Blog Marcel Fratzscher vom 12. Dezember 2022
Ein Jahr regieren SPD, Grüne und FDP zusammen – mit erstaunlichem Pragmatismus und Erfolgen für die Sozialpolitik. Doch es gibt Fehler, die schwere Folgen haben könnten.
Die Umfragewerte der aktuellen Bundesregierung sind nach ihrem ersten Jahr auf dem Tiefpunkt. Die FDP kratzt nach Niederlagen in den Landtagswahlen in diesem Jahr bei Umfragen bundesweit an der Fünfprozenthürde. Die SPD liegt mit weniger als 20 Prozent Zustimmung weit hinter der CDU/CSU. Nur die Grünen haben im Vergleich zu den Bundestagswahlen an Zustimmung zulegen können und stellen mit Annalena Baerbock und Robert Habeck die zwei beliebtesten Politikerinnen und Politiker der Bundesregierung. Die großen politischen Gewinner dieser Krise scheinen aber die Oppositionsfraktionen CDU/CSU und AfD zu sein.
Dieser Text erschien am 09. Dezember 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Dabei ist die Leistung der Ampel-Regierung besser als ihr Ruf, denn sie hat einige wichtige, aber kaum wahrgenommene Erfolge in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verbuchen.
Der vielleicht meist unterschätzte Erfolg der Bundesregierung ist die Versorgungssicherheit bei der Energie. Noch im Sommer waren sich viele einig, dass ein Lieferstopp von russischem Gas zu einer Mangellage führen könnte, die fatale Folgen hätte: Von Produktionsausfällen in der Industrie und einer massiven Wirtschaftskrise war die Rede. Das ist zum Glück nicht passiert, mittlerweile sind die Gasspeicher zu fast 100 Prozent gefüllt, auch dank einer klugen, wenn auch teuren Einkaufspolitik von zusätzlichen Gaslieferungen. Diese Politik hat auch dazu geführt, dass die Energiekosten wieder sinken und sich die Sorgen vor einer Welle von Unternehmenspleiten oder gar einer Deindustrialisierung erst einmal als übertrieben erwiesen haben – auch wenn es zu früh für Entwarnung ist.
Ein zweiter Erfolg sind zahlreiche soziale Reformen. Die Einführung des Bürgergelds ist ein wichtiger Systemwechsel, vor allem bei dem Abbau von Sanktionen und der finanziellen Unterstützung. Die Ausweitung der Wohngeldempfängerinnen und -empfänger von gut 700.000 auf knapp zwei Millionen ist eine riesige Hilfe für viele Bedürftige, genauso wie die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro, von der mehr als sechs Millionen Beschäftigte direkt und nochmals deutlich mehr indirekt profitieren. Die Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat ein "Bündnis für die junge Generation" gestartet, um jungen Menschen endlich mehr Gehör und mehr Unterstützung in diesen Krisen zu geben, und damit die Grundlage für die Einführung der Kindergrundsicherung gelegt. Und die Ampel hat eine längst überfällige Reform des Zuwanderungsgesetzes auf den Weg gebracht, um das Fachkräfteproblem anzugehen.
Ein dritter Erfolg der Bundesregierung ist ihre Außenpolitik und die Tatsache, dass sie auf globaler Bühne mehr Verantwortung übernimmt. Bundesaußenministerin Baerbock war eine der treibenden Kräfte, damit beim Weltklimagipfel in Ägypten zumindest ein kleiner Fortschritt gemacht werden konnte, um den Ärmsten der armen Länder zu helfen.
Vielleicht der bemerkenswerteste Aspekt war und ist der Pragmatismus der Bundesregierung. Die Bundesregierung als Ganzes und jede einzelne der drei Koalitionsparteien war in ihrer Krisenpolitik gewillt, mit Tabus zu brechen. Die Grünen haben die Verlängerung der Nutzung von Atomkraftwerken und die Reaktivierung von Kohlekraftwerken möglich gemacht. Die SPD hat Kompromissen bei Reformen der Sozialsysteme zugestimmt. Die FDP und allen voran Bundesfinanzminister Christian Lindner hat riesige Mehrausgaben von mehreren Hundert Milliarden Euro für Wirtschaftshilfen und die Bundeswehr – und letztlich eine Umgehung der Schuldenbremse – möglich gemacht.
Überwiegend wird aber nicht über die Erfolge, sondern über die Schwächen und Fehler im ersten Jahr der Regierung berichtet. Ich sehe die unzureichende soziale Gestaltung und Absicherung von Menschen mit wenig Einkommen als eines der größten Mankos in dieser Krise. Zwar gibt es kaum eine Regierung, die mit mehr Geld Wirtschaft und Gesellschaft unterstützt. Aber dieses Geld wird viel zu sehr per Gießkannenprinzip und an die mächtigsten Interessengruppen verteilt. Es kommt vor allem den großen Unternehmen und Menschen mit hohen Einkommen zugute – und viel zu wenig Kleinunternehmen und Menschen mit wenig Einkommen und geringen Schutzmechanismen. Anstelle von Tankrabatt, Gaspreisbremse für alle und den meisten Geldern für Unternehmen und Menschen mit hohen Einkommen hätte die Bundesregierung eine ausreichende Energiepauschale lediglich für Menschen mit mittleren und geringen Einkommen auszahlen sollen. Dies wäre trotz aller bürokratischen Hürden nach wie vor wichtig, um die zunehmende soziale Polarisierung der Gesellschaft zu verlangsamen. Zugleich hätte ein solches Instrument eine stabilisierende Wirkung für die Wirtschaft.
Die zweite Schwäche der Ampel-Regierung ist es, der ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Transformation zu wenig Gewicht zu geben und wichtige Reformen auf die Zukunft zu verschieben. Erneuerbare Energien werden nach wie vor viel zu langsam ausgebaut. Die Politik hat zu wenig getan, um bürokratische Hürden abzubauen und Prozesse zu beschleunigen – obwohl dies möglich wäre, wie der Bau der LNG-Terminals in Rekordzeit zeigt. Deutschland macht sich weiterhin zu stark abhängig von China und anderen autokratischen Regimen, anstatt auf eine werteorientierte Außenpolitik – wie im Koalitionsvertrag versprochen – inklusive einer werteorientierten Außenwirtschaftspolitik zu pochen. Und auch die digitale Transformation verläuft bisher im Sande, auch weil es an Kompetenzen und politischem Willen zu fehlen scheint. Und so ist die ökologische und wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit Deutschlands heute gefährdeter denn je, von der angekündigten Zeitenwende ist derzeit nicht viel zu erkennen.
Die dritte Schwäche ist die fehlende Verantwortung Deutschlands in Europa. Oft vergessen wir, dass auch Deutschland nur gut durch diese Krise kommen wird, wenn unsere Nachbarländer die Krise ähnlich gut meistern können. Große Empörung entsteht hierzulande über die Politik der USA. Die US-Regierung subventioniert nämlich die einheimischen Unternehmen. Gleichzeitig empören wir uns, wenn unsere Nachbarn uns für die riesigen Subventionen für fossile Energieträger kritisieren. Doch faktisch führt auch unsere Politik zu einer marktverzerrenden Wirkung und der Protektionismus benachteiligen Unternehmen in anderen Ländern deutlich gegenüber deutschen Unternehmen. Deutschland muss dringend, vor allem zusammen mit Frankreich, mehr Verantwortung in Europa übernehmen, nicht nur in Bezug auf den Krieg und die Hilfe für die Ukraine, sondern auch, damit alle in Europa gut durch die Krise kommen und zukunftsfähig bleiben.
Das Zeugnis für das erste Jahr der Ampel-Regierung fällt daher gemischt aus: Es gibt Fehler und Versäumnisse, aber auch Erfolge. Erstaunlich ist, dass die Leistung der Bundesregierung überwiegend negativ wahrgenommen wird. Zum einen liegt es sicherlich an einer, höflich ausgedrückt, suboptimalen Kommunikation. Es ist der Bundesregierung bisher nicht gelungen, den Menschen zu erklären, wieso manche Maßnahmen notwendig sind und warum wir uns auf einige sehr schwierige Jahre einstellen müssen.
Ein zweiter Grund ist die Zerstrittenheit innerhalb der Ampel-Koalition und eine geringe Solidarität der Opposition. Allen voran die Union verhindert, dass in schwierigen Krisenzeiten zusammengestanden wird und gemeinsam Lösung gesucht werden. So blockierte die CDU/CSU im Bundesrat selbst die Einführung des Bürgergelds. Diese stetigen und wiederholten Streitigkeiten der Politik in so schwierigen Krisenzeiten haben die Gesellschaft stärker polarisiert und bestehende Verteilungskämpfe vertieft. Diese politische Kultur verhindert in einer so tiefgreifenden Krise, politisch gemeinsam an einem Strang zu ziehen, und befördert, parteipolitische Erfolge über die Interessen von Gesellschaft und Wirtschaft zu stellen. Dies stellt heute und in den kommenden drei Jahren die größte Hürde für eine erfolgreiche und nachhaltige Krisenbewältigung dar.
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