Medienbeitrag vom 30. Januar 2023
Der Beitrag erschien in gekürzter Fassung unter dem Titel "Ein Weg aus der Altersarmut" in der FAZ am 30. Januar 2023, S. 16 und auf FAZ.NET.
Benötigt das Rentensystem mehr Umverteilung?
Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland wird von der Beitragsäquivalenz geprägt: die Rente orientiert sich in ihrer Höhe im Wesentlichen an den zuvor gezahlten Beiträgen. Das bedeutet, dass die späteren monatlichen Renten für eine versicherte Person umso höher sind je mehr Beiträge sie lebenslang gezahlt hat. Das sieht erst einmal prozedural gerecht aus. Es führt aber dazu, dass Versicherte, die längere Erwerbsunterbrechungen oder niedrige Einkommen hatten und daher nur wenig Beiträge zahlten, im Alter überdurchschnittlich von Armut bedroht sind. Altersarmut, der die Betroffenen kaum mit eigenen Kräften entkommen können, wird als besonders ungerecht empfunden und alle politischen Parteien haben das Ziel, Altersarmut zu reduzieren. Allein deswegen sollte man – wie dies im Übrigen in den meisten Staaten der westlichen Welt der Fall ist – das Äquivalenzprinzip als Prozedur in Frage stellen. Es ist aber noch komplizierter:
Während die relative Lohnposition und die daraus resultierenden Beiträge, die Höhe der monatlichen Rente bestimmen, gilt dies nicht für die Summe aller ausgezahlten Renten, also für die Anzahl der Monate, in denen eine Rente bezogen wird. Dies ist prozedural auch vernünftig, da es sich beim gesetzlichen Rentensystem um eine Versicherung mit Risikoausgleich handelt. Das System versichert gegen das Risiko eines langen Lebens und daher ist es nicht notwendig für ein potentiell sehr hohes Alter maximal vorzusorgen. Das bedeutet aber: wer früh stirbt, erhält weniger Renten in der Summe ausgezahlt als die Person, die Glück hat und lange lebt. Ob dies als verteilungsgerecht bewertet werden kann, hängt davon ab, ob Unterschiede in der Lebenserwartung rein zufällig sind. Die Daten zeigen freilich eindeutig, dass das nicht der Fall ist. Analysiert man die Verteilung der Lebenserwartung stellt man – nicht nur für Deutschland – fest, dass die Lebenserwartung systematisch vom Bildungsniveau, von Unterschieden in der Belastung im Beruf und vom Einkommen abhängt. Das Bildungsniveau wiederum wird stark vom sozialen Umfeld bestimmt, in das man hineingeboren wird. Das führt dazu, dass es bei der Summe der ausgezahlten Renten eine systematische Umverteilung von Menschen mit geringen Einkommen zu Menschen mit hohen Einkommen gibt.
Dieser Befund sollte nicht dazu führen, dass die Höhe der Rente direkt von der prognostizierten Lebenserwartung bestimmt wird. Der Zusammenhang zwischen Bildung und Lebenserwartung kann nur geschätzt werden und wird auch durch weitere Faktoren, wie Geschlecht (nicht zu ändern) und Ernährung oder Bewegung (änderbar, wenn oft auch nur schwer) bestimmt. Aber bei der Gestaltung der Alterssicherung sollte berücksichtigt werden, dass die gegenwärtige Ausgestaltung der Beitragsäquivalenz alles andere als eindeutig gerecht ist, weil sie nur auf den Monatsbetrag der Rente abstellt und systematische Unterschiede in der Lebenserwartung unberücksichtigt lässt. Auch kann aus der Forderung nach Beitragsäquivalenz nicht der Schluss gezogen werden, dass innerhalb des Rentensystems keine Umverteilung erfolgen darf. Das hat inzwischen sogar der Sozialbeirat der Bundesregierung, der das Äquivalenzprinzip traditionell sehr hoch hält, bestätigt und „die besonderen Ausgleichsmechanismen“ der gesetzlichen Rente als zentral betont, also genau die Mechanismen, die nicht der Beitragsäquivalenz folgen! Zwar sind nicht alle Bevölkerungsgruppen in die Umverteilung der Rentenversicherung eingeschlossen (die meisten Selbständigen und die Beamten sind nicht eingeschlossen), aber diede beteiligen sich über den steuerfinanzierten Staatszuschuss an der Umverteilung.
Durch den Renteneintritt der Babyboomer in den kommenden Jahren steht das Rentensystem vor großen Herausforderungen. In den kommenden 15 Jahren werden etwa 13 Millionen Erwerbstätige das Renteneintrittsalter überschritten haben, etwa 30 Prozent der derzeit dem Arbeitsmarkt zu Verfügung stehenden Personen. Das führt zu einer finanziellen Belastung des Systems. Gleichzeitig nimmt das Risiko von Altersarmut zu, insbesondere für Personen, die in den 1990 und 2000 Jahren von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Eine systematische Abkehr von der bisherigen Ausgestaltung der Beitragsäquivalenz könnte einen wichtigen Beitrag leisten, um beiden Herausforderungen zu begegnen. Dazu bedarf es einer Reihe von Änderungen, die teilweise im Ausland bereits existieren (Österreich, Schweiz oder USA). Wir nehmen im Folgenden aber nicht auf ausländische Systeme konkret Bezug, da diese sich in vielerlei Hinsicht vom deutschen Rentensystem aber auch bei der Besteuerung unterscheiden. Es wäre daher irreführend, wenn man einzelne Länder als Vorbild nennt.
Durch eine Mindestrente können auch Menschen, die nur wenige Jahre in die Rente einbezahlt haben und damit besonders von Altersarmut bedroht sind, ausreichend abgesichert werden. Mit der Einführung der Grundrente ist die große Koalition bereits einen Schritt in diese Richtung gegangen, allerdings sind die erforderlichen 33 Beitragsjahre sehr hoch angesetzt und man kann sich über die Höhe der Grundrente streiten. Aus rein ökonomischer Sicht ist eine Einkommensprüfung im Haushaltskontext sinnvoll, da dadurch keine Mindestrenten an diejenigen ausgezahlt werden, die über auskömmliche andere Einkünfte verfügen. Aber eine standardmäßige Einkommensprüfung wird von Vielen als diskriminierend angesehen. Eine einfache Lösung würde darin bestehen, dass eine Mindestrente gezielt besteuert wird; und zwar so, dass nur Haushalte betroffen wären, die andere Einkünfte haben. Auch der bürokratische Aufwand einer gezielten Besteuerung dürfte geringer sein als eine Einkommensprüfung vor Auszahlung der Mindestrente.
Die Einführung einer ordentlichen Mindestrente würde natürlich das Rentensystem nicht entlasten: im Gegenteil, die Finanzierung würde – bei sonst gleichem Rentenrecht – noch schwieriger werden als es jetzt absehbar ist. Daher sollte die Beitragsäquivalenz auch für höhere Beiträge bzw. Einkommen abgeschwächt werden. Die Rentenformel könnte angepasst werden, sodass die Rentenzahlungen bei hohen Rentenansprüchen geringer ausfallen oder Menschen mit hohen Arbeitseinkommen könnten überproportional Beiträge leisten. Bei der Entscheidung welches Modell man wählt, sollten neben juristischen Fragen auch mögliche Effizienzverluste berücksichtigt werden. Diese könnten entstehen, wenn Menschen bei einer Abkehr der gegenwärtigen Form der Beitragsäquivalenz ihr Arbeitsangebot reduzieren, in nicht versicherungspflichtige Tätigkeiten oder ins Ausland ausweichen. Überbewerten sollte man die Größe dieser Effizienzverluste nicht, was man daran erkennen kann, dass auch die Verzerrungen, die durch gegenwärtige Form der Beitragsäquivalenz zu Lasten von Gruppen mit niedriger und zu Gunsten von Gruppen mit hoher Lebenserwartung entstehen, als irrelevant eingestuft werden. Freilich: während es zu der Höhe der Effizienzverluste unterschiedliche Ergebnisse gibt, kann gezeigt werden, dass Verzerrungen, die in der Zukunft liegen – also erst in der Rentenphase – geringere negative Auswirkungen haben als Verzerrungen, die bereits während der Erwerbsphase relevant sind. Das spricht dafür, die Beiträge zum Rentensystem proportional zum Einkommen zu belassen und ggf. die Beitragsbemessungsgrenze zu erhöhen, aber die Rentenansprüche auf höhere Einkommen bzw. Beiträge zu reduzieren.
Wie auch immer die Reformen „rententechnisch“ umgesetzt würden: die Abkehr von der gegenwärtigen Beitragsäquivalenz hin zu einer weniger starken Beitragsabhängigkeit der Renten würde helfen, Rentnerinnen und Rentner mit niedrigen Renten besser zu stellen als das gegenwärtig und absehbar der Fall ist. Dabei ist wichtig einen Weg zu finden, der keine Dunkelziffer durch Nicht-Inanspruchnahme offen lässt.
Eine mögliche Alternative zur expliziten Abkehr von der Beitragsäquivalenz wäre die Einführung einer obligatorischen zusätzlichen private Altersvorsorge, mit staatlichen Zuschüssen für Haushalte mit geringen Einkommen, die sich die private Vorsorge nicht leisten können. Die Einführung und Umsetzung einer solchen Reform wäre aber sicherlich aufwändig, würde weniger zielgenaue gegen Altersarmut wirken, als eine Mindestrente und die Wirkungen würden Jahrzehnte auf sich warten lassen.
Schließlich sei bedacht: Wenn für Menschen mit niedrigen Rentenanwartschaften ein auskömmliches Rentenniveau garantiert wird (insbesondere auch im Falle einer Erwerbsminderung), dann sollte es auch leichter fallen einen weiteren Gestaltungsparameter anzugehen: die Regelaltersgrenze mit der man abschlagsfrei in Renten gehen kann.. Diese Altersgrenze, die 2031 bei 67 Jahren liegen wird, könnte dann auch weiter ansteigen. Etwa nach der Formel: ein Jahr zusätzlicher Lebenserwartung wird auf 8 Monate spätere Altersgrenze und vier Monate längeren Rentenbezug aufgeteilt.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Rente und Vorsorge , Ungleichheit