Blog Marcel Fratzscher vom 4. November 2022
Der Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in China steht unter keinem guten Stern. Von ihm wird erwartet, dass er Chinas Präsident Xi Jinping zum Einlenken im Russland-Konflikt bewegt, die wirtschaftlichen Beziehungen zu China neu ordnet und gleichzeitig lukrative Deals für deutsche Konzerne möglich macht. Dieser Spagat kann ihm nicht gelingen.
Dieser Text erschien am 03. November 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Der Bundeskanzler sollte in der Wirtschaftspolitik eine werteorientierte Außenwirtschaftspolitik in den Mittelpunkt stellen, so wie es die Bundesregierung im Koalitionsvertrag versprochen hat und wie es nun auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock fordert. Dies ist kein Luxus. Eine Außenwirtschaftspolitik, die auf klaren Werten und einer Symmetrie der Beziehungen beruht, ist langfristig überlebensnotwendig für die Wirtschaft und den Wohlstand Europas.
Das Problem der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Europa und China liegt heute in zwei Bereichen: in der Asymmetrie der wirtschaftlichen Abhängigkeit und in den höchst ungleichen Wettbewerbsbedingungen in Bezug auf Werte und Standards. Deutschland und Europa importieren sehr viel mehr aus China als China aus Europa. Bei den Direktinvestitionen ist es umgekehrt: Europäische Unternehmen investieren viel mehr in China als chinesische Unternehmen hier. Dies alleine ist noch nicht zwingend ein Problem, denn es gibt keinen guten ökonomischen Grund, wieso Handel und Investitionen zwischen zwei Volkswirtschaften gleich groß sein sollten.
Das Problem liegt vielmehr in der Asymmetrie der Abhängigkeit, die Europa und allen voran Deutschland, enorm erpressbar macht. Denn die europäische Wirtschaft ist stark abhängig von chinesischen Rohstoffen. 70 Prozent der weltweiten Produktion von Magnesium, 60 Prozent von seltenen Erden und mehr als die Hälfte von Aluminium und Bauxit stammen aus China. Ein noch größerer Anteil steht unter der Kontrolle von chinesischen Unternehmen, die sich den strategischen Zugang über viele Produzenten in Afrika und Asien gesichert haben. Zudem sind wichtige deutsche Konzerne extrem abhängig von ihrem China-Geschäft. Volkswagen beispielsweise erzielt fast 40 Prozent seiner Erträge in China, bei den anderen großen deutschen Automobilherstellern ist es nur geringfügig weniger.
Eine dritte Asymmetrie ist der Zugang chinesischer Unternehmen zur kritischen Infrastruktur in Europa, etwa die Beteiligung des chinesischen Staatskonzerns Cosco an vielen europäischen Häfen. Dagegen haben europäische Unternehmen keinen Zugang zu solch kritischer Infrastruktur in China. Was also chinesischen Unternehmen in Europa erlaubt ist, ist deutschen und europäischen Unternehmen in China verboten – und dies geht weit über Eigentum und Direktinvestitionen hinaus. Es betrifft beispielsweise auch den wichtigen Bereich der öffentlichen Vergabe.
Eine solche Asymmetrie mag in guten Zeiten – ohne Krise und ohne Krieg – funktionieren und ist eine Zeit lang meist hochprofitabel. Gerade Deutschland hat lange von billiger Energie, Rohstoffen und Vorleistungen aus der ganzen Welt profitiert. Aber mit den gestörten Lieferketten Chinas in der Corona-Pandemie und nun durch Russlands Krieg realisieren wir, wie schädlich eine solch asymmetrische Abhängigkeit ist.
Diese Asymmetrie ist nur eine der Gefahren für die europäische Wirtschaft. Langfristig werden die ungleichen Spielregeln – allen voran die Unterschiede bei Werten und Standards – ausschlaggebend für den wirtschaftlichen Erfolg und damit auch die politische Macht sein.
Am Wirtschaftsstandort Europa müssen sich Unternehmen an immer striktere Regeln in Bezug auf Datenschutz und Privatsphäre halten. In China hingegen werden persönliche Daten eher als Ressource verstanden, um Innovationen voranzutreiben und Menschen zu kontrollieren. In Europa gibt es einen hohen Schutz bei Arbeitsbedingungen und Menschenrechten – in China gibt es Zwangsarbeit und Menschenrechte werden häufig missachtet. In Europa gelten strikte ethische Standards bei Forschung und Entwicklung – in China dagegen wurde beispielsweise das erste geklonte menschliche Embryo entwickelt. In Europa gelten immer höhere Standards beim Klimaschutz – in China sind sie sehr viel niedriger. In Europa gibt es eine klare Trennung zwischen privaten Unternehmen und dem Staat. In China erhalten private Unternehmen häufig riesige staatliche Subventionen und werden politisch instrumentalisiert. Europa geht es um fairen Wettbewerb in einer Marktwirtschaft – China um das Ziel der globalen Dominanz, dem Wettbewerb, Freiheit und Märkte unterzuordnen sind.
Um nicht missverstanden zu werden: Vieles des hier Beschriebenen trifft nicht nur auf China zu, sondern auf unzählige Länder der Welt. Der Unterschied ist jedoch: Zimbabwe, Venezuela oder Myanmar sind wirtschaftlich klein und unbedeutend. China dagegen ist riesig und die Unternehmen des Landes stehen bereits heute in vielen Zukunftssektoren – von digitalen Plattformen über Mobilität bis hin zur künstlichen Intelligenz – im direkten Wettbewerb mit Unternehmen in Europa.
Die höheren Standards und Werte, nach denen europäische Unternehmen handeln müssen, sind zumindest kurzfristig ein Nachteil im harten globalen Wettbewerb. Sie begrenzen, was Unternehmen in Europa tun können und führen zu deutlich höheren finanziellen Kosten. In den globalen Märkten der Zukunft, die von digitalen Plattformen von globaler Reichweite mit wenigen, dominanten Firmen geprägt sind, werden daher Unternehmen am Standort Europa zunehmend an Bedeutung verlieren. Damit werden sich zunehmend Unternehmen im globalen Markt durchsetzen, die dort angesiedelt sind, wo die Standards am niedrigsten sind.
Dies führt schon heute immer häufiger zu einem Unterbietungswettbewerb, bei dem Standards kompromittiert werden und Werte, die für uns in Europa wichtig sind, an Bedeutung verlieren. Bereits in den vergangenen 20 Jahren sind viele europäische Unternehmen auch deshalb abgewandert, weil sie anderswo geringere Standards erfüllen müssen und damit billiger produzieren können. So ist Europa beispielsweise im globalen Steuerwettbewerb mitgezogen und hat die Unternehmenssteuern massiv reduziert, um nicht noch mehr Steuereinnahmen an sogenannte Steueroasen zu verlieren.
Das langfristige Resultat wird unweigerlich sein, dass wir nicht mehr, sondern weniger der für uns wichtigen Werte werden realisieren können, wenn die Märkte der Zukunft zunehmend von Unternehmen dominiert werden, die nicht diesen Standards folgen. Das ist das Paradoxon: Je höher wir die Standards für uns in Europa setzen, desto weniger unserer Werte werden wir letztendlich realisieren können – sofern diese nicht zu globalen Standards werden.
Vor allem Deutschland hat in den vergangenen 70 Jahren zu sehr eine merkantilistische Außenwirtschaftspolitik verfolgt, bei der es primär um die kurzfristige Maximierung von Exporten und Unternehmenserträgen ging und weniger um die Symmetrie der Wirtschaftsbeziehungen und die Wahrung von Werten.
Getreu dem Motto "Wandel durch Handel" haben wir gerne unter der Rechtfertigung weggeschaut, enge wirtschaftliche Beziehungen mit autokratischen Ländern würden eine Demokratisierung und Öffnung eben dieser Länder anstoßen. Diese Außenwirtschaftsstrategie hat 70 Jahre lang meist gut funktioniert, weil globale Märkte fragmentiert waren und es kein China gab, das als großes Land ganz offen und selbstbewusst die Spielregeln des Westens ignoriert und dem es in der China-2025-Strategie nicht um Vielfalt und Wettbewerb geht, sondern um globale Dominanz.
Spätestens jetzt mit Russlands Krieg gegen die Ukraine und Chinas Wende zur Diktatur müssen wir erkennen, dass Wohlstand so viel mehr ist als ein hohes Bruttosozialprodukt oder Exportweltmeister zu sein. Eine intakte Umwelt, sinnstiftende Arbeit, Solidarität, Gerechtigkeit, sozialer Friede und der Schutz der Freiheit und anderer demokratischer Werte erfordern eine werteorientierte Wirtschaftspolitik. Oder, wie es NATO-Generalsekretär Stoltenberg ausdrückt: Freiheit ist wichtiger als Freihandel.
Was ist zu tun? Deutschland und Europa müssen nicht nur eine gemeinsame China-Strategie, sondern eine Außenwirtschaftsstrategie formulieren, die Symmetrie und Werteorientierung aller wirtschaftlichen Beziehungen in den Mittelpunkt stellt. Dazu muss Europa endlich mit einer Stimme sprechen und sich mit den USA über die Eckpunkte dieser Strategie einigen. Eine solche Strategie ist kein Luxus, sondern überlebenswichtig für den Wirtschaftsstandort Europa, für unseren wirtschaftlichen Wohlstand und ultimativ für die Frage, nach welchen Werten wir in Zukunft leben wollen.
Themen: Europa , Märkte , Ressourcenmärkte , Wettbewerb und Regulierung