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Kinderarmut ist ein Scheitern der Gesellschaft

Blog Marcel Fratzscher vom 9. Januar 2023

Die Grundsicherung wird die Situation für arme Kinder kaum verbessern – mit fatalen Folgen für Deutschland, sagt Prof. Marcel Fratzscher, einer der einflussreichsten Wirtschaftsexperten unseres Landes. Warum er Familienministerin Paus trotzdem für die Gewinnerin hält, erklärt der Ökonom im Interview.

Herr Prof. Fratzscher, was bedeutet es für Kinder, in Armut aufzuwachsen?
Armut bedeutet fehlende Teilhabe und fehlende Chancen. Relative Armut, von der wir in Deutschland sprechen, bedeutet, wenig finanzielle Mittel zu haben, die aber notwendig sind, um Dinge zu tun, die andere Kinder und Jugendliche als normal erachten – also an Ausflügen teilzunehmen, ins Kino zu gehen, Teil der Gemeinschaft zu sein. Armut ist für viele Kinder ein Trauma und eine gesundheitliche Belastung, und zwar auch kurzfristig. Wir sehen, dass diese Kinder häufiger und in einer Art und Weise krank sind, die Chancen im Bildungssystem verschlechtern. Für diese Menschen bedeutet es auch als Erwachsene, weniger Chancen zu haben und häufiger in Armut zu landen. Selbst wenn man mal ein, zwei Jahre in Armut ist, merkt man das häufig ein Leben lang.

Das vollständige Interview erschien am 1. September 2023 beim RedationsNewtzwerkDeutschland.

Beinahe jedes vierte Kind in Deutschland ist von Armut bedroht. Haben wir in Deutschland ein Problem mit Kinderarmut?
Die Kinderarmut, egal, wie hoch sie ist, ist ein Problem. Es ist in gewisser Weise ein Scheitern der Gesellschaft. Was es in Deutschland noch mal katastrophaler macht, ist, dass die Kinderarmut im Vergleich zu Erwachsenen höher ist. Bei Erwachsenen liegt die Armutsquote zwischen 16 und 18 Prozent. Bei den Kindern sind es fast 25 Prozent. Und bei den Alleinerziehenden liegt die Quote bei 38 Prozent. Also fast vier von zehn alleinerziehenden Elternteilen leben in Armut, und die allermeisten davon sind Mütter. Und wir sehen, dass Menschen, die Migrationsgeschichte haben, die geflüchtet sind, besonders häufig in Armut leben. Das zeigt uns, dass eben nicht individuelle Entscheidungen sind, die zu Armut führen, sondern strukturelle Probleme.

Hat der Zuzug von Geflüchteten das Problem der Kinderarmut verschärft?
Statistisch gesehen ja, in der Realität nein. Unsere Definition von Armut bemisst sich am mittleren Einkommen. Wenn mehr Menschen dazukommen, die ärmer sind als jene, die bisher als arm gelten, verschiebt sich der Median. Das mittlere Einkommen ist also nicht mehr das gleiche. Daher sind manche deutsche Familien in den letzten Jahren statistisch aus der Armut herausgekommen. Aber nicht, weil sie mehr Geld, mehr Lebensqualität oder mehr Teilhabe haben. Sie rücken schlicht aus der statistischen Definition heraus. Ein armes Kind ist ein armes Kind. Es darf keine Rolle spielen, welche Hautfarbe, welche Religion, welche Herkunft dieses Kind hat. Das macht die Verantwortung der Gesellschaft nicht geringer. Es ist doch offensichtlich, dass jemand, der geflüchtet ist, der sich um Kleinkinder kümmert, Hilfe benötigt. Denn jeder Monat, den ein Kind in Armut ist, schafft permanenten Schaden für die Betroffenen und für die Gesellschaft als Ganzes.

Das vollständige Interview

Themen: Familie

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