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Drei Maßnahmen, die die Bundesregierung jetzt anvisieren sollte

Blog Marcel Fratzscher vom 3. November 2022

Dieser Beitrag erschien in der WELT.

Wumms und Doppelwumms: Kein europäisches Land hat in der Krise so viele Finanzhilfen mobilisiert wie Deutschland. Der Staat verteilt das Geld jedoch nach dem Gießkannenprinzip – er müsste andere Maßnahmen ergreifen.

Der Bundesfinanzminister hat sich sichtlich über die neue Steuerschätzung gefreut, die im Vergleich zum Frühjahr mehr als 120 Milliarden Euro an zusätzlichen Einnahmen für die kommenden Jahre voraussagt. Was für den Staat erfreuliche Nachrichten sind, geht letztlich aber erst einmal auf Kosten von Bevölkerung und Unternehmen, die für diese  Steuereinnahmen aufkommen müssen. Die nun anstehende Konzertierte Aktion bietet dem Staat eine exzellente Gelegenheit, über gezielte Maßnahmen etwas von den zusätzlichen Steuereinnahmen zurückzugeben.

Profitieren sollten dabei vor allem Menschen mit geringen Einkommen, da sie besonders von der aktuellen Krise betroffen sind. Wenn die  Steuerschätzung nach oben hin angepasst wird, ist dies für gewöhnlich das Resultat einer boomenden Wirtschaft. Davon profitieren Menschen, Unternehmen und Staat gleichermaßen. Doch ein solcher Boom ist in weiter Ferne.

Dieser Text erschien am 2. November 2022 in der WELTplus.

Vielmehr handelt es sich in der aktuellen Situation – steigende Steuereinnahmen bei einer schrumpfenden Wirtschaft – letztlich um eine Umverteilung von Geldern hin zum Staat. Bei einem Lohnanstieg von durchschnittlich vier bis fünf Prozent und einer Inflation von fast zehn Prozent verlieren die Einkommen der meisten Beschäftigten in Deutschland allein in diesem Jahr fünf Prozent an Kaufkraft. Im kommenden Jahr werden sie wohl nochmals einen ähnlichen Verlust hinnehmen müssen. Bei einer durchschnittlichen Inflation von 20 Prozent  alleine bei Nahrungsmitteln bedeutet dies konkret, dass ein Wocheneinkauf im Supermarkt statt 100 nun 120 Euro kosten wird. An diesen gestiegenen Ausgaben verdient der Staat durch die Mehrwertsteuer von 19 beziehungsweise sieben Prozent ordentlich mit. Daher erscheint es zwingend, dass der Staat diese Mehreinnahmen an Bürgerinnen und Bürger zurückgibt und sich nicht zu deren Lasten in der Krise bereichert. Dies tut der Staat zu einem großen Teil automatisch, denn ein Anstieg der Inflation bedeutet auch, dass viele seiner Ausgaben wie Renten, Sozialleistungenoder Löhne im öffentlichen Sektor stärker ansteigen werden.

Von der kalten Progression profitieren Besserverdienende

Trotz dieser Mehrausgaben wird dem Staat noch eine Menge Geld übrigbleiben, welches er an die Menschen zurückgeben kann und sollte. Dies hat der deutsche Staat durch 190 Milliarden Euro an Ausgaben für die bisherigen vier Entlastungspakete bereits versprochen. Die Kritik sollte sich aber dennoch nicht nur darauf beziehen, dass der Staat sich an der Inflation bereichert. Zu kritisieren gilt es stattdessen auch, dass er dieses Geld nicht zielgenau an Menschen mit geringen und mittleren Einkommen zurückgibt. Diese benötigen die Hilfe nun am dringendsten. Die Bundesregierung verweist in diesem Zusammenhang auf ihr Inflationsausgleichsgesetz.

Nur profitieren von dem partiellen Abbau der so genannten kalten Progression hauptsächlich Besserverdiener, denn 70 Prozent der knapp 14 Milliarden Euro kommen den 30 Prozent der Einkommensstärksten zugute. Auch die Entlastungspakete sind wenig zielgenau und unzureichend für Menschen mit mittleren und geringen Einkommen, zumal diese meist eine individuell deutlich höhere Inflation erfahren als Menschen mit hohen Einkommen. Das liegt daran, dass sie einen viel größeren Anteil ihres Einkommens für Dinge ausgeben müssen, die nun besonders teuer geworden sind, etwa Energie und Lebensmittel.

Auch der größere Teil der Ausgaben für die geplante Gaspreisbremse wird den Besserverdienern mit hohem Verbrauch und großen Wohnungen und Häusern zugutekommen, und weniger denen, die niedrigere Einkommen haben und schon in der Vergangenheit sehr sparsam mit ihrer Energie umgehen mussten.

Einmalzahlungen auch für diejenigen ohne Gewerkschaft im Rücken

Die Bundesregierung sollte daher in den kommenden Monaten drei weitere Maßnahmen anvisieren, um mehr Solidarität in dieser Krise zu gewährleisten. Zu allererst könnte der Staat Direktzahlungen an Menschen leisten, die in Wirtschaftssektoren tätig sind, die durch niedrige Einkommen und das Fehlen von Tarifverträgen gekennzeichnet sind. Die wenigsten dieser Beschäftigten werden von den steuerfreien 3000 Euro ihrer Arbeitgeber profitieren, die Kassiererin im Supermarkt oder die Gebäudereiniger drohen leer auszugehen. Ähnlich wie die Politik dies in der Corona-Pandemie für die Pflege getan hat, so könnten Einmalzahlungen von 3000 Euro durch den Staat an alle Beschäftigten in solchen Sektoren fließen, in denen generell niedrige Löhne gezahlt werden und die nicht von Tarifverträgen abgedeckt sind. Wenn mächtige Gewerkschaften für ihre gutverdienenden Beschäftigten in der Chemiebranche Einmalzahlungen von 3000 Euro durchsetzen können, wieso sollen nicht auch Menschen in solchen Branchen profitieren, bei denen die Beschäftigten keine Rückendeckung durch Gewerkschaften haben und viele Unternehmen schlichtweg nicht in der Lage sind, so große Sonderzahlungen zu leisten?

Grundsicherung erhöhen

Als zweites sollte die Bundesregierung die Sozialleistungen für Menschen in der Grundsicherung erhöhen. Der Umstieg von Hartz IV auf das Bürgergeld ist ein guter erster Schritt. Aber die Erhöhung um 53 Euro von 449 auf 502 Euro wird die Mehrbelastung durch die hohe Inflation bei Lebensmitteln und anderen Bestandteilen der Grundversorgung in diesem und im nächsten Jahr bei Weitem nicht ausgleichen können. Viele Sozialverbände schlagen einen Satz von 600 Euro oder mehr vor, was in dieser Krise eine wichtige Entlastung wäre. Und bei einem Anstieg des Mindestlohns auf zwölf Euro kann keine Rede davon sein, dass Arbeit sich deshalb nicht mehr lohne.

Europäisch denken

Als dritte Maßnahme sollte die Politik nicht nur national, sondern auch europäisch denken und handeln. Solidarität darf in einer solchen Krise kein rein nationales Phänomen sein und die Bundesregierung sollte dem Druck der europäischen Nachbarn nachgeben, etwa indem sie einen stärker europäischen Ansatz zur Abfederung der Energiekrise unterstützt. Der Staat darf nicht als Gewinner aus der Inflation und der Wirtschaftskrise hervorgehen. Die gute Botschaft ist: Es gibt kaum eine Regierung in Europa, die in dieser Krise mehr Geld mobilisiert hat, um Menschen und Unternehmen zu schützen. Jedoch gibt es auch eine schlechte Botschaft: Der deutsche Staat verteilt dieses Geld zu sehr nach dem Gießkannenprinzip und zu wenig kommt bei den Menschen an, die wenig haben und besonders dringend Unterstützung und Schutz benötigen. Dies muss nicht sein.

Themen: Europa

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