DIW Wochenbericht 7 / 2024, S. 108
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Energiekosten explodieren, Fachkräfte werden knapper und teurer, Formulare gibt es gefühlt immer mehr statt weniger: Da wundert es kaum, dass auch alteingesessene Unternehmen am Standort Deutschland zweifeln und nach alternativen Produktionsstandorten im Ausland suchen. Dies gilt gerade für die Großen aus den energieintensiven Branchen. So haben die Giganten der Chemieindustrie unverhohlen mit der Abwanderung von Geschäftszweigen in die USA gedroht. Aber auch in lohnintensiven Branchen wie der Haushaltselektrotechnik scheint es nun den einen oder anderen Traditionsbetrieb nicht länger in der Heimat zu halten. Wenn es dann zu Stellenabbau oder gar Betriebsschließungen kommt, trifft dies die Belegschaften hart. Viele der langjährig Beschäftigten verlieren mehr als ihren Job.
Allerdings ist die Verlagerung von Produktionen ins Ausland per se kein Indiz für eine Standortschwäche. Ein Beispiel sind die großen Autokonzerne, die in der Vergangenheit gerade mit der Diversifizierung ihrer Zuliefernetze und der Erschließung von Auslandsmärkten über Vor-Ort-Produktionen die Autoproduktion hierzulande gesichert haben. Auch viele andere Unternehmen verdienen am Standort Deutschland gutes Geld. So sind in der Industrie die Gewinne im Jahr 2023 deutlich stärker gestiegen als die Löhne. Und auch die Gewinnerwartungen scheinen im Durchschnitt nicht so schlecht zu sein. Die deutschen Aktienindizes liegen aktuell sogar auf Rekordniveau.
Es gibt also keinen Grund zur Torschlusspanik. Auch die Politik muss nicht in Hektik verfallen. Pauschale Energiepreissubventionen wie beim Industriestrompreis oder generelle Steuergeschenke wie bei einer Abschaffung des Solidaritätszuschlages gehen in die falsche Richtung. Was Deutschland braucht, ist eine Industriestrategie, die gezielt die anstehenden Probleme angeht. Diese Strategie muss zwei Komponenten zusammenbringen, die nur gemeinsam erfolgreich sind.
Zum einen geht es darum, das Handlungsumfeld der Unternehmen zu verbessern. Erneuerbare Energien müssen billiger, Ausbildungssysteme effektiver und der Staat schneller werden. Das heißt, die Infrastruktur für den Transport und die Speicherung von Wind- und Solarenergie ist massiv auszubauen. Das Bildungssystem ist so zu modernisieren, dass sowohl Spitzenleistungen erzielt als auch in der Breite Querschnittsqualifikationen vermittelt werden. Beim leidigen Thema Bürokratieabbau geht es nicht nur darum, Vorschiften auf ihre Notwendigkeit hin zu prüfen. Eine schnelle Entlastung der Unternehmen von Bürokratiekosten wäre vor allem auch dadurch zu erzielen, dass die Kommunikation möglichst vollständig digitalisiert würde. Dabei könnte der Staat verstärkt auf künstliche Intelligenz bei seinen Prüfaufgaben setzen.
Zum anderen geht es darum, den Industriestandort fit für die Zukunft zu machen. Angesichts der klima- und geopolitischen Herausforderungen ist insbesondere der Zugriff auf die industriellen Schlüsseltechnologien zu gewährleisten. Ohne Batteriezellen, Wasserstoffnutzung und Mikrochips läuft in der Industrie der Zukunft nichts. Will Deutschland ein starker und breit aufgestellter Industriestandort bleiben, kommt es nicht nur darauf an, bei der Entwicklung der entsprechenden Technologien vorne mitzuspielen, sondern auch eigene sichere Produktionskapazitäten nutzen zu können. Die jüngsten Ansiedlungszusagen führender internationale Konzerne aus den USA, Skandinavien und Taiwan könnten ein erster Schritt dazu sein.
Eine solche Doppelstrategie ist allerdings teuer. Der Ausbau der Infrastruktur, die Modernisierung der Ausbildungssysteme und die Digitalisierung der Verwaltung benötigen hohe öffentliche Investitionen. Der Umbau des industriellen Kapitalstocks erfordert nicht unwesentliche staatliche Investitionsfördermittel. Die Strategie verspricht aber auch die Aussicht auf hohe Erträge in Form sicherer und gut bezahlter Arbeitsplätze sowie hoher Steuereinnahmen für alle Gebietskörperschaften.
Themen: Konjunktur, Industrie, Energiewirtschaft, Bildung
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-7-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/283942