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Fünf Mythen zu Kinderarmut und Kindergrundsicherung

Blog Marcel Fratzscher vom 25. August 2023

Finanzminister Christian Lindner bringt neue Argumente gegen die Kindergrundsicherung in den Diskurs ein. Doch sie beruhen auf Missverständnissen. Zeit, sie auszuräumen.

Im öffentlichen Diskurs über die Kindergrundsicherung nennt Bundesfinanzminister Christian Lindner zwei neue Argumente: Die Entwicklung der Kinderarmut in Deutschland seit 2015 sei dahingehend positiv, dass viele "ursprünglich deutsche Familien" nicht mehr arm seien und lediglich die Zuwanderung die Kinderarmut weiter erhöht habe. Zudem seien eine Integration der Eltern in den Arbeitsmarkt und ein stärkeres Bildungssystem bessere Alternativen zur Kindergrundsicherung. 

Dieser Text erschien am 25. August 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Die Aussagen zeugen von grundlegenden Missverständnissen über Kinderarmut, was sie verursacht und wie sie definiert wird. Es ist höchste Zeit, diese Mythen auszuräumen.

Statistische statt realer Umverteilung

Das erste Missverständnis betrifft die Definition von Armut und zeigt sich in der Aussage, der Rückgang von Armut bei "ursprünglich deutschen Familien" sei eine gute Entwicklung. Die diskutierten Zahlen zu Kinderarmut beruhen auf einer relativen Definition von Armut: Dabei gelten alle Menschen mit weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens als arm. Diese Definition sagt nichts über die Kaufkraft der Einkommen oder den Lebensstandard von Familien aus, sondern lediglich etwas zu ihrer relativen Stellung im Vergleich zum mittleren Haushalt. 

Die Tatsache, dass viele Geflüchtete seit 2015 nach Deutschland gekommen sind, die noch weniger Einkommen haben als Deutsche, die vor diesem Zeitpunkt als arm galten, bedeutet nicht, dass diese Deutschen heute einen höheren Lebensstandard haben als 2015. Dies heißt lediglich, dass sie in der Einkommensverteilung der Gesellschaft nun nicht mehr ganz unten sind. Wegen der Corona-Pandemie, steigender Mieten und hoher Inflation deutet einiges darauf hin, dass viele der deutschen Familien, die aus statistischen Gründen seit 2015 aus der Armut gekommen sind, ihren Lebensstandard nicht verbessern konnten – und es somit auch kein Grund für Zufriedenheit bei der Entwicklung der Kinderarmut in Deutschland geben kann.

Kinderarmut ist mehr als ein geringes Einkommen

Zum zweiten Mythos: Armut bedeutet nicht nur ein geringes Einkommen, sondern konkret eine geringe soziale, politische und wirtschaftliche Teilhabe. Von Armut betroffene Kinder haben nicht die gleichen Möglichkeiten, etwa ins Kino zu gehen, Ausflüge zu machen oder kulturelle Angebote zu nutzen wie andere Kinder. Dies führt zu schlechteren Bildungschancen. Das zeigt auch die enorme Zahl von 50.000 Jugendlichen, die jedes Jahr ihren Bildungsweg ohne Schulabschluss beenden. Das zeichnet den Lebensweg vieler junger Menschen vor – nicht zu Unrecht heißt es: Armut vererbt sich. Kinderarmut führt zu einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit von Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit vom Sozialsystem, weniger Lebenszufriedenheit und einer schlechteren Gesundheit. Kinderarmut bedeutet daher so viel mehr als geringes Einkommen. Sie nimmt vielen jungen Menschen die Zukunftsperspektive.

Dieser Schaden für die von Armut betroffenen Menschen verursacht auch einen enormen Schaden für die Gesellschaft. Der Staat muss für viele Kinder, die heute in Armut leben, ihr Leben lang deutlich höhere Sozialausgaben tätigen. Unternehmen entgehen zudem Fachkräfte. Der dritte Mythos ist daher die Behauptung, der Staat könne sich eine Kindergrundsicherung zur Bekämpfung von Kinderarmut finanziell nicht leisten. Das Gegenteil trifft zu: Staat und Gesellschaft können es sich nicht nur moralisch und sozial, sondern auch finanziell schlichtweg nicht leisten, die riesigen Kosten der Kinderarmut zu stemmen und auf alle Menschen umzulegen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) schätzt die jährlichen Kosten der Kinderarmut in Deutschland auf mehr als 100 Milliarden Euro. Eine auskömmliche Kindergrundsicherung, die die Kinderarmut zu einem großen Teil beseitigen würde, würde etwas mehr als 20 Milliarden Euro pro Jahr kosten.

Der vierte Mythos: Die Migration und Zuwanderung von Geflüchteten sei verantwortlich für den Anstieg von Kinderarmut. Dieses Argument ist unabhängig davon falsch, dass es für einen Staat und für eine Gesellschaft völlig irrelevant sein sollte – moralisch, sozial und wirtschaftlich – welche Hautfarbe, Religion oder Herkunft ein Kind hat. Wer sagt, dass Geflüchtete und andere Migrantinnen und Migranten in Deutschland in Armut landen müssen? Dieses Beispiel zeigt, dass die Hauptursache für Armut eben meist nicht bei den betroffenen Menschen, sondern in den Lebensumständen und dem Versagen des Staates liegen. Eine schnelle und unbürokratische Genehmigung zur Arbeit, zu Sprachkursen, Qualifizierung und Anerkennung von Qualifikation sind Dinge, die der Staat noch immer zu schlecht umsetzt, sodass vielen Geflüchteten gar keine andere Option bleibt, als von staatlichen Geldern zu leben.

Mit jedem Monat in Armut steigt der gesellschaftliche Schaden

Der fünfte Mythos ist die Aussage Christian Lindners, Armut ließe sich durch Arbeit der Eltern und Bildung lösen – anstelle einer Kindergrundsicherung. Der Bundesfinanzminister sei daran erinnert, dass die Kindergrundsicherung kein Anspruch der Eltern, sondern ein Anspruch der betroffenen Kinder ist. Und er sei daran erinnert, dass er selbst den Abbau vieler Hürden für Arbeit und bessere Arbeitseinkommen fördern könnte: durch die Reform von Ehegattensplitting und Minijobs oder steuerliche Entlastungen für Arbeitseinkommen. Dies gilt insbesondere für alleinerziehende Mütter, für die das Armutsrisiko in Deutschland bei fast 40 Prozent liegt.

Noch wichtiger ist jedoch, dass eine Verbesserung von Arbeitsmarkt- und Bildungschancen niemals ausreichende finanzielle Hilfen und eine Kindergrundsicherung ersetzen können. Denn Kinderarmut verursacht hier und heute einen permanenten Schaden für die Betroffenen. Und der lässt sich eben nicht durch die potenzielle Chance auf Arbeit und ein besseres Einkommen in zwei oder fünf Jahren vermeiden. Mit jedem Monat in Armut steigt der Schaden für die Betroffenen und für die Gesellschaft.

Die hohe Kinderarmut in Deutschland ist ein großes soziales, wirtschaftliches und politisches Problem. Es ist falsch und kontraproduktiv, dieses Problem durch eine verstärkte Zuwanderung oder durch Versprechen besserer Bildungs- und Arbeitsmarktchancen zu relativieren. Armut bedeutet eine fehlende Teilhabe und verursacht gerade bei Kindern und Jugendlichen einen permanenten, lebenslangen Schaden in Bezug auf Chancen, Lebenszufriedenheit und Gesundheit – und damit für die Gesellschaft. Die Verantwortlichen in der Politik sollten dieses Problem deshalb ernst nehmen und nicht versuchen, es kleinzureden.

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