.
Das Grundproblem der sozialen Krise heute ist daher ein doppeltes: eine Einkommensarmut und eine Vorsorgelücke. Und die Konsequenzen der sozialen Krise sind dramatisch. Soziale Einrichtungen berichten über eine stärkere Nutzung von Tafeln, Lebensmitteldiscountern, sozialen Beratungsstellen und Schuldnerberatungen. Die unweigerliche Konsequenz wird ein weiterer Anstieg des Armutsrisikos sein und für viele Menschen damit auch ein Verzicht auf Dinge, die essenziell für ihre gesellschaftliche Teilhabe sind. Dazu zählen etwa der Kinobesuch der eigenen Kinder oder die Möglichkeit einer Reise mit der Familie.
Die Diakonie schlägt deshalb einen Notfallplan vor, der sofortige zusätzliche Zahlungen von 100 Euro im Monat für über fünf Millionen Menschen mit Leistungen in der Grundsicherung (Sozialgesetzbuch II und XII) beinhaltet. Die Studie zeigt, dass eine solche Zahlung die höheren Kosten für die Betroffenen selbst bei einer Inflation von fast zehn Prozent kompensieren würde. Ein solcher Notfallplan für sechs Monate würde den deutschen Staat 5,4 Milliarden Euro kosten. Das ist zwar nicht wenig Geld, aber für den Staat mit Sicherheit leistbar – auch beispielsweise im Vergleich zu den drei Milliarden Euro für den Tankrabatt.
Ein solcher Notfallplan kann jedoch nur ein Element im Umgang mit der sozialen Krise sein. Denn, auch dies zeigt die Studie: Es gibt viele Menschen mit mittlerem und geringem Einkommen, die bisher keine Grundsicherungsleistungen erhalten, aber ebenfalls hart von der Inflation getroffen sind und Unterstützung benötigen. Eine zweite Anmerkung zum vorgeschlagenen Notfallplan ist, dass die Sozialleistungen nicht nur temporär für sechs Monate steigen sollten, sondern permanent erhöht werden müssen. Denn häufig werden in dieser Krise Preise und Inflation verwechselt. Ein Rückgang der Inflation in den kommenden zwei Jahren bedeutet nicht, dass die Preise wieder fallen werden, sondern lediglich, dass die Preise auf dem gleichen hohen Niveau verharren werden. In anderen Worten: Die Preise für Energie und Lebensmittel werden wahrscheinlich nie wieder das Niveau von vor der Krise erreichen, sondern dauerhaft höher bleiben.
Zusätzlich zum vorgeschlagenen Notfallplan muss die Politik drei weitere Maßnahmen umgehend in Angriff nehmen. Zum ersten sollte sie sich in der konzertierten Aktion dafür einsetzen, dass die Löhne für möglichst viele deutlich erhöht werden. Denn für die große Mehrheit der Menschen mit mittlerem und geringem Einkommen sind höhere Löhne und Arbeitseinkommen der einzige Weg, sich gegen die dauerhaft gestiegenen Preise absichern zu können. Natürlich muss der Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen maßvoll und ausgewogen sein, aber höhere Löhne sind im Augenblick das wichtigste Element, um möglichst vielen eine Absicherung gegen die Inflation zu ermöglichen.
Die zweite Maßnahme ist ein weiteres Entlastungspaket der Bundesregierung, das anders als die bisherigen eben zielgenau, schnell, ausreichend und klug sein muss. Zielgenauigkeit erfordert Hilfen, die nicht per Gießkannenprinzip vergeben werden, sondern nur den betroffenen Menschen zugutekommen. Sie müssen schnell helfen, denn viele Menschen können nicht für weitere sechs Monate steigende Preise für Energie und Lebensmittel aus eigener Kraft stemmen. Die Hilfen müssen ausreichend sein. Und die Maßnahmen müssen klug sein, was prinzipiell bedeutet, dass direkte Transferzahlungen besser sind als konditionale Leistungen. Denn jeder Mensch hat andere Bedürfnisse und sollte selbst entscheiden können, wofür er oder sie die staatliche Unterstützung nutzen möchte.
Der Tankrabatt ist das Beispiel der Ursünde staatlicher Maßnahmen, denn dieser erfüllt kein einziges der vier Kriterien. Er verteilt von unten nach oben, ist völlig unzureichend für Menschen mit geringem Einkommen, erhöht den Energieverbrauch und ist enorm ineffizient und verzerrend.
Das dritte Element ist eine effizientere Bürokratie bei den Sozialsystemen, sodass an einer zentralen Stelle alle notwendigen Informationen zusammenlaufen, sodass der Staat in Zukunft die Möglichkeit hat, adäquat zu reagieren. Das ist zurzeit nicht möglich, denn es fehlen die Informationen und damit die Möglichkeit des Staats, richtig zu helfen.
Zu viele verkennen die soziale Krise, die viele Menschen in Deutschland heute schon erfahren. Die Politik sollte umgehend ein drittes Entlastungspaket gestalten, das aus den Fehlern der ersten beiden Pakete lernt und vor allem sehr viel zielgenauer Menschen mit geringem Einkommen entlastet. Ein Notfallplan mit einer sofortigen Erhöhung der Sozialleistungen um 100 Euro pro Person und Monat ist ein wichtiges Element eines solchen Pakets. Aber es muss darüber hinaus auch zu einer Entlastung von Menschen mit mittlerem und geringem Einkommen führen. Das könnte über ein soziales Grundversorgungsgeld – ähnlich der Energiepauschale, allerdings begrenzt auf Menschen mit mittlerem und geringem Einkommen – geschehen.
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