Blog Marcel Fratzscher vom 4. September 2023
Christian Lindner hat Kinderarmut und Migration in einen Zusammenhang gebracht. Der Politologe Joachim Behnke verteidigte das. Diese Aussagen sind irreführend und potenziell gefährlich.
In seinem Kommentar »Armut kann steigen, auch wenn alle mehr verdienen« verteidigt Joachim Behnke die Aussagen von Bundesfinanzminister Christian Lindner, die Entwicklung der Kinderarmut bei »ursprünglich deutschen Familien« seit 2015 sei sehr positiv und die Zunahme der Kinderarmut in Deutschland lediglich durch Zuwanderung zu erklären. Zudem sei nicht eine Kindergrundsicherung oder eine bessere finanzielle Unterstützung von Kindern eine gute Lösung für Armut, sondern die Arbeit der Eltern. Er kritisiert dabei auch meine Einordnungen der Kinderarmut.
Drei zentrale Missverständnisse zeigt dieser Gastbeitrag, die auch im öffentlichen Diskurs häufig bestehen bleiben und gesellschaftlichen Sprengstoff bieten.
Dieser Gastbeitrag von Marcel Fratzscher erschien am 5. September 2023 bei SPIEGEL+.
Das erste Missverständnis betrifft die Konsequenzen von Kinderarmut. Es wird häufig suggeriert, Kinderarmut sei zwar unschön, aber auch unvermeidbar und würde sich spätestens dann auflösen, wenn die Kinder erwachsen werden. Unzählige wissenschaftliche Studien zeigen, dass Kinderarmut für die meisten Kinder ein Trauma darstellt, das sie ihr Leben lang prägt. Armut bedeutet weniger soziale Teilhabe und geringere Bildungschancen sowie eine höhere Wahrscheinlichkeit, keinen Schulabschluss oder keine Ausbildung zu erhalten.
Armut im Kindesalter erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, als Erwachsener in Armut zu leben. Sie bedeutet eine schlechtere Gesundheit, weniger Lebenszufriedenheit, eine geringere Autonomie, das eigene Leben zu gestalten, und selbst häufig ein Leben lang soziale Leistungen vom Staat beziehen zu müssen.
Auch für die Gesellschaft ist dies ein finanzielles Problem, da die Sozialsysteme belastet, der gesellschaftliche Zusammenhalt geschwächt und Konflikte geschürt werden. Unternehmen entgehen Fachkräfte, die sie heute mehr denn je brauchen. Jeder Monat, den ein Kind in Armut lebt, richtet einen erheblichen Schaden für das betroffene Kind und für die Gesellschaft an. Deshalb ist die Behauptung, man könne Kinderarmut irgendwann in der Zukunft durch Arbeit und Einkommen der Eltern allein lösen, falsch. Und deshalb ist eine auskömmliche und sofortige finanzielle Unterstützung der betroffenen Kinder ohne jegliche Alternative.
Das zweite Missverständnis betrifft die Gleichsetzung von Armut mit dem Bezug sozialer Leistungen. Soziale Leistungen wie das Bürgergeld, der Kinderzuschlag oder künftig die Kindergrundsicherung sind keine Absicherung gegen Armut, sondern sollen lediglich das Existenzminimum gewährleisten. Es gibt also mehr Menschen, die von Armut betroffen sind, als Bezieher*innen sozialer Leistungen. Es gibt zudem viele Menschen mit Arbeit, sogenannte »Aufstocker«, die trotz Arbeit nicht genug Einkommen haben, um ihre Familie zu versorgen.
Dieser Unterschied zwischen Armut und dem Bezug sozialer Leistungen ist wichtig, da viele Menschen mit Anspruch auf Sozialleistungen diese nicht in Anspruch nehmen. Die Bundesregierung schätzt, dass lediglich 35 Prozent der Berechtigten den Zuschlag für von Armut betroffene Kinder bekommen. Zwei von drei Eltern erhalten dieses Geld also nicht, entweder weil sie durch den Dschungel der Bürokratie nicht durchsteigen, oder weil sie schlichtweg nichts von ihrem Anrecht wissen.
Und hier liegt eine große Stärke der Kindergrundsicherung, die eine wirkliche Wende bedeutet: Der Staat hat sich nun verpflichtet, allen Menschen mit Ansprüchen das Geld auszuzahlen. Allein dadurch könnten sechs Milliarden Euro an Kosten jedes Jahr zusätzlich anfallen – auch ohne Erhöhung der Leistungen.
Das dritte Missverständnis ist die Gleichsetzung von Migration mit Kinderarmut. Als von Armut betroffen gelten der Definition nach all jene Menschen, die mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen müssen. Die meisten Geflüchteten und Migrant*innen ohne Arbeit fallen unter diese Definition und gelten somit als arm. Weil die Armutsgrenze daher sinkt, gelten nun einige Familien streng nach statistischer Definition nicht mehr als arm. Das heißt jedoch nicht zwangsläufig, dass sie heute einen höheren Lebensstandard oder eine bessere soziale Teilhabe haben.
Daher ist Vorsicht geboten: Diese 60 Prozent sind lediglich eine statistische Definition, und wir machen es uns zu einfach, wenn wir glauben, dass es deutschen Familien, die aus statistischen Gründen durch die Zuwanderung aus der Armutsdefinition herausgerutscht sind, heute besser geht. In anderen Worten: Ohne Migration wäre die Kinderarmut bei deutschen Familien nicht so deutlich gesunken.
Was die Aussage, die Migration sei für Kinderarmut verantwortlich, so zynisch macht, ist, dass sie suggeriert, Armut hätte kausal etwas mit Migration, also mit Herkunft, Hautfarbe oder Religion, zu tun. Die Frage, die mich umtreibt und die ich noch immer nicht beantworten kann, ist: Wieso erwähnt der Bundesfinanzminister im Zusammenhang mit Kinderarmut die Zuwanderung von Geflüchteten und anderen Menschen aus dem Ausland überhaupt? Armut hat keine Hautfarbe oder geografische Herkunft. Es sollte für Staat und Gesellschaft irrelevant sein, wer in diesem Land von Armut betroffen ist.
Wieso bringt der Bundesfinanzminister Kinderarmut in Zusammenhang mit Zuwanderung, und nicht mit alleinerziehenden Müttern? Mit 38 Prozent sind alleinerziehende Eltern (zu 90 Prozent sind dies Mütter) und ihre Kinder mehr als dreimal so häufig von Armut bedroht wie ein Elternpaar mit zwei Kindern.
Alleinerziehende sind offensichtlich keine schlechteren Eltern, sondern ihnen werden in unserem Land noch immer hohe Hürden in den Weg gelegt, um durch gute Arbeit ihre Kinder und sich selbst versorgen zu können. Fehlende Kitas und Ganztagsschulplätze, eine schlechte Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, massive finanzielle Fehlanreize, etwa durch Minijobs, und geringe Löhne sind die wirklichen Gründe für die hohe Armutsgefährdung von Alleinerziehenden.
Wieso verbindet der Bundesfinanzminister Kinderarmut nicht mit dem Wohnort in Deutschland? Denn Menschen in Ostdeutschland und in strukturschwachen Region sind deutlich häufiger von Armut bedroht. Auch hier liegt der Grund nicht im fehlenden Willen oder den individuellen Entscheidungen der Betroffenen, sondern in strukturellen Faktoren, für die primär Staat und Gesellschaft verantwortlich sind.
Ich würde dem Bundesfinanzminister nie Fremdenfeindlichkeit oder Ressentiments gegen Asylsuchende vorwerfen. Aber was diese Aussage und die explizite Verbindung von Zuwanderung mit Kinderarmut so gefährlich macht, ist, dass sie die populistischen und fremdenfeindlichen Stimmen, die in Grenzschließungen oder Beschneidungen des Rechts auf Asyl die Lösung für viele Probleme in Deutschland sehen, weiter befeuern.
Das Beispiel der Alleinerziehenden und anderer exponierter Gruppen zeigt, wo die Lösung von Kinderarmut liegt: kurzfristig und sofort eine bessere finanzielle Unterstützung für die Betroffenen. Und zusätzlich und so bald wie möglich: bessere Kitas und Schulen, bessere Betreuungsmöglichkeiten, bessere Jobs, bessere Bezahlung, mehr Wertschätzung, weniger Fehlanreize und weniger steuerliche Hürden.
Das Gleiche gilt für Menschen mit Migrationshintergrund, besonders für Geflüchtete, denn gerade Geflüchtete aus der Ukraine sind häufig Mütter, die auch wegen fehlender Kinderbetreuung nicht oder nur wenig arbeiten können. Zudem sind die Barrieren hoch, vor allem bei Sprachkenntnissen und Qualifikationen, überhaupt in Arbeit kommen zu können.
Also auch bei Menschen mit Migrationsgeschichte und Geflüchteten sind Staat und Gesellschaft in der Pflicht, bessere Bedingungen und Chancen zu eröffnen, sodass sie sich selbst aus der Armut ziehen können. Aber auch hier gilt: Ein besserer Zugang zum Arbeitsmarkt kann nur eine Ergänzung zu einer ausreichenden finanziellen Unterstützung sein, damit die Armut erst gar keinen Schaden anrichten kann.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Familie , Migration , Öffentliche Finanzen