Die psychische Gesundheit darf kein Tabu sein

Blog Marcel Fratzscher vom 30. Oktober 2023

Psychische Erkrankungen werden immer noch stigmatisiert. Das muss aufhören, denn die ökonomischen Folgekosten für die gesamte Gesellschaft werden damit noch größer.

Die psychische Gesundheit ist ein blinder Fleck in der gesellschaftlichen Debatte. Dabei haben vor allem die psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen in der Corona-Pandemie zugenommen. Insgesamt ist auch der Anteil der Fehltage aufgrund psychischer Leiden gestiegen. Daten zeigen auch: Die psychische Gesundheit vieler Menschen in Deutschland hat sich bereits seit 2016 deutlich verschlechtert. Doch anders als bei körperlichen Erkrankungen wird es noch zu häufig als Tabu angesehen, darüber zu sprechen. Der Schaden für die Betroffenen ist groß, da psychische Erkrankungen die Lebensqualität und die Lebenszufriedenheit häufig dauerhaft reduzieren. Und auch der Schaden für Wirtschaft und die Sozialsysteme ist beträchtlich. Außerdem sind die Unterschiede bei der psychischen Gesundheit in unserer Gesellschaft erheblich. Es sind eher vulnerable Gruppen, vor allem junge Menschen, die unter Krisen besonders stark psychisch leiden.

Dieser Text erschien am 27. Oktober 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Eine Reihe neuer Studien belegt, welche Bedeutung die psychische Gesundheit für unsere Gesellschaft hat und wie sie sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelte. 

Dabei gibt es auch überraschend positive Nachrichten. Eine Analyse des DIW Berlin zeigt, dass sich die psychische Gesundheit in Deutschland seit 2000 durchaus verbessert hat – zumindest bis 2016. Was psychische Gesundheit heißt, wird in der Studie sehr weit gefasst. Basierend auf den Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) des DIW Berlin wird sie als ein Gesamtmaß verschiedener Faktoren gemessen: seelisches und emotionales Wohlbefinden, Funktionalität im Alltag sowie Ängste und Sorgen über Gegenwart und Zukunft für sich selbst und für das eigene Umfeld. Dieses Maß der psychischen Gesundheit ist klinisch validiert und hat auch eine wissenschaftliche Aussagekraft darüber, ob Befragte Anzeichen beispielsweise einer Depression haben.

Die zweite positive Nachricht ist: Seit dem Jahr 2000 ist die Ungleichheit über die Zeit gesunken. So haben Menschen in Westdeutschland zwar noch immer eine deutlich bessere psychische Gesundheit als die Menschen in Ostdeutschland, aber der Unterschied hat sich in den vergangenen 20 Jahren fast halbiert. Auch hat sich die Ungleichheit der psychischen Gesundheit nach Bildungsabschluss über die Jahre verringert.

Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund stärker belastet

Dagegen ist der Unterschied bei der psychischen Gesundheit zwischen Männern und Frauen nicht nur absolut gesehen sehr groß, sondern er ist auch in den vergangenen 20 Jahren kaum geringer geworden. Und auch Menschen mit Migrationsgeschichte haben durchschnittlich eine schlechtere psychische Gesundheit. Ein weiterer negativer Aspekt ist, dass die beschriebenen Entwicklungen immer Durchschnittsmaße für größere Gruppen sind. Innerhalb der Gruppen dürfte die Ungleichheit jedoch zum Teil deutlich größer geworden sein. So sind diagnostizierte Depressionen zwischen 2009 und 2017 um 26 Prozent gestiegen und die Diagnose von Burn-out hat 2021 ein Rekordhoch erreicht.

Besorgniserregend ist zudem, dass die psychische Gesundheit von vulnerablen Gruppen sehr viel unbeständiger und anfälliger ist. Gerade in Krisenzeiten wie etwa der großen Rezession 2008 und 2009 und dem ersten Jahr der Pandemie 2020 ist die psychische Gesundheit bei Frauen und bei Menschen mit Migrationsgeschichte deutlich schlechter geworden. Dieses Resultat stimmt mit denen anderer Studien überein, die zeigen, dass beispielsweise Frauen in der Pandemie durch Familie und Beruf deutlich stärker belastet waren als Männer. Sie zeigen auch, dass Menschen mit weniger Einkommen und einer schlechteren Vorsorge in Krisenzeiten weniger Möglichkeiten haben, mit negativen Schocks zu ihren Lebensumständen umzugehen und diese zu kompensieren.

Junge Menschen stark von Krisen betroffen

Die neue Trendstudie Jugend in Deutschland 2023 zeigt, dass vor allem junge Menschen in ihrer psychischen Gesundheit stark von Krisen betroffen sind. Fast die Hälfte der 14- bis 29-Jährigen leidet unter Stress und ein Drittel unter Erschöpfung und Selbstzweifel. Zum Vergleich: Bei den 50- bis 69-Jährigen leidet nur 20 Prozent unter Stress.

Die Ursachen für Veränderungen in der psychischen Gesundheit sind vielschichtig. Individuelle Lebensumstände, Ängste und Sorgen, wirtschaftliche Entwicklungen und auch soziale Aspekte, wie der soziale Zusammenhalt und Teilhabe, spielen alle eine Rolle. Vieles deutet darauf hin, dass nicht per se gesamtgesellschaftliche Entwicklungen oder individuelle Sorgen und Ängste ausschlaggebend für die beschriebenen Ungleichheiten sind. Vielmehr sind die unterschiedlichen Fähigkeiten und Ressourcen entscheidend, die Menschen mobilisieren können, um sich gegen individuelle oder gemeinschaftliche Schocks und Krisen abzusichern. So sind junge Menschen beispielsweise sogar weniger pessimistisch und besorgt über die Zukunft als ältere Menschen, aber Veränderungen treffen sie härter in ihrer psychischen Konstitution.

Wirtschaftliche Kosten enorm

Die Kosten von schlechter psychischer Gesundheit sind für die Betroffenen beträchtlich. Sie beeinträchtigen die Menschen in ihrer Funktionalität im täglichen Leben und wirken sich häufig dauerhaft negativ auf Lebenszufriedenheit und Glück aus. Psychische Erkrankungen haben aber auch enorme wirtschaftliche Kosten. Schätzungen zufolge beträgt der direkt messbare Schaden für die Wirtschaft 57 Milliarden Euro oder 1,4 Prozent einer jährlichen Wirtschaftsleistung, verursacht vor allem durch Fehlzeiten. Zudem werden die Gesundheitsausgaben erhöht und Ressourcen im Gesundheitssektor gebunden. Manche Beschäftigte müssen durch psychische Erkrankungen in die Frühverrentung gehen oder erfahren eine Erwerbsminderung, was sowohl den Betroffenen als auch den Unternehmen und Sozialversicherungen erhebliche Zusatzkosten verursacht. Und dies sind nur die direkten Kosten – nicht enthalten in diesen Berechnungen ist der sogenannten Präsentismus, also Produktivitätsverluste durch Menschen, die trotz psychischer Beeinträchtigungen arbeiten, aber ihre volle Leistung nicht abrufen können.

Es ist wichtig, mit dem Tabu zur psychischen Gesundheit zu brechen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse stärker in den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozess zu berücksichtigen. Dazu gehören dringend benötigte Reformen im Gesundheitssystem, um mehr Fachpersonal und Ressourcen für Prävention und Heilung psychischer Erkrankungen zu mobilisieren. So schätzt die Trendstudie 2023, dass jeder dritte junge Mensch Hilfe in Bezug auf die psychische Gesundheit benötigt, aber nur jeder zehnte diese auch erhält. Ein stärkerer öffentlicher Diskurs und ein größeres Gewicht bei politischen Entscheidungen wären wichtig, nicht nur, um den Schaden von Krisen zu begrenzen, sondern auch, um wieder zum positiven Trend bei der psychischen Gesundheit zurückzukehren.

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