Blog Marcel Fratzscher vom 4. August 2023
Das Exzellenzcluster The Politics of Inequality der Universität Konstanz untersucht seit einiger Zeit die Ursachen und Implikationen von Ungleichheit in Deutschland – und hat zuletzt eine bemerkenswerte Studie zur Selbstwahrnehmung von Bürgerinnen und Bürgern vorgelegt.
Dieser Text erschien am 04. August 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Bei der repräsentativen Umfrage wurden Menschen gebeten, sich in Bezug auf ihr eigenes Einkommen und ihr Vermögen im Verhältnis anderen Menschen einzuordnen. Sie wurden gefragt, ob sie sich selbst eher als arm sehen, in der Mitte, oder ob sie sich zu den Spitzenverdienerinnen und -verdienern beziehungsweise den Vermögenden zählen.
Das Ergebnis ist in dreierlei Hinsicht erstaunlich. Zum einen ordnen sich 80 Prozent der Menschen selbst der Mittelschicht zu. Eine Fehleinschätzung gibt es in allen Gruppen: Auch diejenigen mit den geringsten Einkommen stufen sich häufig falsch, nämlich deutlich höher, ein. Erstaunlich ist vor allem, dass sich Menschen mit den höchsten Einkommen besonders oft falsch zuordnen. Die Abweichung zur tatsächlichen Einkommensgruppe ist bei ihnen am stärksten ausgeprägt. Von den 20 Prozent der Menschen mit den höchsten Einkommen ordnet sich weniger als jeder und jede Siebte der eigenen Gruppe zu. Sechs von sieben sortieren sich dagegen deutlich niedriger ein, meist als Teil der Mittelschicht. Den Wunsch, vielleicht die Illusion, zur Mittelschicht zu gehören, gibt es also unten und oben.
Das zweite zentrale Resultat ist, dass die Selbsteinschätzung in Bezug auf Einkommen und Vermögen nahezu deckungsgleich sind. Von zahlreichen Studien des DIW Berlin wissen wir allerdings, dass Vermögen deutlich ungleicher verteilt sind als Einkommen. Es gibt weit mehr als eine Million Millionärinnen und Millionäre in Deutschland. Die reichsten ein Prozent der Deutschen besitzen knapp 35 Prozent aller Vermögen. 40 Prozent der Deutschen dagegen haben praktisch gar kein Vermögen. Trotz dieser erheblichen Ungleichheit nehmen Menschen eine ähnliche Verteilung von Vermögen und Einkommen wahr.
Zudem steht diese verzerrte Selbstwahrnehmung im starken Kontrast zur Wahrnehmung der Ungleichheit in der Gesellschaft. In Bezug auf die gesamte Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft – also, ob relativ viele Menschen geringe, mittlere oder hohe Einkommen oder Vermögen haben – haben die meisten Deutschen eine erstaunlich gute und akkurate Wahrnehmung der Realität. Drei Viertel der Menschen verstehen richtigerweise, dass ein großer Teil der Gesellschaft wenig bis kein Vermögen besitzt.
Wie sind diese drei Resultate zu interpretieren, was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Eine mögliche und plausible Erklärung liegt in der Scham des Reichtums, die in Deutschland vielleicht stärker ausgeprägt ist als anderswo. In den USA gibt es ein breites Verständnis, nachdem ein moralisch gutes Leben bedeutet, viel Geld zu verdienen – und das auszugeben und damit auch zu zeigen. In Deutschland scheint eher das Gegenteil davon zu gelten: Es ist moralisch, ein arbeitsreiches Leben zu führen, ohne seinen Reichtum zu zeigen oder zu nutzen, um dann möglichst viel des Vermögens an die nächste Generation zu vererben.
Deutschland gehört zu den Sparweltmeistern und ungewöhnlich viel Vermögen wird jedes Jahr verschenkt oder vererbt – bis zu 400 Milliarden Euro, das sind rund zehn Prozent einer jährlichen Wirtschaftsleistung –, werden jedes Jahr an die nächste Generation weitergegeben. Über die Hälfte aller privaten Vermögen in unserem Land wurden nicht selbst erarbeitet, sondern geerbt. Das gilt noch stärker für junge Menschen.
Als Friedrich Merz vor ein paar Jahren im Wahlkampf um den CDU-Vorsitz gefragt wurde, wo er sich mit seinem Jahreseinkommen in der Gesellschaft einordnen würde, antwortete er, er zähle sich zur Mittelschicht – ihm geht es da also genau wie der überwältigenden Mehrheit der Spitzenverdienenden, die von der Uni Konstanz befragt wurden. Merz' Äußerung sorgte für Empörung, als Medien von seinem knapp siebenstelligen Jahresgehalt berichteten. Viele scheinen ein hohes Gehalt eher negativ zu sehen und nicht als verdienten Erfolg. Friedrich Merz wollte also wohl entweder diese Reaktion der Öffentlichkeit vermeiden, oder er hat tatsächlich eine verzerrte Wahrnehmung über die Mittelschicht in Deutschland.
Andere Politiker versuchen genau das für ihre Ziele zu nutzen. So klagt vor allem der Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) seit Langem, der Spitzensteuersatz in Deutschland greife viel zu früh und selbst viele Menschen in der Mittelschicht müssten ihn zahlen. In Deutschland verdienen knapp 2,5 Millionen Beschäftigte über der Schwelle zum Spitzensteuersatz. Vor allem durch die gemeinsame steuerliche Veranlagung zahlen gut vier Millionen Beschäftigte den Spitzensteuersatz von 42 Prozent. Das sind etwa 8,7 Prozent der 46 Millionen Beschäftigten in Deutschland.
Lindners Lamento ist also objektiv falsch. Den Spitzensteuersatz zahlen eher wenige Beschäftigte. Aber wenn man sich als Spitzenverdiener selbst als Teil der Mittelschicht sieht, dann funktioniert die Politik der Empörung über einen vermeintlich übergriffigen Staat natürlich gut. Das erklärt dann auch die vehemente Empörung gegen jegliche Steuererhöhung in Deutschland.
Nach der repräsentativen Umfrage der Universität Konstanz hat die Gesellschaft ein realistisches Bild darüber, dass die Ungleichheit seit 2000 in Deutschland zugenommen hat. Und knapp 80 Prozent der Menschen wünschen sich eine deutlich weniger ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen und eine Gesellschaft mit einer starken, großen Mittelschicht. Damit das Realität werden kann, müsste der Staat aber eine Menge Geld investieren in exzellente Kitas und Schulen, eine bessere Infrastruktur und den Abbau vieler Hürden für Beschäftigung und Arbeit. Nur müsste die Politik dafür wohl die Steuern erhöhen.
Themen: Ungleichheit , Verteilung