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Die angebliche Erosion der Leistungsbereitschaft

Blog Marcel Fratzscher vom 29. Januar 2024

Vielen Deutschen mangele es an ”Leistungsbereitschaft” – so der Konsens beim WELTWirtschaftsgipfel, bei der gerade unter anderem Bundesfinanzminister Christian Lindner, CDU-Chef Friedrich Merz und Unternehmenslenker wie Christian Sewing von der Deutschen Bank oder Roland Busch von Siemens zu Gast waren. Beschäftigte  in Unternehmen in Deutschland müssten sich mehr anstrengen und flexibler sein. Die Wochenarbeitszeit solle erhöht werden, damit die Wirtschaft wieder produktiver  und das Fachkräfteproblem begrenzt werden könne.

Aber stimmen diese Argumente? Ist eine Erosion der Leistungsbereitschaft wirklich das Problem und eine Erhöhung  der Wochenarbeitszeit die Lösung? Eine ehrliche Analyse widerlegt diese These. Das Problem der deutschen Wirtschaft liegt heute eher in den Fehlern und einer fehlenden Leistungsbereitschaft mancher Verantwortlicherin Politik und Wirtschaft.

So viele Arbeitsstunden wie noch nie

Zum einen gibt es keinerlei Belege für die Behauptung, Beschäftigte seien heute weniger leistungsbereit als vor 20 oder 40 Jahren. Deutschland hatte mit 46 Millionen Beschäftigten nie mehr Erwerbstätige als heute. Die meisten Beschäftigten sind in Bezug auf Arbeitszeit und Arbeitsinhalte heute sehr viel flexibler als jemals zuvor. Und es wurden gesamtwirtschaftlich in den vergangenen 70 Jahren nie mehr Arbeitsstunden in Deutschland geleistet als derzeit.

Dieser Gastbeitrag von Marcel Fratzscher erschien am 30. Januar 2024 in der WELT.

Arbeit bleibt sinnstiftend

Arbeit ist und bleibt für die allermeisten Menschen sinnstiftend und ein wichtiger Teil für ihre Identität und ein erfülltes Leben. Richtig ist, dass viele Beschäftigte in Vollzeit ihre Arbeitszeit gerne reduzieren würden, im Durchschnitt um drei Stunden pro Woche. Dies gilt insbesondere für Beschäftigte mit höheren Stundenlöhnen. Gleichzeitig hat die gesundheitliche Belastung in vielen Berufen deutlich zugenommen, so dass der Wunsch einer geringeren Wochenarbeitszeit auch dem Schutz der  eigenen Gesundheit und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geschuldet ist.

Frauen arbeiten extrem viel in Teilzeit

Zur Wahrheit gehört auch, dass viele Beschäftigte in Teilzeit gerne mehr Stunden arbeiten möchten. Dies gilt insbesondere für Frauen. In fast keinem anderen
Land der Welt arbeiten so viele Frauen in Teilzeit wie in Deutschland. Die meisten können jedoch nicht mehr Stunden arbeiten, weil Politik und Unternehmen
ihnen noch immer enorm hohe Hürden in den Weg legen. Deutschland hat noch immer ein völlig unzureichendes Betreuungsangebot in Kitas und Schulen. Der Staat hat ein Steuersystem geschaffen, das mit Blick auf die Arbeitsstunden häufig hohe finanzielle Fehlanreize setzt. Unzählige wissenschaftliche Studien zeigen, dass das  Ehegattensplitting und die Mitversicherung von Eheleuten in der Krankenversicherung die Erwerbstätigkeit von Frauen massiv reduzieren.

Minijobs sind eine Karrierebarriere

Auch die Minijobs – in denen fast sieben Millionen Menschen in Deutschland arbeiten – sind eine massive Barriere. Die Sozialsysteme sind so unkoordiniert, dass Transferentzugsraten für Menschen mit geringen Einkommen nicht selten so hoch sind, dass es sich schlichtweg nicht lohnt, mehr Stunden zu arbeiten. Hinzu kommt die Diskriminierung am Arbeitsplatz. Der Gender Pay Gap, die Schlechterstellung von Frauen bei der Bezahlung, ist in Deutschland immer noch einer der höchsten in Europa  und auch die Karrierechancen für Frauen sind begrenzt.

Politik sollte selbst mehr leisten: und Hürden abbauen

Ein höherer Mindestlohn könnte positive Beschäftigungseffekte auslösen. In anderen Worten: Die Verantwortlichen in der Politik sollten nicht über die fehlende Leistungsbereitschaft der Beschäftigten klagen, sondern ihre eigene Leistung verbessern und diese vielen Hürden aus dem Weg räumen. Die Wissenschaft hat immer  wieder konkrete Vorschläge gemacht, wie dies gelingen kann, und aufgezeigt, wie riesig der Nutzen davon für die Beschäftigten sowie Wirtschaft und Gesellschaft als  Ganzes wären. Das gleiche gilt für die Verantwortlichen in Wirtschaft und Unternehmen: Sie selbst sollten ihre Leistung hinterfragen und ihr Denken und Handeln ändern,  statt Beschäftigte für die eigenen Fehler verantwortlich zu machen. So ist die Produktivitätsentwicklung in Deutschland seit vielen Jahren enttäuschend. Viele  Unternehmen investieren viel zu wenig in ihre Beschäftigten, in neue Technologien und die ökologische und digitale Transformation.

Gerade bei der Digitalisierung hinkt die Mehrheit der deutschen Unternehmen im internationalen Vergleich hinterher. Es war für viele der Verantwortlichen in den  Unternehmen in den letzten 20 Jahren bequem, zusätzliche Arbeit durch günstige Beschäftigte leisten zu lassen, statt in eine Transformation und höhere Produktivität zu  investieren.

Produktivität ist entscheidend, nicht die Stundenzahl

Der Hauptfokus sollte die Produktivität der Beschäftigten sein und nicht per se eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit. Zahlreiche internationale Studien zeigen, dass eine  Vier-Tage-Woche die Arbeitsproduktivität pro Stunde deutlich erhöhen kann. Forderungen nach einer Erhöhung der Wochenarbeitszeit sind ganz genauso fehl am Platz  wie Forderungen von Gewerkschaften nach einer rigiden 35-Stunden-Woche. Mehr Flexibilität und das Eingehen auf individuelle Bedürfnisse ist der ungleich bessere  Ansatz für Unternehmen und Beschäftigte gleichermaßen, um Produktivität und wirtschaftlichen Erfolg zu verbessern.

Menschen müssen mehr Chancen bekommen

Zudem gilt es für Unternehmen und Politik, die vielen ungehobenen Potenziale an Arbeitskräften in Deutschland zu heben. Dies betrifft nicht nur die Erwerbstätigkeit von  Frauen und die Erhöhung der Arbeitszeit von Menschen in Teilzeit, sondern auch die vielen Migrant*innen und Deutsche, die keinen Schul- oder Berufsabschluss haben  und denen häufig schon früh viele Chancen genommen werden, ein produktiver Teil im Arbeitsleben sein zu können.

Das Gerede von einer fehlenden  Leistungsbereitschaft von Beschäftigten ist unsinnig und lenkt vom eigentlichen Problem ab. Politik und Arbeitgeber müssen endlich ihrer Verantwortung gerecht werden, in die Transformation der Wirtschaft investieren und vergangene Fehler korrigieren.

Politik braucht mehr Mut

Deutschland hat noch immer alle Möglichkeiten, sein Arbeitskräfteproblem zu adressieren und zu lösen. Die Lösungen liegen auf der Hand, es fehlt aber an Mut und  Konsequenz bei den Verantwortlichen in Politik und Unternehmen, die notwendigen Veränderungen umzusetzen.

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