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Neues DIW-Modell kann Einkommensverteilung am aktuellen Rand vorhersagen – Ungleichheit dürfte in diesem Jahr leicht zunehmen

DIW Wochenbericht 24 / 2023, S. 326-332

Timm Bönke, Geraldine Dany-Knedlik, Laura Pagenhardt

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Die ungleiche Verteilung der Arbeitseinkommen in Deutschland ist regelmäßig ein heiß diskutiertes Thema in Politik und Gesellschaft. Das Problem dabei: Relevante Daten für deren Berechnung liegen meist erst mit großer zeitlicher Verzögerung von teilweise mehr als zwei Jahren vor. Entsprechend in die Vergangenheit gerichtet sind bisherige Studien. Wie sich die Einkommensverteilung am aktuellen Rand entwickelt und derzeitige wirtschaftspolitische Maßnahmen wirken, bleibt in der Regel im Dunkeln. An dieser Stelle setzt das DIW Berlin nun an: Ein neues Prognosemodell erlaubt es, Aussagen über den derzeitigen Stand der Ungleichheit der monatlichen Bruttoarbeitseinkommen abhängig Beschäftigter zu treffen. Dazu wird eine Vielzahl gesamtwirtschaftlicher Arbeitsmarktvariablen, etwa der Anteil von Menschen in Kurzarbeit sowie Bruttolöhne und -gehälter in diversen Wirtschaftssektoren, mit Haushaltsbefragungen wie dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) des DIW Berlin kombiniert. Die Berechnungen in diesem Wochenbericht zeigen, dass das Modell eine hohe Prognosegüte hat. Somit lassen sich auch erstmals Erkenntnisse zu einem längeren Zeitraum nach der Corona-Pandemie gewinnen: Nachdem die Einkommensungleichheit bis 2021, vor allem in den Jahren 2010 bis 2020, abgenommen hat, sagt das neue DIW-Modell für die Jahre 2022 und 2023 eine Unterbrechung dieses Trends voraus. Insgesamt dürfte die Ungleichheit der Arbeitseinkommen im Zuge der wirtschaftlichen Erholung nach der Pandemie sogar leicht zugenommen haben und auch in diesem Jahr noch etwas größer werden.

Die Corona-Pandemie hat die Entwicklung des Arbeitsmarkts und der Arbeitseinkommen der Haushalte in den vergangenen Jahren geprägt. Dabei waren Beschäftigte je nach Branche und Qualifizierungsgrad unterschiedlich stark betroffen, was deutliche Verschiebungen in der Verteilung der Arbeitseinkommen nach sich zog. So ist beispielsweise das durchschnittliche monatliche Bruttoarbeitseinkommen abhängig Beschäftigter in den unteren 40 Prozent der Verteilung im Jahr 2020 gegenüber 2019 um 4,9 Prozent gestiegen. Das der oberen zehn Prozent nahm hingegen nur um 1,4 Prozent zu. Während der Corona-Pandemie haben sich die monatlichen Bruttoarbeitseinkommen insbesondere aufgrund von einkommensstabilisierenden Maßnahmen wie dem Kurzarbeitergeld angeglichen.infoVgl. Geraldine Dany-Knedlik und Alexander Kriwoluzky (2021): Einkommensungleichheit in Deutschland sinkt in Krisenzeiten temporär. DIW Wochenbericht Nr. 46, 755–761 (online verfügbar; abgerufen am 7. Juni 2023. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt).

Bislang fehlen Individual- und Haushaltsdaten darüber, wie sich die Ende 2020 einsetzende wirtschaftliche Normalisierung nach der Pandemie in der Bruttoarbeitseinkommensverteilung abhängig Beschäftigter niederschlägt. Die für die Berechnung notwendigen Mikrodaten aus Haushaltsbefragungen oder administrativen Datenquellen wie Arbeitsmarktdaten der Sozialversicherungen liegen erst mit einem Nachlauf von etwa eineinhalb Jahren vor. Die Verzögerung bei höher aggregierten Statistiken der Bundesagentur für Arbeit oder der Gehalts- und Lohnstrukturerhebung beträgt etwa ein Jahr. Eine zeitnahe Abschätzung der Arbeitseinkommensverteilung in Verbindung mit Haushaltsinformationen und weiteren sozioökonomischen Charakteristika ist nicht nur hilfreich, um die Auswirkungen aktueller Entwicklungen wie die Energiekrise und Rekordinflation einzuschätzen. Sie ist darüber hinaus auch notwendig, um wirtschaftspolitische Maßnahmen, beispielsweise die Höhe des Mindestlohns, steuerliche Entlastungen oder die Inflationsausgleichsprämie, zielgenau gestalten zu können.

Dieser Bericht präsentiert die Ergebnisse eines neuen Prognosemodells für die Verteilung monatlicher Bruttoarbeitseinkommen abhängig Beschäftigter anhand von vierteljährlichen und monatlichen makroökonomischen Indikatoren. Da sich die Struktur des Arbeitsmarkts nur langsam verschiebt, lässt sich annehmen, dass makroökonomische Indikatoren einen relevanten Erklärungsgehalt für die Entwicklung individueller Arbeitseinkommen haben. Dies ermöglicht die Prognose bis an den aktuellen Rand, also einen sogenannten Nowcast, und somit Aussagen über den derzeitigen Stand der Ungleichheit. Da dieser Nowcast zudem auf Mikrodaten basiert, kann die prognostizierte Einkommensentwicklung für unterschiedliche Analysen zur Verteilung des Bruttoinlandsprodukts, der Bewertung von Politikmaßnahmen oder auch zur Prognose des Steueraufkommens genutzt werden.

Im Folgenden wird zunächst die mikrofundierte Datengrundlage des Modells erläutert. Zudem wird die mikrofundierte Arbeitseinkommensverteilung in Zusammenhang mit der Beschäftigungsstruktur in Deutschland dargestellt. Anschließend wird das Prognosemodell präsentiert und die Prognosegüte aufgezeigt. Zuletzt werden die Ergebnisse der Prognose der Arbeitseinkommensverteilung und Implikationen für die Entwicklung der Arbeitseinkommen und ihrer Verteilung für die Jahre 2021, 2022 und 2023 gezeigt und diskutiert.

Einkommensdaten von Haushalten werden stark verzögert veröffentlicht

Die notwendige Basis für die Schätzung von Arbeitseinkommensverteilungen stellen mikroökonomische Daten (Mikrodaten) dar.infoZusätzlich lassen sich Verteilungen auch aus höher aggregierten Daten, zum Beispiel nach Einkommensgruppen tabulierten Statistiken wie der Lohnstrukturerhebung, schätzen. Diese sind zwar schnell verfügbar, aber auf bestimmte Beschäftigungsverhältnisse (zum Beispiel sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer*innen in Vollzeit) beschränkt. Potenzielle Quellen von Mikrodaten zu Arbeitseinkommen in Deutschland sind Haushaltsbefragungen und administrative Daten, beispielsweise der Sozialversicherungen.

Als Grundlage für die Schätzung und Prognose der Arbeitseinkommensverteilung dienen die Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP).infoAlternative Mikrodaten wie die Stichprobe der Integrierten Arbeitsmarktbiografien (SIAB) des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus dem administrativen Prozess der Sozialversicherung stehen mit der gleichen zeitlichen Verzögerung zur Verfügung wie das SOEP. Zwar sind diese Daten in höherer (beispielsweise täglicher oder monatlicher) Frequenz berechenbar, sie geben jedoch keine Informationen zum sozioökonomischen Kontext, insbesondere der Größe des Haushalts, die für weiterführende Analysen wie die Bewertung fiskalpolitischer Unterstützungsmaßnahmen notwendig sind. Das SOEP ist eine repräsentative Befragung privater Haushalte in Deutschland, die seit 1984 jährlich durchgeführt wird. Aktuell werden jedes Jahr rund 30000 Personen in etwa 15000 Haushalten zu verschiedenen Themen befragt, darunter auch zu ihrem aktuellen Bruttomonatseinkommen, dem Erwerbsstatus und der beruflichen Situation. Anhand von Gewichtungsschemata können diese Angaben auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet werden. Allerdings steht das SOEP nur mit einer großen zeitlichen Verzögerung zur Verfügung: Die Daten zu den monatlichen Bruttoarbeitseinkommen werden für ein bestimmtes Jahr in der Regel erst im April oder Mai des übernächsten Jahres veröffentlicht, also mit einer Verzögerung von etwa 16 Monaten. Bei den Jahreseinkommen beträgt die Verzögerung sogar rund 28 Monate. Die aktuellsten SOEP-Daten (Welle v37), die für diesen Wochenbericht verwendet wurden, beziehen sich auf das Jahr 2020. Die vorliegende Analyse basiert auf dem aktuellen monatlichen Bruttoarbeitseinkommen und beschränkt sich dabei auf abhängig beschäftigte Arbeitnehmer*innen und Beamt*innen inklusive Ausbildungsverhältnisse und geringfügig Beschäftigte (Minijobber*innen). Selbständige sind von der Analyse ausgenommen.

Sektordaten haben besonderen Erklärungsgehalt

Um die Bruttoarbeitseinkommen abhängig Beschäftigter aus verschiedenen Bereichen der Verteilung vorherzusagen, wird eine Vielzahl von Indikatoren herangezogen. Grundlage für die Auswahl der Variablen bildet ein vor kurzem veröffentlichtes und sorgfältig validiertes Nowcasting-Modell für das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands. Dieses beinhaltet klassische gesamtwirtschaftliche Indikatoren, darunter die Industrieproduktion, Geschäfts- und Konsumklimaindizes sowie Kennzahlen des Außenhandels.infoVgl. Paolo Andreini et al. (2023): Nowcasting German GDP: Foreign factors, financial markets, and model averaging. International Journal of Forecasting, 39(1), 298–313. Die Autor*innen vergleichen verschiedene etablierte Methoden für die Gegenwartsprognose sowie unterschiedliche Variablensätze, um das Modell mit der besten Prognosegüte beziehungsweise dem geringsten Prognosefehler zu etablieren. Dieser Variablensatz wird zunächst durch gesamtwirtschaftliche Arbeitsmarktvariablen (unter anderem Anzahl der Menschen in Kurzarbeit, Bruttolöhne und -gehälter) ergänzt. Den Kern des Modells bildet die sektorspezifische Indikatorik: Verteilungsdaten aus dem SOEP zeigen, wie sich Angehörige der unterschiedlichen Einkommensgruppen auf die verschiedenen Sektoren der deutschen Wirtschaft verteilen (Abbildung 1). So arbeiten besonders viele der niedrigverdienenden Befragten im Handel und Gastgewerbe sowie der öffentlichen Verwaltung, während Topverdienende ihr Geld vermehrt im produzierenden Sektor und den Finanzdienstleistungen verdienen. Daher lässt sich annehmen, dass sektorspezifische Arbeitsmarktdaten, beispielsweise die Erwerbstätigkeit und gearbeitete Stunden pro Kopf je Sektor, einen relevanten Erklärungsgehalt für die verschiedenen Abschnitte der Einkommensverteilung haben. Korrelationsdaten bestärken diese Annahmen: Sie zeigen, dass die Beschäftigung in verschiedenen Sektoren unterschiedlich stark mit den Einkommensgruppen zusammenhängt (Abbildung 2). Eine steigende Beschäftigung im Baugewerbe und im öffentlichen Sektor – dazu gehört auch der Bereich Gesundheit und Pflege – geht beispielsweise mit steigenden Einkommen in den unteren 40 Prozent der Einkommensverteilung einher: In diesen Sektoren werden oft verhältnismäßig niedrige Löhne gezahlt, sodass ein Anstieg der Beschäftigung hier die Verteilung nach unten verschiebt und Einkommen am oberen Ende im Mittel geringer ausfallen. Dagegen ist das Einkommen in den höheren Einkommensgruppen stärker mit der Beschäftigung im Grundstücks- und Wohnungswesen sowie in den Finanz- und sonstigen Dienstleistungen korreliert. Die vergleichsweise höheren Löhne, die Neueinstellungen in diesen Bereichen gezahlt werden, sorgen also für Einkommensanstiege der Mehrverdienenden.

Makroökonomische Indikatoren prognostizieren insbesondere mittlere Einkommen gut

Zur Vorhersage der Einkommensverteilung wird diese zunächst in vier größere Abschnitte geteilt: die unteren 40 Prozent, das 41. bis 70. Perzentil, das 71. bis 90. Perzentil sowie die oberen zehn Prozent (Abbildung 3). Diese Vereinfachung ermöglicht eine sehr gute Annäherung an die gesamte Verteilung, die auf Basis aller vorhandenen Daten berechnet wird, und trägt einer möglichst sparsamen Modellierung Rechnung.infoZweck einer sparsamen Modellierung ist, gleichzeitig eine möglichst hohe Aussage- und Vorhersagekraft des Modells zu erreichen und eine übermäßige Rechenlast zu vermeiden. Die Auswahl der Unterteilung spiegelt somit die Besonderheiten der Arbeitseinkommensverteilung wider (Kasten 1). Die unteren 40 Prozent sind durch geringfügige Beschäftigung, Teilzeit und Berufsanfänger*innen geprägt und konjunkturellen Schwankungen direkter ausgesetzt. Vollzeittätigkeiten in der Industrie und vergleichbare stabile Arbeitsverhältnisse konzentrieren sich in der Mitte der Verteilung. Der obere Rand entfaltet ebenfalls eine konjunkturelle Dynamik, die sich häufig von den anderen Einkommensgruppen absetzt, unter anderem durch eine flexiblere Ausgestaltung der Entlohnung. 

Einkommensverteilungen, insbesondere Arbeitseinkommensverteilungen, folgen häufig Gesetzmäßigkeiten. Diese können genutzt werden, um mit wenigen Informationen (zum Beispiel über durchschnittliche Einkommen in Dezilen) eine Verteilung der Einkommen auf Individual- oder Haushaltsebene wiederherzustellen.

Um eine sparsame Modellierung des Nowcast- und Forecast-Modells zu ermöglichen, wird versucht, die relevanten Informationen der Einkommensverteilung mit möglichst wenigen Parametern zu erfassen. Dazu wird die Verteilung in vier Bereiche eingeteilt: Die unteren 40 Prozent, die untere Mitte (41. bis 70. Perzentil), die obere Mitte (71. bis 90. Perzentil) und die oberen zehn Prozent. Unter der Annahme einer generalisierten Pareto-Verteilung, implementiert mit dem R-Package „Gpinter“infoFür eine ausführliche Dokumentation siehe Thomas Blanchet, Juliette Fournier und Thomas Piketty (2021): Generalized Pareto Curves: Theory and Applications. Review of Income and Wealth, 68(1), 263–288., ist es möglich, anhand der Einkommensgrenzen und Durchschnittseinkommen den Verlauf der originalen Einkommensverteilung (SOEP) zu rekonstruieren. Wie gut die Rekonstruktion funktioniert, wird aus dem Vergleich dieser originalen Verteilung mit dem „Gpinter Fit“ deutlich (Abbildung). Auch der Nowcast der Parameter der Einkommensverteilung führt zu einem Ergebnis, das sich statistisch nicht von der Ursprungsverteilung im SOEP unterscheidet.

Die aufgeführten Indikatoren, insgesamt 52 an der Zahl, werden gemeinsam mit der jeweiligen Zielvariable, also dem mittleren Einkommen eines bestimmten Teils der Verteilung, in ein Dynamisches Faktormodell (DFM) eingesetzt (Kasten 2). Mittels einer Pseudo-Echtzeit-Schätzung kann ermittelt werden, wie gut das Modell die verschiedenen Einkommen über die Zeit vorhersagen konnte. Die durchschnittliche Abweichung der Prognosen der Nowcast-Modelle von den durchschnittlichen Einkommen der jeweiligen Gruppen liegt bei maximal 5,6 Prozent (Tabelle 1). Im Vergleich der Prognosegüte über die Quartale fällt auf, dass die Vorhersagen ab dem zweiten Quartal deutlich besser getroffen werden können. Dies ist vor allem darin begründet, dass für die Prognose im ersten Quartal eines Jahres, zum Beispiel 2020, nur das drei Jahre zurückliegende durchschnittliche Bruttoarbeitseinkommen der Angestellten, also bis 2017, vorliegt. Ab dem zweiten Quartal steht dann auch das Einkommen des vorletzten Jahres, im Beispiel 2018, zur Verfügung. Für die Vorhersage der Verteilung von 2023 sind zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichtes nur Daten bis 2020 vorhanden.

Tabelle 1: Prognosegüte des Modells1 nach Einkommensgruppen und Quartalen

Mittlerer absoluter Fehler in Prozent

Untere 40 Prozent 41. bis 70. Perzentil 71. bis 90. Perzentil Obere 10 Prozent
Gesamt 4,21 2,31 2,10 3,86
1. Quartal 4,77 3,36 2,62 5,56
2. Quartal 4,08 1,98 1,95 3,35
3. Quartal 3,99 1,93 1,90 3,21
4. Quartal 4,01 1,99 1,93 3,33

1 Mittels einer Pseudo-Echtzeit-Schätzung wurde ermittelt, wie gut das Modell die verschiedenen Einkommen über die Zeit vorhersagen konnte. Dazu wurde die durchschnittliche Abweichung der Prognosen der Nowcast-Modelle von den tatsächlichen durchschnittlichen Einkommen der jeweiligen Gruppen bestimmt.

Quelle: Eigene Berechnungen.

Für die Prognose der mittleren Einkommen, die als Grundlage für die Verteilungsrechnung dienen, wird ein Dynamisches Faktormodell (DFM) verwendet.infoNach Vorbild des Modells von Marta Ba´nbura und Michele Modugno (2014): Maximum likelihood estimation of factor models on datasets with arbitrary pattern of missing data. Journal of Applied Econometrics, 29(1), 133–160. Dabei wird eine große Anzahl an Indikatoren in wenigen gemeinsamen Komponenten (Faktoren) zusammengefasst:

yt=Λft+ϵt

yt ist ein n-dimensionaler Vektor aus Indikatoren, wobei n die Anzahl der Indikatoren beschreibt. ft ist der Faktorvektor und die Matrix Λ enthält die Faktorladungen – sie beschreibt also, wie die Indikatoren mit den Faktoren zusammenhängen. ϵt bezeichnet die idiosynkratische Komponente.

Die Anzahl der Faktoren wird so gewählt, dass das Modell einerseits sparsam bleibt und die Faktoren andererseits möglichst viel Varianz des Datensatzes erklären. In der vorliegenden Prognose wird ein Modell mit zwei Faktoren geschätzt. Die Faktoren selbst folgen einem autoregressiven Prozess der Ordnung 1. Das bedeutet, dass ein Faktorwert von den letzten Vorgängerwerten aller Faktoren, inklusive seines eigenen, beeinflusst werden kann.

ft=Αft-1+ut

Die Matrix A enthält die autoregressiven Koeffizienten, der Fehler ut ist normalverteilt.

Um das Modell schätzen zu können, müssen alle enthaltenen Variablen stationär, also frei von Trends, sein. Abhängig von den Eigenschaften der jeweiligen Reihen werden dafür verschiedene Methoden, wie Differenzbildung und die Berechnung von Wachstumsraten, herangezogen. So fließen beispielsweise die mittleren Einkommen in Wachstumsraten in das Modell ein. Das DFM wird in einem Erwartungs-Maximierungs-Prozess geschätzt. Dieser erlaubt dank des Einsatzes eines Kalman-Filters unter anderem Lücken in den verwendeten Reihen und so genannte „zackige Ränder“, also Zeitreihen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten beginnen und enden. Somit ist es auch möglich, Zeitreihen unterschiedlicher Frequenzen (wie an dieser Stelle Quartals- und Jahresreihen) im selben Modell zu verwenden.

Um die Prognosegüte des Modells zu ermitteln, wird mit Pseudo-Echtzeit-Daten gearbeitet. Dabei wird für jeden Monat seit Januar 2010 ein Datensatz erstellt, der die Datenlage zum Ende des jeweiligen Monats simuliert, und ein Nowcast für das jeweilige Jahr geschätzt. Anhand des Vergleichs mit den realisierten Einkommen kann dann ermittelt werden, wie gut das Modell die Zielvariable über die Zeit vorhersagen konnte. Beispielsweise enthält der Datensatz im Dezember 2014 Daten zur Industrieproduktion bis Oktober und das Bruttoinlandsprodukt bis zum dritten Quartal 2014. Mit diesem Datensatz wird ein Nowcast für die mittleren Einkommen im Jahr 2014 geschätzt, der dann mit den mittlerweile bekannten realisierten Einkommen im Jahr 2014 verglichen werden kann. Die durchschnittliche Prognosegüte des Modells verbessert sich, je mehr Daten vorliegen. Dies wird besonders deutlich bei Schätzungen im zweiten Quartal, wenn in der Regel neue SOEP-Daten veröffentlicht werden (Abbildung).

Vergleicht man die Prognosegüte über die jeweiligen Einkommensgruppen hinweg, so fällt auf, dass besonders die mittleren Einkommen zwischen dem 41. und 90. Perzentil treffend prognostiziert werden. Im Durchschnitt über- oder unterschätzt das Modell die nominalen Bruttolöhne und -gehälter im mittleren Bereich hier nur um gut zwei Prozent. An den Rändern der Einkommensverteilung ist die Vorhersage etwas weniger exakt: Die geschätzten Einkommen der Niedrig- und Topverdienenden weichen im Durchschnitt um etwa vier Prozent von der Realität ab.

Ungleichheit seit der Corona-Pandemie leicht gestiegen

Klar ist, dass die coronabedingten Änderungen der Arbeitseinkommen nach Wirtschaftszweig und Qualifizierungsgrad für die Arbeitnehmer*innen unterschiedlich stark ausfallen. So zeigt der Verlauf der Verteilungsdaten über die vergangenen Jahre, dass die nominalen Bruttolöhne und -gehälter seit 2010 insgesamt gestiegen sind, insbesondere bei den unteren 40 Prozent der Verteilung (Tabelle 2). Hier legten die nominalen Bruttoarbeitseinkommen in den Jahren 2010 bis 2020 um knapp 40 Prozent zu, während die mittleren Einkommensgruppen einen Anstieg von 25 Prozent und die Topverdienenden von 19 Prozent verzeichnen konnten. Allein im Jahr 2020 betrug das Wachstum der Bruttolöhne der Arbeitnehmer*innen der unteren 40 Prozent fast fünf Prozent. Das Wachstum des durchschnittlichen Gehalts der mittleren Gruppen sowie der oberen zehn Prozent der Verteilung lag hingegen nur bei bis zu rund zwei Prozent.

Tabelle 2: Entwicklung und Prognose der nominalen Bruttolöhne und -gehälter nach Einkommensgruppen

Prognose
2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023
Nominale Einkommen (in Euro)
Untere 40 Prozent 891 944 951 943 956 986 1016 1038 1099 1179 1236 1325 1404 1440
41.bis 70. Perzentil 2290 2359 2389 2362 2420 2463 2509 2586 2654 2822 2860 3021 3225 3309
71. bis 90. Perzentil 3438 3513 3598 3629 3705 3853 3812 3944 4104 4238 4314 4573 4888 5018
Obere 10 Prozent 6436 6409 6406 6720 6795 7038 6987 7150 7298 7572 7678 8240 8804 9051
Veränderung in Prozent
Untere 40 Prozent 5,97 0,73 −0,87 1,43 3,09 3,03 2,25 5,80 7,27 4,87 7,24 5,96 2,55
41. bis 70. Perzentil 3,00 1,26 −1,10 2,44 1,77 1,88 3,06 2,62 6,35 1,34 5,63 6,76 2,59
71. bis 90. Perzentil 2,17 2,43 0,84 2,10 4,00 −1,06 3,45 4,05 3,28 1,80 5,98 6,91 2,64
Obere 10 Prozent −0,41 −0,05 4,90 1,12 3,57 −0,73 2,34 2,07 3,76 1,40 7,32 6,85 2,81

Quellen: Sozio-oekonomisches Panel (SOEP); eigene Berechnungen.

Dass die durchschnittlichen Gehälter im Jahr 2020 gestiegen sind, kann durch Entlassungen eines Teils der Arbeitnehmer*innen, insbesondere geringfügig Beschäftigter, begründet werden. Sie und damit ihre geringen Einkommen fielen aus der Gehaltsverteilung des Jahres 2020 heraus. Werden überwiegend Arbeitnehmer*innen im unteren Teil der Verteilung entlassen, hat das – bei unveränderten Gehältern der nicht von Arbeitslosigkeit betroffenen Personen – den Effekt, dass das Durchschnittseinkommen insgesamt, aber auch über die vier Einkommensgruppen hinweg, zunimmt. Da die Gruppen relativ definiert sind, steigen die ärmsten Individuen eines jeden Perzentils in das nächstuntere ab. Der stärkere Anstieg des durchschnittlichen Bruttogehalts der unteren 40 Prozent insbesondere im Jahr 2020 liegt neben dem Rückgang der geringfügig Beschäftigten wohl auch am Anstieg der Kurzarbeit von Personen, die vor der Pandmie in höheren Einkommenklassen waren.

Insgesamt hat die Einkommensungleichheit gemessen an den monatlichen realen Bruttoeinkommen abhängig Beschäftigter in den Jahren 2010 bis 2020 also deutlich abgenommen. Das zeigen auch die Ungleichheitsmaße, die sich aus der Verteilung berechnen lassen (Abbildung 4): So ist der Gini-Koeffizient zwischen 2010 und 2020 trotz eines vorübergehenden Anstiegs im Jahr 2013 von 0,39 auf 0,37 gesunken. Auch das Verhältnis zwischen Spitzen- und Niedrigverdienenden (P90/10) sowie zwischen der Mitte und dem unteren Ende der Verteilung (P50/10) hat sich verkleinert. Gerade im Jahr 2020 verringerte sich die Ungleichheit noch einmal deutlich.

Während sich dieser Trend der abnehmenden Ungleichheit im Jahr 2021 noch fortgesetzt haben dürfte, sagt das Modell für die Jahre 2022 und 2023 eine Unterbrechung voraus, da die realen Einkommen in dieser Zeit vor allem am oberen Ende der Verteilung gestiegen sein dürften. Insgesamt ist die Ungleichheit im Rahmen der postpandemischen Erholung wohl auf einem konstanten Level verblieben oder hat im Vergleich zum Jahr 2020 sogar wieder leicht zugenommen. Dies ist nicht unüblich in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs, von dem Besserverdienende in der Regel stärker profitieren als Beschäftigte am unteren Ende der Verteilung, wogegen in Krisenzeiten üblicherweise der gegenteilige Effekt zu beobachten ist.infoVgl. Fatih Guvenen, Serdar Ozkan und Jae Song (2014): The Nature of Countercyclical Income Risk. Journal of Political Economy, 621–660. Die hohe Inflation hat den Berechnungen zufolge darüber hinaus im vergangenen Jahr zu einem realen Rückgang bei den Einkommensschwachen geführt, während Topverdienende noch von leichten realen Einkommenszuwächsen profitiert haben dürften.

Fazit: Nowcast der Ungleichheit kann Zielgenauigkeit von Politikmaßnahmen erhöhen

Eine zeitnahe Abschätzung (Nowcast) der Änderungen in der Verteilung von Bruttolöhnen und -gehältern von Arbeitnehmer*innen ist wichtig, um wirtschaftspolitische Maßnahmen wie die Mindestlohnhöhe oder die Inflationsausgleichsprämie zielgerichtet gestalten zu können. Problematisch ist, dass wichtige Daten zu Arbeitseinkommen erst mit einer Verzögerung von mindestens 16 Monaten zur Verfügung stehen und somit zumeist nur die Evaluierung der in der Vergangenheit getroffenen wirtschaftspolitischen Entscheidungen erlauben. Dieser Bericht zeigt, dass makroökonomische Indikatoren zur zeitnahen Vorhersage der Verteilung von Bruttolöhnen und -gehältern geeignet sind und genutzt werden können. So ist es beispielsweise möglich, die Effekte der Inflationsausgleichsprämie am aktuellen Rand zu evaluieren, vulnerable Haushalte zu identifizieren und bei Bedarf gezielt zu unterstützen.

Für die Jahre nach der Pandemie deuten die Vorhersagen auf einen leichten Anstieg der Arbeitseinkommensungleichheit hin. Dieser prognostizierte Anstieg ab 2021 dürfte die Wirkung der Energiekrise, die ohnehin vor allem ärmere Haushalte trifft, noch verstärken.

Die zeitnahe Vorhersage der aktuellen Arbeitseinkommensungleichheit kann ein wichtiger Bestandteil der Evaluation aktueller wirtschaftspolitischer Maßnahmen und der Gestaltung künftiger Maßnahmen sein. Dabei sollte die Prognosegüte beispielsweise anhand von oberen und unteren Vorhersagegrenzen unbedingt beachtet werden, um bei der Interpretation der prognostizierten Verteilung und der entsprechenden Ungleichheit der Unsicherheit einer punktuellen Vorhersage Rechnung zu tragen. Darüber hinaus kann der Verteilungsnowcast auch verwendet werden, um die Verteilungseffekte der wirtschaftlichen Entwicklung zu simulieren oder Steuereinnahmen sowie Transferazahlungen besser abschätzen zu können. Das DIW Berlin plant, die Arbeitseinkommensverteilung bedingt auf die prognostizierten makroökonomischen Daten in die Zukunft fortzuschreiben und so die DIW-Konjunkturprognosen mit Blick auf den Arbeitsmarkt in Deutschland und die Finanzpolitik zu verbessern. Darüber hinaus sollen die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen um die Implikationen der Arbeitseinkommensverteilung als Nachhaltigkeitsindikator ergänzt werden.

Laura Pagenhardt

Doktorandin in der Abteilung Makroökonomie

Geraldine Dany-Knedlik

Leitung Prognose und Konjunkturpolitik in der Abteilung Makroökonomie



JEL-Classification: E17;D31;E66
Keywords: Nowcast, income distribution, inequality
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2023-24-4

Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/273607

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