Blog Marcel Fratzscher vom 24. Februar 2023
Menschen mit geringem Einkommen spenden prozentual gesehen mehr als Superreiche. Das wirft Fragen zum Staatsverständnis der Vermögenden auf.
Nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien sind die notleidenden Menschen auf Spenden angewiesen. Die Spendenbereitschaft liegt Untersuchungen zufolge gerade nach Katastrophen sehr hoch, was sich hoffentlich auch in der aktuellen Krise bestätigen wird. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine vor genau einem Jahr hatten die Menschen in Deutschland sogar mehr gespendet als jemals zuvor.
Dieser Text erschien am 24. Februar 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
In Deutschland spenden zwischen 40 und 50 Prozent der Erwachsenen jedes Jahr. Eine Studie des DIW Berlin mit dem Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI) zeigt einen klaren Trend: Die Spendenbereitschaft der Menschen hierzulande nimmt kontinuierlich zu. Im Jahr 2021 etwa wurden 12,9 Milliarden Euro gespendet – das war deutlich mehr als die 10,3 Milliarden Euro im Jahr 2019 oder in vielen früheren Jahren. Wie bereits erwähnt wird ein erheblicher Anteil in der Regel nach Katastrophen gespendet. So gingen in den ersten knapp acht Monaten des Kriegs gegen die Ukraine bis Mitte Oktober 2022 fast 862 Millionen Euro an Spenden für das angegriffene Land ein. Es war die größte Notfallspende in Deutschland der vergangenen 20 Jahre. Die Summe übertraf sogar die knapp 655 Millionen Euro an Spenden für die Opfer des Hochwassers im Sommer 2021.
Die Bedeutung der Notfallhilfe hat jedoch eine Kehrseite, denn sie führt häufig dazu, dass Organisationen, die auf regelmäßige freiwillige Spenden angewiesen sind, große Schwankungen ihrer Einnahmen erfahren. Denn Menschen leiten nach großen oder sehr stark wahrgenommenen Katastrophen ihre Spenden häufig um, die sie sonst für andere Zwecke aufbringen. So sind beispielsweise Spenden für Kranke, für Menschen mit Behinderungen und für Entwicklungshilfe in den vergangenen Jahren teilweise recht deutlich gesunken, da die Spenderinnen und Spender mehr Geld für die aktuellen Katastrophen gaben – zum Beispiel für die Menschen im Ahrtal oder die Ukrainerinnen und Ukrainer. Für gemeinnützige Organisationen ist dies ein großes Problem, denn sie setzen sich gegen die soziale Not in Deutschland ein, die der Staat nicht ausreichend abfedert.
Die Eigenschaften der Menschen, die regelmäßig, häufig und vor allem besonders viel spenden, sagen einiges über unsere Gesellschaft aus. So zeigt die DIW-DZI-Studie, dass vor allem ältere Menschen über 60 Jahre Geld spenden. Viele von ihnen haben im Erwerbsleben ihre Leistung erbracht und engagieren sich nun mit Zeit und Geld für ihre Mitmenschen. Zudem spenden Menschen mit einer höheren Lebenszufriedenheit, solche mit starkem ehrenamtlichem Engagement und religiöse Menschen häufiger. Auch hierfür liegen die Erklärungen auf der Hand, zumal nicht nur im Christentum, sondern auch im Islam und anderen Religionen das Spenden als moralischer Imperativ betont wird. Frauen spenden häufiger als Männer, wenn auch kleinere Beträge – Frauen haben aber in der Regel ein niedrigeres Einkommen, immerhin ist der Gender-Pay-Gap immer noch sehr hoch.
Dann gibt es da noch die vermeintliche Ungereimtheit beim Spendenverhalten nach Einkommen: Menschen mit geringen Einkommen spenden zwar seltener als Menschen mit hohen Einkommen. Wenn die zehn Prozent der Menschen mit den geringsten Einkommen jedoch spenden, dann geben sie im Durchschnitt 1,9 Prozent des durchschnittlichen jährlichen Einkommens ihrer Kohorte. Das ist prozentual doppelt so viel wie die zehn Prozent der Menschen mit den höchsten Einkommen, die – wenn sie spenden, was mehr als 80 Prozent tun – lediglich 0,9 Prozent des Einkommens ihrer Gruppe geben.
Dieser Unterschied verstärkt sich sogar, wenn man die steuerliche Absetzbarkeit von Spenden berücksichtigt, die sich nach dem individuellen Steuersatz richtet. So wird beispielsweise ein Single mit 100.000 Euro Jahreseinkommen für eine Spende von 1.000 Euro um 42 Prozent, also 420 Euro, steuerlich entlastet. Da Menschen mit geringen Einkommen keine oder nur eine geringe Einkommensteuer zahlen, werden sie steuerlich nicht oder geringfügig entlastet. Kurzum: Reiche Spenderinnen und Spender in Deutschland geben gemessen an ihrem verfügbaren Einkommen deutlich weniger Geld als Menschen mit geringer Einkunft.
Hinzukommt ein Aspekt in Bezug auf Vermögen und Ersparnisse: Die 40 Prozent der Menschen in Deutschland mit dem geringsten Einkommen haben in der Regel keine nennenswerten Ersparnisse. Im Gegensatz dazu haben Menschen mit hohem Einkommen meist erhebliche Vermögenswerte. Dies bedeutet, dass Spenden den Menschen mit geringem Einkommen und ohne Rücklagen und Ersparnissen mehr abverlangen als den Wohlhabenden und Vermögenden.
Was erklärt diesen Unterschied im Spendenverhalten? Zumal Gutverdienende tendenziell älter, zufriedener und nicht weniger religiös sind, wie eine Studie zu Hochvermögenden gezeigt hat. Ein Vergleich zwischen Deutschland und den USA kann eine Antwort bieten: In den USA ist das private Spendenaufkommen viel höher als in Deutschland, vor allem von Menschen mit sehr hohem Einkommen und Vermögen. So haben sich zahlreiche Hochvermögende in den USA dem Giving Pledge von Microsoft-Gründer Bill Gates angeschlossen und versprochen, den größten Teil ihres Vermögens noch zu Lebzeiten über Spenden an die Gesellschaft zurückzugeben.
Der gesellschaftliche Konsens in den USA ist: Ein moralisches Leben führt jemand, der erfolgreich ist und viel Vermögen erwirtschaftet, aber arm stirbt und den größten Teil seines Reichtums zu Lebzeiten an die Gesellschaft spendet. In Deutschland dominiert die entgegengesetzte Logik: Ein moralisches Leben ist ein sparsames Leben mit großer Akkumulation von Vermögen, das an die nächste Generation vererbt wird.
Auch ein unterschiedliches Staatsverständnis dürfte eine wichtige Rolle spielen. Anders als in den USA sehen in Deutschland viele die soziale Sicherung primär als Aufgabe des Staates an. Dabei gilt das Motto: Ich zahle Steuern, damit der Staat die sozialen Aufgaben übernimmt und ich keine finanzielle Verantwortung mehr trage. Zudem führen die Mitglieder der großen christlichen Religionsgemeinschaften in Deutschland zwischen acht und neun Prozent ihrer jährlichen Einkommensteuer als Kirchensteuerbeiträge ab, während in den USA die Arbeit der Kirchen direkt mit Spenden und Schecks ihrer Mitglieder finanziert wird.
Und es gibt noch einen Aspekt, der Deutschland unterscheidet: In kaum einem westlichen Industrieland werden private Vermögen so gering besteuert wie in der Bundesrepublik. In den Vereinigten Staaten liegen vermögensbezogene Steuern dreimal höher als hier. Sicherlich teilen viele Hochvermögende in den USA und in Deutschland die Skepsis, ob der Staat ihre Steuereinnahmen sinnvoll verwendet. In Deutschland werden häufiger private Stiftungen gegründet – oft mit dem Ziel, Vermögens- und vor allem Erbschaftsteuer zu vermeiden.
Hier zeigt sich ein Widerspruch in Bezug auf Spenden und Steuern in Deutschland: Viele wollen, dass der Staat die soziale Absicherung übernimmt. Gleichzeitig wird lautstark eine hohe Steuerbelastung beklagt. Viele wollen die Steuern senken, was letztlich den Sozialstaat und die Handlungsfähigkeit des Staates schwächen und damit mehr Spenden für sozial Benachteiligte erforderlich machen würde.
Die Kritik trifft allerdings nicht auf alle Hochvermögenden zu. So engagieren sich immer mehr Erbinnen und Erben hierzulande in Initiativen wie Tax Me Now. Sie haben den Wunsch, der Staat möge große Vermögen stärker besteuern, um seine Aufgaben besser erfüllen zu können, allen Bürgerinnen und Bürgern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, sozialen Frieden zu gewährleisten und öffentliche Leistungen bereitzustellen.
Unser Verhältnis zu Spenden und Steuern in Deutschland ist also stark geprägt von einem widersprüchlichen Staatsverständnis. Mehr Bescheidenheit und Solidarität, damit eine größere Spendenbereitschaft gerade von Gutverdienenden und vor allem die Entrichtung und nicht die Vermeidung von Steuern, würde uns als Gesellschaft guttun. Aber vielleicht ist der einzige Weg, um Solidarität und soziale Absicherung zu ermöglichen, nicht eine höhere Spendenbereitschaft, sondern höhere Steuern auf große Vermögen, sodass der Staat seine Aufgaben ausreichend erfüllen kann.
Themen: Ungleichheit