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Sollen wir alle noch mehr arbeiten?

Blog Marcel Fratzscher vom 22. April 2024

Noch nie wurde hierzulande so viel gearbeitet. Überstunden steuerlich zu entlasten, ist trotzdem falsch, schreiben die DIW Ökonom*innen Marcel Fratzscher, Mattis Beckmannshagen und Annika Sperling.

Der Arbeitskräftebedarf ist eine große wirtschaftliche Herausforderung für Deutschland, denn bei fortschreitender Automatisierung und künstlicher Intelligenz braucht es Menschen, die in den Unternehmen die ökologische und digitale Transformation umsetzen. Nur so wird sich die deutsche Wirtschaft im globalen Wettbewerb behaupten können. Manche monieren jedoch, die junge Generation zeige zu wenig Leistungsbereitschaft. Der Staat solle in den Arbeitsmarkt eingreifen, indem er Überstunden steuerlich fördert. Das wäre ein teurer Irrweg – dabei liegen klügere Lösungen auf der Hand. 

Diese Kolumne erschien am 19. April 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

In der Arbeitszeitdebatte ist das Narrativ, zu viele Beschäftigte seien faul und vor allem die Generation Z zeige zu wenig Leistungsbereitschaft, sehr präsent. Dieses Narrativ steht jedoch in Widerspruch zu den Fakten und der Realität, wie auch eine neue Studie des DIW Berlin zeigt. So gab es seit der Wiedervereinigung mit knapp 46 Millionen nie mehr Menschen in Arbeit in Deutschland als heute. Und auch das Arbeitsvolumen der Beschäftigten, also die insgesamt geleisteten Arbeitsstunden pro Jahr, haben 2023 ein Rekordhoch erreicht. Gerade in den letzten zehn Jahren hat Deutschland einen Beschäftigungsboom erlebt: Seit 2016 sind knapp 2,3 Millionen Menschen zusätzlich in Beschäftigung gekommen.

2010er Jahre: Wirtschaftsboom dank Zuwanderung

Dieser Beschäftigungsboom ist nicht der Demografie geschuldet – ganz im Gegenteil, die deutsche Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpft. Sondern es waren zum einen der Anstieg der Erwerbstätigkeit von Frauen und zum anderen die starke Zuwanderung nach Deutschland, von denen die deutsche Wirtschaft und der Arbeitsmarkt stark profitiert haben. Mit anderen Worten: Ohne Zuwanderung und die höhere Frauenerwerbstätigkeit wäre der Wirtschaftsboom der 2010er-Jahre nicht möglich gewesen und der Wohlstand heute geringer. 

Keine Argumente für steuerlich begünstigte Überstunden

Zwar ist trotz des gestiegenen Arbeitsvolumens die Zahl der Überstunden in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren deutlich zurückgegangen. Bemerkenswert ist jedoch, dass vor allem die Zahl der bezahlten Überstunden je Arbeitnehmer stark abgenommen hat – von durchschnittlich 23,3 Stunden im Jahr 2016 auf 13,2 Stunden im Jahr 2023. Die Zahl der unbezahlten Überstunden dagegen ist weniger stark gesunken und liegt heute mit 18,4 Stunden deutlich höher. Anders ausgedrückt: Zwar wurden weniger Überstunden geleistet, gleichzeitig konnten die Unternehmen aber finanzielle Einsparungen realisieren, indem vor allem die bezahlte Mehrarbeit reduziert wurde.

Wie ist nun die Forderung von Bundesfinanzminister Christian Lindner und der CDU einzuordnen, der Staat solle Überstunden steuerlich begünstigen? Aus ökonomischer Sicht ist es schwer, auch nur ein überzeugendes Argument für diese Forderung zu finden. Es ist dagegen leicht, sechs starke Gegenargumente aufzuzählen: 

1. Zu wenige Überstunden werden überhaupt bezahlt

Die genaue Umsetzung der geforderten Steuerbefreiung ist bisher unklar: Basierend auf Daten des Statistischen Bundesamtes bekommen nur 18 Prozent der Beschäftigten, die in Deutschland Überstunden leisten, diese bezahlt. Dementsprechend könnte eine Steuerbefreiung nur für diese gelten. Dies dürfte dazu führen, dass mehr Arbeitnehmer*innen eine Ausbezahlung von Überstunden fordern, also höhere Kosten für Unternehmen entstehen. Außerdem: Wie soll verhindert werden, dass Beschäftigte ihre vertraglichen Stunden reduzieren und bei gleichbleibender tatsächlicher Arbeitszeit die steuerlichen Vorteile ausnutzen? Eine Möglichkeit wäre, diese Regelung nur auf eine festgeschriebene Vollzeitgrenze anzuwenden. Dass der Vollzeitbegriff im Wandel ist, sieht man jedoch sowohl in der Metallindustrie als auch bei den Lokführern. Eine Steuerbefreiung daran festzumachen, wäre branchenabhängiges Stückwerk. Eine an Vollzeitstunden gekoppelte Steuererleichterung, würde darüber hinaus ausgerechnet Arbeitnehmerkräfte in Teilzeit außer Acht lassen, bei denen jedoch das größte Potenzial zur Arbeitszeitausweitung besteht. 

2. Es gibt noch nicht einmal eine umfassende Zeiterfassung

Auch die Kontrolle einer solchen Steuerbefreiung bleibt unklar: Im Rahmen der Mindestlohneinführung ist deutlich geworden, dass die Aufzeichnung der Arbeitszeiten ein wichtiger Knackpunkt bei der Kontrolle des Mindestlohns ist. Um den Missbrauch einer solchen Steuerbefreiung zu verhindern, wäre also eine verpflichtende und lückenlose Arbeitszeiterfassung notwendig – die allerdings wird bislang nicht praktiziert.  

3. So entstehen keine neuen Arbeitsanreize

Eine steuerliche Förderung von Überstunden dürfte, selbst wenn die Probleme bei der Umsetzung gelöst wären, kaum zu mehr geleisteten Arbeitsstunden führen. Hier hilft ein Blick nach Frankreich, wo Überstunden im Jahr 2007 von der Einkommensteuer befreit wurden. Eine empirische Analyse der Reform zeigt, dass diese keinen Effekt auf die in der Summe geleisteten Stunden hatte, obwohl in Frankreich alle Überstunden ausbezahlt werden (man also einen größeren Effekt als in Deutschland erwarten könnte). Der einzige Effekt der Reform war, dass hoch qualifizierte Arbeitnehmer*innen mehr Überstunden deklarierten, um von den steuerlichen Vorteilen zu profitieren.

4. Es drohen Mitnahmeeffekte

Selbst bei geringem bis keinem Effekt auf das Arbeitsangebot könnten erhebliche Kosten für den Staatshaushalt durch sogenannte Mitnahmeeffekte entstehen. Diejenigen, die bereits heute bezahlte Überstunden leisten, ändern ihren Arbeitsumfang nicht, nehmen aber gern die steuerliche Vergünstigung mit – zulasten des Staatshaushalts. In Zeiten, in denen der finanzielle Spielraum der öffentlichen Hand durch die Schuldenbremse bereits stark eingeschränkt ist, gleichzeitig aber hoher Investitionsbedarf in Infrastruktur, Bildung und Nachhaltigkeit besteht, würde der Staat seinen Handlungsspielraum mit einer solchen Reform zusätzlich einschränken.  

5. Männer werden noch mehr arbeiten

Es besteht die Gefahr, dass eine Steuerbefreiung von Überstunden den Trend zu mehr Geschlechtergerechtigkeit behindert. Sollte eine solche Reform – trotz der bereits aufgeführten Fragezeichen bei der Umsetzung – doch einen Effekt auf das Arbeitsangebot haben, ist zu befürchten, dass sie die weitgehend unausgewogene Aufteilung von Erwerbs- und Carearbeit in Haushalten weiter zementiert. Wie die am Mittwoch erschienene DIW-Studie zeigt, ist trotz eines langsamen Annäherungsprozesses die durchschnittliche Erwerbsarbeitszeit von Frauen und insbesondere Müttern deutlich geringer als die von Männern, während der Großteil der Carearbeit nach wie vor von Frauen übernommen wird. Wenn Hauptverdiener, statistisch gesehen häufig Männer, durch attraktive Überstundenregelungen weniger Zeit zu Hause verbringen, könnte das zu einer Mehrbelastung der Frauen im Haushalt führen und somit ihr Arbeitsangebot verringern. Das große Potenzial der Frauen für den deutschen Arbeitsmarkt bliebe also weiterhin ungenutzt.

6. Es entstehen Fehlanreize für Unternehmen

Zuletzt würden steuerfreie Überstunden auch Fehlanreize innerhalb von Unternehmen setzen. Diese sollten in die Produktivität ihrer Beschäftigten investieren, indem sie digitalisieren und ihren Beschäftigten bessere Arbeitsbedingungen bieten, anstatt die Arbeitszeit zu erhöhen. In dem Kontext sollte uns nicht der Rückgang der Überstunden, sondern der starke Anstieg der Krankheitstage Sorge bereiten. Waren Beschäftigte 2016 im Durchschnitt noch 10,8 Tage im Jahr krank, so stieg diese Zahl auf 15,2 Tage im Jahr 2023. Kurzum, der Fokus der Arbeitsmarktpolitik und der Anstrengung der Unternehmen sollte die Verbesserung der Qualität der Arbeit sein, nicht die Erhöhung der Quantität. 

Alternativ: Arbeitskraftpotenzial von Frauen und Migrant*innen besser nutzen

Dabei gibt es viel bessere Alternativen, dem Arbeitskräftebedarf in Deutschland zu begegnen, ein besseres Funktionieren des Arbeitsmarktes zu gewährleisten und auch für den Staat Geld einzusparen. Denn das größte ungehobene Arbeitskräftepotenzial ist die Erwerbstätigkeit von Frauen und die Integration von vielen der heute 3,3 Millionen Schutzsuchenden in den Arbeitsmarkt.

Wie die neue DIW-Studie zeigt, so ist die Erwerbsbeteiligung von Frauen zwischen 1991 und 2022 um 16 Prozentpunkte auf 73 Prozent gestiegen – ein großer Erfolg für den Arbeitsmarkt und auch für die Familien. Es gibt jedoch kaum ein Land, in dem ein höherer Anteil von Frauen in Teilzeit arbeitet. Viele davon – insbesondere Mütter – wollen deutlich mehr Stunden arbeiten, tun dies jedoch aus verschiedenen Gründen nicht. Eine entschiedene Rolle spielt dabei zum Beispiel die Minijobgrenze. Die Minijobreform der Bundesregierung aus dem Jahr 2022 hat dazu geführt, dass die sprunghaft angestiegenen Sozialabgaben bei Überschreiten der Minijobgrenze durch ein sukzessiv-ansteigendes System ersetzt werden. Dies ist zum Vorteil vieler Arbeitnehmerinnen im Niedrigstundenbereich, jedoch lohnt sich eine Ausweitung der Arbeitszeit über die Geringfügigkeitsgrenze hinaus finanziell immer noch selten für verheiratete Ehepartner. Durch das Ehegattensplitting und Mitversicherung steigt das Haushaltseinkommen nur marginal. Dies bedeutet, dass viele Frauen vor allem nach der Familiengründung kaum mehr Stunden arbeiten. Mit einer Reform des Ehegattensplittings in Kombination mit der geplanten Reform der Lohnsteuerklassen hätten vor allem Frauen bessere Wahlmöglichkeiten und mehr Unabhängigkeit. Eine höhere Erwerbstätigkeit würde dem Arbeitskräftebedarf entgegenwirken und zudem den Staat finanziell stark entlasten – zumal sich die steuerlichen Mindereinnahmen durch das Ehegattensplitting auf über 20 Milliarden Euro pro Jahr belaufen.

Jedoch müssen nicht nur die finanziellen Anreize reformiert werden, um das Arbeitsangebot von Frauen zu erhöhen. Auch die Doppelbelastung, die viele Frauen, insbesondere Mütter, durch das Jonglieren von Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung und den Aufgaben im Haushalt erfahren, muss berücksichtigt werden. Wie die DIW-Studie zeigt, steigt der zeitliche Aufwand, den Väter für Kinder und Haushalt investieren, langsam an, bleibt jedoch noch immer weit unter dem der Frauen. Allerdings können nur umfassende Betreuungsmöglichkeiten in Kitas und Schulen und die gerechte Aufgabenverteilung im Haushalt eine annähernd gleiche Erwerbsbeteiligung beider Geschlechter ermöglichen. 

Die Forderung nach einer Steuerbefreiung von Überstunden ist aus fast jeglicher ökonomischer Perspektive unsinnig bis kontraproduktiv. Die gute Nachricht ist, dass Deutschland einen Teil seines Arbeitskräftebedarfs decken könnte, wenn die Hürden für die Erwerbstätigkeit von Frauen reduziert und die Integration von Migrant*innen in den Arbeitsmarkt besser gefördert würden. Eine Reform des Ehegattensplittings könnte nicht nur zügig umgesetzt und schnelle Erfolge herbeiführen, sondern würden die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verbessern und damit auch dem Staat mehr finanziellen Spielraum für wichtige Zukunftsinvestitionen geben.

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