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Schuld ist nicht die Regelwut allein

Medienbeitrag vom 6. November 2023

Zu viel Bürokratie kann Unternehmen die Luft zum Atmen nehmen. Wichtiger als die Zahl der Vorschriften ist aber die Qualität der Verwaltung. Behörden müssen der Versuchung widerstehen, bürokratische Schritte auf Unternehmen und Bürger abzuwälzen.

Dieser Gastbeitrag von Alexander S. Kritikos erschien am 6. November 2023 in der FAZ.

Die jedes Jahr pünktlich zum medialen Sommerloch auftauchende Forderung nach Bürokratieabbau hat schon Loch-Ness-Qualitäten bekommen. Das war nicht nur diesen Sommer so, als Justizminister Marco Buschmann ein Bürokratieentlastungsgesetz ankündigte, sondern auch vergangenen Sommer im Zusammenhang mit der Zeitenwende. Genauso vor 10 Jahren, als die Bundesregierung die mittelständische Wirtschaft von bürokratischen Auflagen entlasten wollte. Und vor 20 Jahren war es  auch nicht anders, als die Bundesregierung „eine Initiative zum Bürokratieabbau“ startete.

Betroffene haben den Bürokratie-Burnout

Unbestritten haben in diesen 20 Jahren die Bürokratielasten für die Gesellschaft netto zugenommen. Und es darf stark bezweifelt werden, dass sich das dieses Jahr  ändern wird. Während an einer Stelle die Regulierungsdichte, also die Summe aller Verwaltungsvorschriften, vielleicht etwas reduziert werden könnte, werden an  anderer Stelle so viele neue Verwaltungsvorschriften und -verfahren hinzugefügt, dass mittlerweile von der Überforderung und dem Bürokratie-Burnout der Betroffenen gesprochen wird. Wohl nicht ganz zu Unrecht gibt es Stimmen aus Politik und Wissenschaft, die darauf verweisen, dass diese Überforderung auch manche Wähler in die Arme extremistischer Parteien treibt, namentlich der AfD, die sich gern als lokaler Kümmerer in Sachen Bürokratie geriert.

Die Verwaltungsqualität ist entscheidend

Es gibt in diesem Zusammenhang eine wissenschaftlich etablierte Position, die noch älter ist als die Forderung nach Bürokratieabbau: Der Wohlstand eines Landes ist umso niedriger, je höher die Regulierungsdichte in dem Land ist. Der Grund dafür erscheint einleuchtend. Mehr Regulierungsvorschriften erhöhen zum Beispiel Produktionskosten, wenn mit dem Mehr an Vorschriften der Aufwand für Berichtspflichten oder für die Umsetzung der Vorschriften in den Unternehmen ansteigt.  Gleiches gilt für Kosten und Zeit der privaten Bürger, wenn diese mit neuen bürokratischen Vorschriften – man denke nur an die neu berechnete Grundsteuer –  konfrontiert werden.

Entsprechend schließen die meisten Analysen zu diesem Thema mit der Forderung nach einer Vereinfachung der Verwaltungsvorschriften, was man nun seit 20 Jahren in Deutschland vergeblich umzusetzen versucht. Da nimmt es nicht wunder, dass auch Bundesfinanzminister Christian Lindner kürzlich wieder darauf verwies, „man könne durch Verzicht auf Regulierung und Bürokratismus Politik für mehr Wohlstand machen“. Aber ist es die Regulierungsdichte allein, die uns ausbremst? Und wer genau ist „man“? Die Erfahrungen aus den vergangenen 20 Jahren zeigen: Es hilft wenig, lärmend Forderungen auf Bürokratieverzicht zu erheben. Es bedarf wohl eines anderen Wegs. Die sehr allgemein gehaltene Forderung des Bundeskanzlers nach einem Deutschlandpakt weist einen möglichen Weg.

Wer ist leidtragend, wer aktiv?

Unterschiedlichste Akteure sind von Regulierung betroffen: Behörden wenden verabschiedete Verwaltungsvorschriften an und setzen sie um; Unternehmen müssen Produktionsprozesse genehmigen lassen oder Berichtspflichten nachkommen, private Bürger*innen wollen Förderung beantragen oder müssen Erklärungen abgeben. Auffallend ist, dass die Verwaltungsbürokratie, die für die Umsetzung von Vorschriften verantwortlich ist, in vielen Analysen und Diskussionen als leidtragender Akteur betrachtet wird, ähnlich wie Unternehmen oder Privatbürger*innen. Es entsteht mithin der Eindruck, als könne die Verwaltungsbürokratie bei der Umsetzung von Vorschriften keine aktive Rolle spielen.

In Hamburg zwei Monate, in Berlin 20

Folgendes Beispiel veranschaulicht das Gegenteil: Deutschland leidet bekanntermaßen unter einem erheblichen Fachkräftemangel. Ein Start-up in Hamburg kam mit der Idee auf den Markt, qualifizierte Fachkräfte aus Ländern außerhalb der EU anzuwerben und sie an lokale Unternehmen zu vermitteln. Die steigende Nachfrage vor Ort machte aus dem Start-up relativ rasch ein sogenanntes schnell wachsendes Unternehmen. Angesichts dieses Erfolgs eröffnete das Unternehmen einen weiteren  Betrieb mit der gleichen Idee in Berlin. Dort scheiterte die Unternehmung jedoch, aber nicht an mangelnder Nachfrage, sondern an der äußerst langsamen Prozessierung der gleichen administrativ notwendigen Schritte durch die Berliner Verwaltung. In Hamburg wurden die bürokratischen Schritte innerhalb von zwei Monaten erledigt, um die  Zuwanderung von Nicht-EU-Arbeitskräften nach Hamburg zu ermöglichen.

In Berlin dauerte der identische Prozess bis zu 20 Monate. Derselbe Rechtsrahmen, der in Hamburg verlässliche rechtliche Bedingungen bei der Umsetzung der gleichen Idee bot und dem Unternehmen ein schnelles Wachstum ermöglichte, wurde in den  Händen der Berliner Verwaltung zum Hindernis – der Mangel an sachkundigem Personal bremste das Wachstum des Unternehmens in Berlin aus. Dieses Beispiel veranschaulicht die Aussage des Bundesfinanzministers über negative Wohlstandseffekte aufgrund von Bürokratismus: Verzögerungen durch zeitaufwendige Regulierungsverfahren können dazu führen, dass Chancen auf wirtschaftliches Wachstum vertan werden und die Wettbewerbsfähigkeit entsprechender Regionen sinkt.

Es gibt große regionale Unterschiede im Bürokratismus

Die Verwaltung leistet in ihrem Austausch mit den lokalen Unternehmen, Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft in manchen Regionen qualitativ gute und schnelle, in anderen Regionen qualitativ schlechte und langsame Arbeit. Das zeigt auch ein von der Universität Göteborg für die EU entworfener Indikator, der auf regionaler Ebene  die Qualität der durch die öffentliche Verwaltung erbrachten Dienstleistungen auf einer Skala von null bis hundert misst. Dieser Indikator weist für Deutschland zum Beispiel für das Jahr 2017 einen Durchschnittswert von rund 71 aus. Berlin gehört mit einem Wert von knapp 63 zu den Regionen mit dem tiefsten Wert, Hamburg liegt  mit einem Wert von knapp 77 am oberen Ende der Verwaltungsqualität in Deutschland.

Die Regulierungsdichte steht Wohlstand nicht im Weg

Den Folgen dieser Unterschiede wurde bislang nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Dazu lohnt ein Blick in die nordischen Länder. In Finnland zum Beispiel finden sich Regionen, deren Verwaltung im EU-Vergleich qualitativ überproportional gut ist. Das bestätigt derselbe Indikator: Dort liegt für 2017 der Durchschnittswert bei 80, eine finnische Region erhält sogar die volle Punktzahl von 100. In den finnischen Regionen zeigt sich in der Folge, dass trotz der in nordischen Ländern bekanntlich  hohen Regulierungsdichte die wirtschaftliche Entwicklung und das Wohlstandsniveau höher sind als der EU-Durchschnitt – das bestätigen auch jüngste eigene Analysen am DIW Berlin. 

Die Verwaltung muss die Regulierungen gut händeln

Es kommt also bei der Auswirkung von Regulierung darauf an, wie gut und wie schnell die lokale oder regionale Administration entsprechende Vorschriften umsetzt und  anwendet. Es kommt weiterhin darauf an, zu welchem Grad die Verwaltung bürokratische Schritte auf Unternehmen (oder private Bürger*innen) abwälzt oder sie bei der Umsetzung von Verwaltungsvorschriften aktiv entlastet und unterstützt. In Regionen mit einer hohen Verwaltungsqualität werden somit die Verwaltungsvorschriften  schnell, effizient und unparteiisch umgesetzt. Steigt in Regionen mit einer qualitativ hochwertigen Verwaltung die Regulierungsdichte, bringt dies die Wirtschaftsleistung der Region nicht zum Stillstand – das Wohlstandsniveau steigt in solchen Regionen trotzdem.

Langsame Behörden vertreiben Unternehmen

Ganz anders hingegen in Regionen, deren regionale oder lokale Verwaltung keine hochwertigen Dienstleistungen erbringen. Dort lassen sich herkömmliche Analysen bestätigen: Eine steigende Regulierungsdichte wirkt sich dann negativ auf die Wirtschaftskraft aus. Werden die Vorschriften von Verwaltungen mittlerer oder gar schlechter Qualität umgesetzt, führen die daraus resultierenden unnötigen Verzögerungen in diesen Regionen zu verpassten Chancen auf weiteres Wachstum,  verbunden mit dem Risiko, gegen Wettbewerber zu verlieren. Die Unternehmen reagieren mithin drastisch, wenn gewisse Belastungsgrenzen aufgrund schlechter Dienstleistungen der öffentlichen Verwaltung überschritten sind. Sie schließen oder verlagern ihre Betriebe an andere Standorte mit besserer Verwaltung. Diese Belastungsgrenzen sind in vielen Regionen Deutschlands überschritten.

Verwaltungen sind aktive Gestalter – oder eben auch nicht

In diesem Sinne können regionale Verwaltungen das Geschäftsklima in ihren Regionen direkt beeinflussen, es wirkt sich unmittelbar auf unternehmerische Entwicklungen aus. Verwaltungen sind somit aktive Gestalter der Wirtschaftspolitik – im Guten wie im Schlechten. Jenseits der berechtigten Forderung nach einer  Vereinfachung von Vorschriften lassen sich daraus weitere Politikmaßnahmen ableiten. Wenn eine Region ihre wettbewerblichen Bedingungen verbessern will, muss sie  die Qualität ihrer Verwaltung erhöhen, das gilt für Deutschland wie auch für den EU-Binnenmarkt.

Führungsebene wie Ausbildung müssen besser werden

Für eine solche Verbesserung sind erhebliche Anstrengungen notwendig. Das beginnt mit einer entsprechenden Qualifizierung der Führungsebene der Verwaltung, die  ihre Verwaltungsabläufe gegebenenfalls besser strukturieren und Verantwortlichkeiten gezielt auf das Fachpersonal übertragen muss, über Bildungsmaßnahmen für  bestehendes Personal, einer Verbesserung der Ausbildung des neuen Verwaltungspersonals bis hin zur Überprüfung, inwieweit in der Einstellungspraxis ausreichend  qualifiziertes Personal zur effizienten und schnellen Umsetzung von Verwaltungsvorschriften gesucht wird.

Auch die Digitalisierung der Verwaltungsprozesse gewinnt in diesem Kontext an Bedeutung, ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Qualität öffentlicher Verwaltung, der in den vergangenen Jahren in Deutschland fahrlässig  verzögert wurde. Gleiches gilt auch für die Nutzung Künstlicher Intelligenz, die standardisierte Verwaltungsprozesse um ein Vielfaches beschleunigen könnte.

Bearbeitung darf Tage oder Wochen dauern, statt Monate

Es gibt dabei verschiedene Aspekte guter Dienstleistungen, die eine Verwaltung den in ihrer Region ansässigen Unternehmen und privaten Bürger*innen erbringen muss. Zum einen geht es um die Bearbeitungszeit und -art von Anträgen oder Genehmigungsverfahren. Die entsprechende Prozessierung von Anträgen – wie auch das  anfängliche Beispiel plastisch zeigt – muss in Wochen, wenn nicht sogar in Tagen statt in Monaten oder gar in Jahren erfolgen. Es wird auch darum gehen, dass die Verwaltung einen aktiven, effizienten und rasch agierenden Part übernimmt, wenn Unterlagen nicht vollständig oder Verfahren mehrstufig sind.

Verwaltung muss Bürger und Unternehmen entlasten, nicht belasten

Zum anderen sind gute Verwaltungen in der Lage, Privatbürger und Unternehmen bei Antrags-und Berichtspflichten so weit wie möglich zu entlasten. Ein offensichtliches Beispiel dafür ist die Erhebung der neuen Grundsteuer. Anstatt diese Last auf die Bürger*innen abzuwälzen, hätte die Verwaltungsbürokratie, der nahezu alle Informationen zur Umsetzung dieser Neuberechnung vorliegen, die entsprechenden Anträge prozessieren und dann die vollständig ausgefüllten Anträge nur noch zur Zustimmung den jeweiligen Eigentümern vorlegen können.

Grundsätzliches Ziel muss es also sein, regionale und lokale Verwaltungen einzurichten, die  qualitativ hochwertige Dienstleistungen rasch erbringen und Unternehmen und Privatbürger so weit wie möglich von Bürokratie entlasten. Das alles macht deutlich, dass wir uns auch von einer anderen Illusion verabschieden müssen. Bisher wurde immer die Erwartung gehegt, der Abbau von Bürokratie sei kostenlos, weil ja  Regulierungsvorschriften reduziert würden. In Zukunft wird es darum gehen, einen sehr gut funktionierenden Verwaltungsapparat aufzubauen und diesen Aufbau mit  weitestgehend digitalisierten Prozessen zu unterstützen. Das erfordert erhebliche Investitionen, die Bund, Länder und Gemeinden bereitstellen müssen. Wie das geht, lässt sich von manch nordischem Land lernen. Es wird eine Investition sein, die sich lohnt. Der Standort Deutschland würde von einem solchen Deutschlandpakt profitieren.

Und die Länder und Kommunen haben allen Grund, in den Wettbewerb um den besten Standort zu gehen. Denn produktive Unternehmen werden sich in den  Regionen mit der besten Verwaltung ansiedeln und so den Wohlstand und auch das Steueraufkommen erhöhen.

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