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Anhebung des Renteneintrittsalters hat negative Konsequenzen für die Gesundheit

DIW Wochenbericht 41 / 2022, S. 527-533

Mara Barschkett, Johannes Geyer, Peter Haan

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  • Negative Gesundheitseffekte durch Rentenreform im Jahr 1999, bei der das Renteneintrittsalter für Frauen von 60 auf 63 Jahre erhöht wurde
  • Differenzierte Betrachtung von psychischen und physischen Erkrankungen notwendig
  • Psychische Erkrankungen, Übergewicht und Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems nehmen durch späteren Rentenzugang zu
  • Anhebung des Renteneintrittsalters muss durch präventive Gesundheitsinvestitionen begleitet werden
  • Weitere Reformen bei der Erwerbsminderungsrente notwendig, um die Auswirkungen von Gesundheitsrisiken besser abzusichern

„Die Abschaffung der Rente mit 60 für Frauen hat die Gesundheit in einigen Dimensionen verschlechtert. Dies gilt bei der psychischen Gesundheit, bei Übergewicht und Muskel- und Skelett-Erkrankungen. In keiner Dimension konnte eine Verbesserung der Gesundheit festgestellt werden.“ Mara Barschkett

Zur Stabilisierung der Finanzen der Gesetzlichen Rentenversicherung wird regelmäßig eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters gefordert. Ein längeres Arbeitsleben hat jedoch Auswirkungen auf die Gesundheit. Anhand von detaillierten Daten der gesetzlichen Krankenkassen zeigen Untersuchungen, dass die Abschaffung der „Rente für Frauen“ im Jahr 1999, die einen Renteneintritt ab einem Alter von 60 Jahren erlaubte, negative Gesundheitseffekte nach sich zog. Frauen, die von der Reform betroffen waren und erst mit 63 Jahren in Rente gehen konnten, wiesen häufiger psychische Erkrankungen sowie Adipositas (Übergewicht) und Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems (Arthrose und sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens) auf. Deshalb sollte eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters durch präventive Gesundheits- und Bildungsinvestitionen begleitet werden. Gleichzeitig sind weitere Reformen bei der Erwerbsminderungsrente notwendig, um die Auswirkungen von Gesundheitsrisiken besser abzusichern.

In der aktuellen Debatte um die Zukunft der Gesetzlichen Rentenversicherung wird zur Stabilisierung ihrer Finanzierung häufig eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters gefordert.infoSiehe zum Beispiel das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2021): Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (online verfügbar, abgerufen am 12.09.2022. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Zudem soll durch eine solche Rentenreform der Fachkräftemangel bekämpft werden.

Dieser Forderung wird häufig entgegengehalten, dass viele Menschen aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage wären, bis zu einem höheren Renteneintrittsalter zu arbeiten und dadurch geringere Renten erwarten müssten. Damit würde eine solche Reform das Risiko für Altersarmut erhöhen und zu mehr Ungleichheit bei den Alterseinkommen führen.

Seltener wird problematisiert, dass die Erhöhung des Renteneintrittsalters direkte Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen und damit auf das Gesundheitssystem hat. Die Anhebung des Renteneintrittsalters und ein verlängertes Arbeitsleben können sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen haben. So kann ein verlängertes Arbeitsleben mehr soziale Kontakte ermöglichen und die Gefahr einer Vereinsamung nach der Verrentung verringern. Gleichzeitig ist Arbeit jedoch häufig mit körperlichem und psychischem Stress verbunden, was vor allem für ältere Menschen mit negativen Effekten für die Gesundheit verbunden sein kann.infoDie Anhebung des Renteneintrittsalters betrifft auch Menschen, die erwerbslos sind. Für diese Gruppe bedeutet eine Anhebung des Renteneintrittsalters in der Regel eine Verlängerung ihrer Erwerbslosigkeit. Die Wiederbeschäftigungswahrscheinlichkeit älterer Erwerbsloser ist sehr niedrig. Das kann zu negativen psychischen Effekten auf die Gesundheit führen, da der Status „arbeitlos“ häufig negativer empfunden wird als der Status „in Rente“. Clemens Hetschko et al. (2014): Changing identity: retiring from unemployment, The Economic Journal 124 (575), 149–166 (online verfügbar).

Um die Größe und die Richtung dieser Gesundheitseffekte zu quantifizieren, sind empirische Analysen anhand vergangener Rentenreformen notwendig. Dabei ist es wichtig, detaillierte und objektiv gemessene Krankheitsdiagnosen in verschiedenen Gesundheitsdimensionen zu betrachten, da in allgemeinen Maßen des Gesundheitszustandes gegenläufige positive und negative Aspekte nicht unterschieden werden.

In diesem Wochenbericht werden die Auswirkungen der Abschaffung der Rente für Frauen im Jahr 1999 (Kasten 1)infoDie Arbeitsmarkt- und Verteilungseffekte dieser Rentenreform wurden bereits in früheren Wochenberichten des DIW Berlin untersucht. Johannes Geyer et al. (2019): Erhöhung des Renteneintrittsalters für Frauen: Mehr Beschäftigung, aber höheres sozialpolitisches Risiko. DIW Wochenbericht 14, 239–247 (online verfügbar)., die zu einem Anstieg des effektiven Frühverrentungsalters für Frauen von 60 auf 63 Jahre führte, auf die Gesundheit der betroffenen Frauen analysiert.infoMara Barschkett et al. (2022): The Effects of an Increase in the Retirement Age on Health—Evidence from Administrative Data. The Journal of the Economics of Ageing 23, 100403 (online verfügbar). Die Autor*innen danken der Kassenärztlichen Bundesvereinigung für den Datenzugang und hervorragende Unterstützung. Darüber hinaus danken sie der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre Förderung im Rahmen des CRC/TRR190 (Projektnummer 280092119) und des Projektes HA5526/4-2 sowie der finanziellen Unterstützung im Rahmen des Projektes PENSINEQ (JPI More Years Better Lives). Mara Barschkett wurde im Rahmen eines Stipendiums des Forschungsnetzwerkes Alterssicherung während der Forschungsarbeit unterstützt.

Im Zuge des Rentenreformgesetzes 1999 wurde die „Altersrente für Frauen“ in der Gesetzlichen Rentenversicherung für die Jahrgänge ab 1952 abgeschafft. Diese spezielle Altersrente hatte es Frauen, die bestimmte versicherungsrechtliche Kriterien erfüllten, ermöglicht, bereits mit 60 Jahren eine Altersrente zu beziehen. Um für diese Rente anspruchsberechtigt zu sein, mussten Frauen im Laufe ihres Lebens mindestens 15 Jahre lang in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert gewesen sein und nach ihrem 40. Geburtstag mehr als zehn Jahre lang Pflichtbeiträge gezahlt haben. Zwischen 2000 und 2004 wurden für diese Rentenart Abschläge von 0,3 Prozent pro Monat vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze eingeführt. Ein Renteneintritt mit 60 Jahren war dementsprechend mit 18 Prozent permanentem Abschlag auf die Rente verbunden. Für später geborene Jahrgänge verblieb lediglich die Option einer vorgezogenen Altersrente für langjährig Versicherte ab 63 Jahren oder, für einen kleinen Teil, die Rente wegen Schwerbehinderung, die einen Bezug ab 60 Jahren vorsah. In der Summe wurde das Alter für den vorgezogenen Bezug einer Altersrente für Frauen von einem zum nächsten Jahrgang um drei Jahre angehoben.

Anstieg des Renteneintrittsalters hat negative Effekte auf psychische Erkrankungen

Für die Analyse werden die administrativen Daten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ausgewertet (Kasten 2). Die Daten beinhalten Informationen zu allen Diagnosen von niedergelassenen Ärzt*innen zur mentalen und physischen Gesundheit von Personen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sowie zur Häufigkeit der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen für die Jahre 2009 bis 2018. Darüber hinaus werden die direkten, durch die Reform induzierten Kosten für das Gesundheitssystem beobachtet.

Die Analysen beruhen auf administrativen Krankenkassendaten aller gesetzlichen Krankenkassen, die von der KBV erfasst werden. Die Daten erfassen ungefähr 90 Prozent der Bevölkerung (alle gesetzlich krankenversicherten Personen in Deutschland). Der Datensatz deckt den Zeitraum 2009 bis 2018 ab und umfasst auf Patientenebene alle gesicherten Diagnosen (ICD-10 CodesinfoDie Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification (ICD-10-GM), ist die amtliche Klassifikation zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland (online verfügbar).), die von ambulant tätigen Ärzt*innen gestellt wurden, abgerechnete Kosten, die Anzahl der Behandlungsfälle, Geburtsjahr, -monat und Geschlecht der Patientinnen sowie den Kreis, indem sie wohnhaft sind. Die Analysen beschränken sich auf Frauen der Jahrgänge 1950 bis 1952.infoMehr Informationen zur Datengrundlage finden sich in den Vorarbeiten. Siehe Mara Barschkett et al. (2022): The Effects of an Increase in the Retirement Age on Health—Evidence from Administrative Data. The Journal of the Economics of Ageing 23, 100403 (online verfügbar).

Die geschätzten Effekte können als kausale Wirkungen der Rentenreform interpretiert werden, da altersspezifische Diagnosen von Frauen, die von der Erhöhung des Renteneintrittsalters betroffen waren (Jahrgang 1952), und Frauen, die von der Reform nicht betroffen waren und die noch zum Alter 60 in Rente gehen konnten (Jahrgang 1951), verglichen werden (Kasten 3) infoDie meisten Frauen, die sich für die Rente für Frauen qualifiziert hatten, waren aufgrund ihrer langen Versicherungszeiten in der Gesetzlichen Rentenversicherung auch qualifiziert für die Rente für langjährig Versicherte, die ab dem Alter 63 zugänglich ist. Ein kleiner Teil der Frauen konnte bei Vorliegen einer Schwerbehinderung und der Erfüllung der Wartezeit von 35 Jahren bereits mit 60 Jahren in Rente gehen. Frauen, die sich nicht für diese Renten qualifiziert haben, konnten erst mit der Regelaltersgrenze in Rente gehen, das heißt für den Jahrgang 1952 mit 65 Jahren und sechs Monaten..

Das zentrale methodische Problem bei der Untersuchung des Effektes der Verrentung auf die Gesundheit ist, dass nicht klar ist, ob sich die Gesundheit als Folge der Verrentung ändert oder ob Individuen bei ihrer Renteneintrittsentscheidung von ihrem Gesundheitszustand beeinflusst werden. Der Zusammenhang ist in beide Richtungen plausibel und von der Literatur aufgezeigt. Um jedoch den Effekt einer Verrentung auf die Gesundheit zu evaluieren, ist es wichtig, diesen Effekt von anderen Effekten abzugrenzen. Nur so kann kausal abgeschätzt werden, ob Veränderungen im Rentensystem Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Es bedarf hierzu einer empirischen Strategie unter Nutzung exogener Variationen.infoEin Beispiel für eine exogene Variation ist eine politische Reform. Diese kann nicht vom Individuum selbst entschieden werden, sondern wird ihm von außen vorgegeben.

In dieser Analyse können die geschätzten Effekte als kausale Wirkungen der Erhöhung des Renteneintrittsalters interpretiert werden, da altersspezifische Diagnosen von unterschiedlichen Gruppen verglichen werden, die in einem ähnlichen Zeitraum geboren wurden. Es wird ein Differenzen-in-Differenzen-Ansatz angewendet.infoMara Barschkett et al. (2022): The Effects of an Increase in the Retirement Age on Health—Evidence from Administrative Data. The Journal of the Economics of Ageing 23, 100403 (onlineverfügbar).

Zunächst wird die Differenz gebildet zwischen Frauen, die zwischen Oktober und Dezember 1951 geboren wurden und ab 60 Jahren in Rente gehen konnten, und Frauen, die zwischen Januar und März 1952 geboren wurden und von der Rentenreform betroffen waren. Diese Frauen konnten zum Großteil erst ab 63 Jahren eine Rente beziehen. Geburtsmonate können auf Grund von saisonalen Einflüssen langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Um diese Unterschiede zwischen den beiden Gruppen zu berücksichtigen, werden die altersspezifischen Diagnosen von zwei weiteren vergleichbaren Gruppen gebildet, die beide nicht von der Rentenreform betroffen waren: Frauen, die zwischen Oktober und Dezember 1950 geboren wurden, und Frauen, die zwischen Januar und März 1951 geboren wurden. Aus der Differenz der Differenzen zwischen diesen Gruppen lässt sich dann der Reformeffekt für unterschiedliche Alter bestimmen. Die Berechnung der Differenzen basiert auf den Beobachtungen unterschiedlicher Jahrgänge in verschiedenen Kalenderjahren (Tabelle).

Tabelle: Vergleichsjahre für die Jahrgänge 1951 und 1952 im selben Alter

Alter in Jahren

Reformeffekte Monatseffekte
Jahrgang 1951 Jahrgang 1952 Jahrgang 1950 Jahrgang 1951
2009 59
2010 59 60 59
2011 60 59 61 60
2012 61 60 62 61
2013 62 61 63 62
2014 63 62 64 63
2015 64 63 65 64
2016 65 64 65
2017 65

Lesebeispiel: Für die Reformeffekte bei 60-jährigen Frauen werden die Diagnosen von Frauen des Jahrgangs 1951 im Jahr 2011 mit den Diagnosen von Frauen des Jahrgangs 1952 im Jahr 2012 verglichen. Dabei werden die Monatseffekte zwischen Frauen des Jahrgangs 1950 im Jahr 2010 und Frauen des Jahrgangs 1951 im Jahr 2011 berücksichtigt.

Quelle: Eigene Darstellung.

Es werden drei Dimensionen der Gesundheit unterschieden: Mentale Gesundheit, physische Gesundheit und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Um direkte und indirekte Effekte der Reform erfassen zu können, wird der Vergleich zwischen den beiden Jahrgängen für verschiedene Altersgruppen und damit für unterschiedliche Jahre ausgewiesen: für Frauen im Alter von 60 bis 62 Jahren, die – sofern sie dem Jahrgang 1952 angehören – direkt von der Reform betroffen waren und in den Jahren 2012 bis 2014 noch nicht in Rente gehen konnten, für 59-jährige Frauen und für Frauen im Alter von 63 bis 65 Jahren. Frauen des Jahrganges 1952 sind im Alter von 59 Jahren nicht direkt von der Reform betroffen, aber indirekt, da sie wissen, dass sie erst später in Renten gehen können. Die Ergebnisse für diese Gruppe lassen sich daher als Antizipationseffekte interpretieren. Die Ergebnisse für Frauen, die 63 Jahre und älter sind, können auch als indirekte Reformeffekte interpretiert werden. Diese Frauen waren von der Reform betroffen und konnten – sofern sie dem Jahrgang 1952 angehören – erst ab einem Alter von 63 Jahren, also ab dem Jahr 2015, in Rente gehen. Die Effekte spiegeln daher mittelfristige Auswirkungen wider.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Abschaffung der Rente für Frauen zu einem Anstieg von stressbedingten Krankheiten sowie Stimmungsstörungen bei 60- bis 62-jährigen Frauen geführt hat (Abbildung 1). Bei stressbedingten Krankheiten beträgt der Anstieg 0,8 Prozentpunkte, was einem prozentualen Anstieg von 3,6 Prozent im Vergleich zum durchschnittlichen Vorkommen im Jahrgang 1951 entspricht (22,2 Prozent der Frauen im Jahrgang 1951 haben mindestens einmal pro Jahr eine solche Diagnose). Ein ähnlicher Effekt ist für Stimmungsstörungen zu vermerken: Durch die Reform stieg die Häufigkeit um 0,9 Prozentpunkte, was einem prozentualen Anstieg von 4,8 Prozent entspricht (Durchschnitt für Stimmungsstörungen: 18,6 Prozent). Für 59-jährige Frauen zeigt sich ebenfalls ein statistisch signifikanter Anstieg: 1,5 Prozentpunkte (7,3 Prozent im Vergleich zum Durchschnitt) für stressbedingte Krankheiten und 1,4 Prozentpunkte (8,2 Prozent im Vergleich zum Durchschnitt) für Stimmungsstörungen. Die Anstiege bei 59-jährigen Frauen sind sogar größer als die Effekte bei 60- bis 62-Jährigen, was die Bedeutung von Antizipationseffekten hervorhebt. Mittelfristig werden die Effekte schwächer: Für 63- bis 65-jährige Frauen ist keine statistisch signifikante Veränderung bei stressbedingten Krankheiten zu verzeichnen und nur ein geringer Anstieg von Stimmungsstörungen (0,5 Prozentpunkte und 2,4 Prozent im Vergleich zum Durchschnitt). Die zugrundliegenden Mechanismen, die die Verschlechterung der psychischen Gesundheit in Folge des verlängerten Arbeitslebens erklären, können vielfältig sein. Eine mögliche Erklärung ist, dass Arbeit insbesondere im höheren Alter mit Stress verbunden ist und einen Teil der Beschäftigten überfordert. Die Abschwächung der Effekte im Alter von 63 bis 65 Jahren könnte daraufhin deuten, dass dieser Stress mit dem Eintritt in die Rente langsam zurückgeht.

Physische Erkrankungen nur teilweise betroffen

Das Bild bei den physischen Erkrankungen fällt weniger eindeutig aus und hängt von der speziellen Diagnose ab. Es lässt sich jedoch feststellen, dass sich bei keiner Diagnose die Gesundheit durch eine Erhöhung des Renteneintrittsalters verbessert (Abbildung 2).

Für Diabetes und Adipositas ergeben sich Anstiege in Folge der Rentenreform. Der Effekt für Diabetes beläuft sich auf 0,3 Prozentpunkte für 60- bis 62-Jährige (2,4 Prozent im Vergleich zum Durchschnitt) und auf 0,5 Prozentpunkte (5,2 Prozent im Vergleich zum Durchschnitt) für 59-Jährige. Diese Effekte erweisen sich aber in Robustheitsprüfungen als nicht stabil und sollten daher mit Vorsicht interpretiert werden. Für 63- bis 65-Jährige zeigen sich keine statistisch signifikanten Veränderungen. Für Adipositas ergeben sich ein Anstieg von einem Prozentpunkt (7,4 Prozent) für 60- bis 62-Jährige, ein Anstieg von 0,9 Prozentpunkten (7,3 Prozent) für 59-Jährige und ein Anstieg von 0,7 Prozentpunkten (4,2 Prozent) für 63- bis 65-Jährige. Mögliche Gründe für den Anstieg der Adipositas-Häufigkeit in Folge der Reform könnten weniger Zeit für Sport und gesunde Ernährung sowie ein positiver Zusammenhang zwischen der gestiegenen psychischen Belastung und der Gewichtszunahme sein.

Die Häufigkeit von Krankheiten des Herzkreislaufsystems (Hochdruckkrankheit, koronare Herzkrankheiten und Schlaganfälle) hat sich im Zusammenhang mit der Reform nicht signifikant verändert. Das könnte daran liegen, dass bei diesen Diagnosen eher langfristige Effekte zu erwarten sind. Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes (Arthrose und sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens) sind wiederum signifikant angestiegen: Die Effekte für Arthrose belaufen sich auf 0,8 Prozentpunkte (3,4 Prozent) für 60- bis 62-Jährige, auf 0,7 Prozentpunkte (3,5 Prozent) für 59-Jährige und auf 0,6 Prozentpunkte (2,0 Prozent) für 63- bis 65-Jährige. Ähnlich verhält es sich mit den sonstigen Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens (0,8 Prozentpunkte für 60- bis 62-Jährige (2,1 Prozent), 2,1 Prozentpunkte für 59-Jährige (6,0 Prozent) und 0,5 Prozentpunkte für 63- bis 65-Jährige (1,0 Prozent)). Gründe für die Zunahme von Arthrose und Rückenbeschwerden könnten ebenfalls ein Mangel an Bewegung und Sport sowie zusätzliche psychische Belastungen sein. Darüber hinaus können physisch fordernde Tätigkeiten (zum Beispiel in Pflegeberufen) besonders mit fortschreitendem Alter zu solchen Beschwerden führen.

Anstieg bei Behandlungsfällen

Der Anstieg des Renteneintrittsalters hat nicht nur einen Effekt auf die Diagnosen, sondern auch auf die Nachfrage von Gesundheitsleistungen (Abbildung 3). In Folge der Reform steigen die Behandlungsfälle bei 60- bis 62-jährigen Frauen um knapp 0,2 Behandlungsfälle pro Person und Jahr (ein Anstieg um 1,9 Prozent), bei 59-Jährigen um knapp 0,5 Behandlungsfälle pro Person und Jahr (5,9 Prozent). Bei 63- bis 65-Jährigen ist keine statistisch signifikante Veränderung zu beobachten. Unterscheidet man zwischen Behandlungsfällen bei Hausärzt*innen und Spezialist*innen, zeigt sich folgendes: Es gibt keinen statistisch signifikanten Anstieg der hausärztlichen Behandlungsfälle im Alter von 60 bis 62 Jahren, aber einen Anstieg um gut 0,2 pro Person und Jahr (9,7 Prozent) im Alter von 59 Jahren und um knapp 0,04 pro Person und Jahr (2,5 Prozent) im Alter von 63 bis 65 Jahren. Besuche bei Spezialist*innen steigen um knapp 0,2 pro Person und Jahr (2,5 Prozent) im Alter von 60 bis 62 Jahren und um gut 0,2 pro Person und Jahr (4,1 Prozent) im Alter von 59 Jahren. Im Alter von 63 bis 65 Jahren ergibt sich keine signifikante Veränderung der Besuche bei Spezialist*innen in Folge der Reform.

Die Gründe für den beträchtlichen Effekt für 59-jährige Frauen sind vielfältig. Eine Möglichkeit ist, dass Frauen, die 1952 geboren wurden, versuchen könnten, über die Erwerbsminderungsrente vorzeitig in den Ruhestand zu gehen, da es keine vorgezogene Altersrente gibt. Die Erwerbsminderungsrente wird nur gewährt, wenn bei einer Person eine Erwerbsminderung vorliegt, die durch eine sozialmedizinische Beurteilung bestätigt wird. Behandlungsfälle könnten ein Indiz dafür sein, dass Frauen des Jahrganges 1952 versuchen, eine Erwerbsminderung aus medizinischen Gründen nachzuweisen. Frühere Untersuchungen der Arbeitsmarkteffekte der Reform zeigen jedoch, dass die Rentenreform von 1999 keine Auswirkungen auf die tatsächlichen Zugänge in Erwerbsminderungsrente hatte.infoJohannes Geyer und Clara Welteke (2021): Closing Routes to Retirement for Women: How do they respond? The Journal of Human Resources 56 (1), 311–341 (online verfügbar). Trotz einer möglichen Zunahme der Anträge und der damit verbundenen Behandlungsfälle unterscheidet sich also der tatsächliche Übergang in die Erwerbsminderungsrente zwischen den Jahrgängen 1951 und 1952 nicht.

Ein weiterer möglicher Grund für die unterschiedliche Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen könnten Unterschiede in der verfügbaren Zeit und in Zeitverwendungsentscheidungen als Reaktion auf die Reform sein. Anspruchsberechtigte Frauen des Jahrgangs 1951 wussten, dass sie mit 60 Jahren in Rente gehen konnten. Daher könnten sie zeitaufwendige Aktivitäten wie (nicht dringende) Arztbesuche um ein Jahr nach dem Renteneintritt verschoben haben. Im Gegensatz dazu erwarteten Frauen des Jahrgangs 1952, dass sie erst einige Jahre später in den Ruhestand eintreten werden, was bedeutet, dass sie zeitaufwendige Aktivitäten nicht unbedingt verschieben konnten. Daher könnten Frauen des Jahrgangs 1952 mehr Arztbesuche im Alter von 59 Jahren aufweisen als Frauen des Jahrgangs 1951.

Gesundheitskosten steigen, aber fiskalisch entlastende Effekte dominieren

Die höhere Nachfrage von Gesundheitsleistungen hat direkte Auswirkungen auf die Gesundheitskosten. Im Durchschnitt steigen die Gesundheitskosten pro Patientin zwischen 59 und 65 Jahren um etwa 14 Euro pro Jahr.infoBei der Berechnung des Kostenanstiegs wurden Preisanstiege gegenüber dem Basisjahr 2009 berücksichtigt. Für die Interpretation ist es wichtig, diesen Betrag ins Verhältnis zu den gesamten fiskalischen Effekten zu setzten. Die Erhöhung des Renteneintrittsalters war aus fiskalpolitischer Sicht sehr positiv.infoJohannes Geyer et al. (2020): Labor market and distributional effects of an increase in the retirement age. Labour Economics 65, 101817 (online verfügbar). Der Rückgang der Verrentungen hatte vor allem einen Anstieg der Beschäftigung zur Folge. In geringerem Ausmaß stiegen auch Arbeitslosigkeit und sonstige Nichtbeschäftigung. Das hatte Effekte auf das Einkommensteueraufkommen, die Transferzahlungen und das Sozialversicherungssystem. Konzentriert man sich nur auf den Jahrgang von 1952 und das Alter von 60 bis 62 Jahren, belaufen sich die kurzfristigen Wirkungen der Reform auf rund vier Milliarden Euro zusätzlicher Einnahmen in den Jahren 2012 bis 2014. Im Verhältnis zu den fiskalischen Effekten sind die zusätzlichen aggregierten Gesundheitskosten relativ niedrig. Näherungsweise belaufen sich die Gesundheitskosten der Reform kurzfristig auf rund 7,7 Millionen Euro pro Jahr, also auf weniger als zwei Prozent der fiskalischen Effekte. Diese Schätzung der Gesundheitskosten ist eher als untere Grenze zu interpretieren, da die Daten nur die ambulante Versorgung abdecken. Die gesamten Kosten sollten also höher ausfallen, jedoch weiterhin nur einen kleinen Teil der fiskalischen Effekte ausmachen. Gleichzeitig werden mögliche indirekte gesamtwirtschaftliche Effekte, wie beispielsweise ein Rückgang der Produktivität durch schlechtere Gesundheit, nicht erfasst. Die relativ geringen Gesundheitskosten sind damit zu erklären, dass nur wenige Personen direkt betroffen sind, insbesondere im Verhältnis zu der großen Zahl der Personen, die durch die Reform länger arbeiten.

Fazit: Erhöhung des Renteneintrittsalters von Frauen hat negative Auswirkungen auf Gesundheit – flankierende Reformen notwendig

Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass die negativen Auswirkungen bei der Anhebung des Renteneintrittsalters für Frauen von 60 auf 63 Jahre für die individuelle Gesundheit überwiegen: Die Erhöhung des effektiven Frühverrentungsalters für Frauen von 60 auf 63 Jahre hat zu einem Anstieg von psychischen Belastungen geführt. Die Häufigkeit von stressbedingten Krankheiten sowie Stimmungsstörungen ist deutlich angestiegen. Das Bild bei der physischen Gesundheit ist weniger eindeutig. Zwar führte die Reform zu einem deutlichen Anstieg in der Häufigkeit von Arthrose, Rückenbeschwerden und Adipositas, hatte allerdings keinen eindeutigen Effekt auf Diabetes, Hochdruckkrankheit, koronare Herzkrankheiten und Schlaganfälle. Die Ergebnisse zeigen aber eindeutig, dass sich die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch die Reform erhöht hat. Die Auswirkungen für das gesamte Gesundheitssystem sind relativ zu den fiskalischen Effekten gering. Die negativen Gesundheitseffekte fallen also primär direkt bei den betroffenen Personen an.

Die Ergebnisse der Studie können wichtige Implikationen für die Diskussion über eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters haben. Präventive Maßnahmen sind notwendig. Investitionen in die Gesundheit, schon in jüngeren Jahren, können die Resilienz am Arbeitsplatz erhöhen. Gleichzeitig sind Investitionen in Bildung und Weiterbildung während des gesamten Erwerbslebens notwendig, um Berufswechsel zum Ende des Erwerbslebens zu erleichtern.infoGesundheit und Bildung sind stark korreliert. Siehe zum Beispiel David M.Cutlera und Adriana Lleras-Muney (2010): Understanding differences in health behaviors by education. Journal of Health Economics 29 (1), S. 1–28 (online verfügbar). Ebenso müssen auch Arbeitsbedingungen an das Alter angepasst werden, damit die Arbeitsbelastung, die mit dem Alter zunimmt, aufgefangen werden kann. Die Politik muss aber auch dafür sorgen, dass die Erwerbsminderungsrente Gesundheitsrisiken von Menschen absichert, die nicht länger arbeiten können. Eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters muss daher durch zusätzliche Reformen bei der Erwerbsminderungsrente flankiert werden.

Johannes Geyer

Stellvertretender Abteilungsleiter in der Abteilung Staat

Peter Haan

Abteilungsleiter in der Abteilung Staat



JEL-Classification: I10;I14
Keywords: Retirement age, Pension reform, Health, Health expenditures
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-41-1

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