DIW Wochenbericht 21 / 2024, S. 307-315
Franziska Holz, Lukas Barner, Claudia Kemfert, Christian von Hirschhausen
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„Sollte russisches Gas doch noch sanktioniert werden, müsste kein EU-Mitgliedstaat um seine Gasversorgung fürchten. Dieser Ausfall lässt sich über Gas aus anderen Quellen und leichte Einsparungen kompensieren. Ein weiterer Ausbau der LNG-Kapazitäten ist überflüssig.“ Franziska Holz
In Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine sind die Preise für Erdgas im Jahr 2022 in immense Höhen geschnellt und haben gerade Deutschland die Folgen seiner starken Abhängigkeit von Russland spüren lassen. Die Preisspitzen sind inzwischen zwar abgeklungen, die europäische Erdgaswirtschaft hat die Unsicherheit des Energiekrisenjahres 2022 überwunden und den Einbruch der russischen Erdgasimporte ohne Versorgungsunterbrechung verkraftet. Russland bleibt jedoch Exporteur von Flüssiggas nach Europa und hat auch noch einige Länder Mittel- und Osteuropas energiepolitisch im Griff, die bisher EU-Sanktionen auf russische Erdgasexporte verhindert haben. Die Erdgasversorgung von Deutschland und Europa wäre auch langfristig ohne Importe aus Russland sicher. Dies zeigen Modellrechnungen mit dem Global-Gas-Modell, das die weltweite Erdgaswirtschaft in hohem Detailgrad abbildet. Die Versorgungssicherheit steht also weiteren EU-Sanktionen gegen Russland nicht im Weg. Verstärkte Einsparbemühungen und ein zeitnaher Erdgasausstieg würden die Abhängigkeit von Gasimporten darüber hinaus verringern und wären auch klimapolitisch sinnvoll.
Im Zuge des russischen Angriffkriegs gegen die Ukraine wurden russische Erdgasexporte in die Europäische Union drastisch reduziert. In der Folge herrschte in der EU große Sorge, dass diese Lieferungen nicht adäquat ersetzt werden könnten. Daher konnten sich die Mitgliedstaaten auch nicht auf Sanktionen gegen russisches Erdgas einigen, anders als für Kohle und pipelinegebundene Erdölexporte. Derzeit erwägt die EU einen erneuten Vorstoß in Richtung Gassanktionen gegen Russland, der sich gegen die Verschiffung russischen Flüssigerdgases (Liquefied Natural Gas, LNG) in europäischen Häfen richtet.
Da zudem Ende 2024 der Transitvertrag zwischen Russland und der Ukraine ausläuft und der Krieg in der Ukraine weiter anhält, erscheint eine Einstellung aller russischen Exporte in die EU denkbar. Weniger wahrscheinlich scheint hingegen die Möglichkeit, dass sich die internationalen Beziehungen erholen und die Gasimporte aus Russland wieder zunehmen. Daher werden im Folgenden die Effekte verschiedener Angebotsentwicklungen auf die europäische Erdgasversorgung modellgestützt analysiert. Diese Analyse berücksichtigt dabei auch differenziert Entwicklungen des globalen Erdgasangebots und der -nachfrage, die sich unter anderem aus verschiedenen klimapolitischen Szenarien ergeben könnten.
Der Ausfall russischer Lieferungen ist ein Szenario, das bereits vor dem russischen Überfall auf die Ukraine häufiger analysiert wurde.Vgl. beispielsweise Hella Engerer et al. (2014): Europäische Erdgasversorgung trotz politischer Krisen sicher. DIW Wochenbericht Nr. 22 (online verfügbar, abgerufen am 2. Mai 2024. Dies gilt auch für alle anderen Onlinequellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt); Franziska Holz et al. (2014): European Natural Gas Infrastructure: The Role of Gazprom in European Natural Gas Supplies. DIW Politikberatung kompakt 81 (online verfügbar). Auch seither wird das Thema diskutiert, vgl. zum Beispiel Nikita Moskalenko et al. (2024): Europe’s independence from Russian natural gas — Effects of import restrictions on energy system development. Energy Reports 11, 2853– 2866 (online verfügbar). Dieser Ausfall kann theoretisch auf drei Arten kompensiert werden. Erstens können die ausgefallenen Lieferungen durch andere Quellen ersetzt werden; zweitens kann die Nachfrage reduziert und Energie eingespart werden; und drittens können eventuell bestehende Infrastrukturengpässe, zum Beispiel durch effizienteres Pipelinemanagement, beseitigt werden. Diese Maßnahmen finden sich auch in den politischen Strategien des Jahres 2022 wieder, zum Beispiel im RePowerEU-Paket.Europäische Kommission (2022): REPowerEU-Plan. COM(2022) 230 final (online verfügbar).
In der Folge des seit Februar 2022 andauernden russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde die Erdgasversorgung der direkt nach Deutschland und Polen exportierenden Pipelines von russischer Seite unterbrochen. Dennoch beliefert Russland derzeit zahlreiche Mitgliedstaaten der EU weiter, sowohl über den türkischen Korridor als auch mittels Flüssigerdgas und, paradoxerweise, über die Ukraine (Kasten 1). Dadurch bezog beispielsweise Österreich zum Jahreswechsel 2023/24 noch mehr als 95 Prozent seiner Erdgasimporte aus Russland.Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (2024): Österreichs Energie-Infoportal (online verfügbar). Die anhaltende Abhängigkeit der mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten von Russland ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die EU keine Sanktionen gegen russische Erdgasexporte verhängte.
Seit den 1970er Jahren ist fossiles Erdgas ein wesentlicher Bestandteil des europäischen Energiesystems. Seitdem spielt die Geopolitik bei Themen wie Preissetzung und Versorgungssicherheit eine zentrale Rolle. So wurden zur Sicherung der Versorgung Deutschlands und anderer europäischer Länder staatlich unterstützte Langfristverträge abgeschlossen, zum Beispiel zu Beginn der 1970er Jahre mit den Niederlanden und in den 1980er Jahren mit Norwegen.Anne Neumann, Sophia Rüster und Christian von Hirschhausen (2015): Long-Term Contracts in the Natural Gas Industry – Literature Survey and Data on 426 Contracts (1965–2014). DIW Data Documentation 77 (online verfügbar). Im Zuge der Globalisierung der Erdgasmärke durch die Entwicklung von Flüssigerdgastransporten (LNG) wurden diese Verträge auch auf andere Kontinente ausgeweitet. Heute wird der globale Markt für LNG von Anbietern aus den USA, Australien und Katar dominiert.
Pipelinegebundenes Erdgas aus der Sowjetunion war bereits während des Kalten Kriegs ein Teil des westeuropäischen Energiemixes und wurde in diesem Kontext insbesondere durch die USA von Anfang an kritisch gesehen.Siehe dazu Otto Wolff von Amerongen (1992): Der Weg nach Osten: Vierzig Jahre Brückenbau für die deutsche Wirtschaft. München: Droemer Knaur, 208ff. Nachdem die Embargodrohungen der USA in den 1960er Jahren noch eine Annäherung blockiert hatten, schlossen einige westeuropäische Länder und die Sowjetunion ab den frühen 1970er Jahren ebenfalls entsprechende Langfristverträge ab. Die als „Erdgasröhrengeschäfte“ bekannten Verträge beinhalteten dabei die Lieferung und Finanzierung von Erdgasröhren (Pipelines) durch die Bundesrepublik im Gegenzug für den Export sowjetischen Erdgases.
Bis in die 1990er Jahre bezogen die Mitgliedstaaten der heutigen EU sowjetisches Erdgas fast ausschließlich über den sogenannten Ukraine-Transit. Dieser hatte ehemals eine Kapazität von etwa 150 Milliarden Kubikmeter pro Jahr, rund ein Drittel des heutigen Erdgasverbrauchs in der EU.Diese Kapazität ist in den vergangenen Jahrzehnten jedoch aufgrund mangelnder Wartung der Pipelines und Stilllegung einzelner Grenzübergangspunkte zurückgegangen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion diversifizierte Russland seine Exportrouten, vornehmlich um geostrategische Abhängigkeiten gegenüber der nunmehr unabhängigen Ukraine zu vermeiden.Vgl. Hella Engerer und Christian von Hirschhausen (1996): Ukrainische Energiewirtschaft: Beschwerlicher Weg in die Eigenständigkeit. DIW Wochenbericht Nr. 17, 277–284 (online verfügbar).
Dies erfolgte zuerst in den 1990er Jahren mit dem Bau der Yamal-Europe-Pipeline über Belarus und Polen sowie in den späten 2000er Jahren mit dem ersten Nord-Stream-Projekt durch die Ostsee. Seit 2011 wurden Deutschland sowie Teile West- und auch Osteuropas über die Nord-Stream-Pipeline beliefert. Diese hatte eine Kapazität von 55 Milliarden Kubikmeter pro Jahr.Vgl. für eine spieltheoretische Analyse Christian von Hirschhausen, Berit Meinhart und Ferdinand Pavel (2005): Transporting Russian Gas to Western Europe — A Simulation Analysis. The Energy Journal 26 (2), 49–68 (online verfügbar); sowie Franz Hubert und Svetlana Ikonnikova (2011): Investment Options and Bargaining Power: Investment Options and the Eurasian Supply Chain for Natural Gas. The Journal of Industrial Economics 59 (1), 85–116 (online verfügbar).
Auch Nord Stream 2 diente von Anfang an der Umgehung der Ukraine als Transitland, ohne dass es eine energiewirtschaftliche Notwendigkeit gegeben hätte.Siehe dazu Anne Neumann et al. (2018): Erdgasversorgung: Weitere Ostsee-Pipeline ist überflüssig. DIW Wochenbericht Nr. 27, 589–597 (online verfügbar). Dies wurde auch im Ende 2019 geschlossenen Transitvertrag zwischen Russland und der Ukraine deutlich. Hier war nur noch die Nutzung von 65 Milliarden Kubikmetern im Jahr 2020 beziehungsweise 40 Milliarden Kubikmetern jährlich für die Jahre 2021 bis 2024 vorgesehen.
In jüngerer Zeit erfolgte eine weitere Diversifizierung der russischen Exportmöglichkeiten nach Europa durch die Erschließung der türkischen Route sowie durch den Aufbau substanzieller Verflüssigungskapazitäten. Parallel erfolgte durch den Bau erster Anbindungen nach China auch eine Diversifizierung der pipelinegebundenen Absatzmärkte.
In den ersten beiden Quartalen des Jahres 2021, also vor Beginn des russischen Angriffkriegs gegen die Ukraine, bezog die EU jeweils über 40 Milliarden Kubikmeter Erdgas aus Russland. Dies entsprach mehr als 45 Prozent der gesamten Gasimporte. Im gleichen Zeitraum des Jahres 2023 konnte diese Liefermenge auf rund 10,5 Milliarden Kubikmeter je Quartal reduziert werden. Dabei flossen etwa drei Milliarden Kubikmeter über die Ukraine und rund 2,5 Milliarden Kubikmeter über die Türkei. Zusätzlich wurden pro Quartal etwa fünf Milliarden Kubikmeter russisches Flüssigerdgas importiert.Vgl. die seit Juni 2022 laufend aktualisierten Daten in Ben McWilliams et al: European Natural Gas Imports. Bruegel Datasets (online verfügbar).
Allerdings endet der Erdgas-Transitvertrag zwischen Russland und der Ukraine am 31. Dezember 2024. Gleichzeitig ist eine baldige Wiederinbetriebnahme der Ostsee-Pipelines Nord Stream und Nord Stream 2 sowohl aufgrund des anhaltenden Kriegszustands als auch aufgrund physischer Beschädigung der Pipelines in Folge der Explosionen im September 2022 unwahrscheinlich. Insgesamt stellt sich die Frage, ob Europa auch ohne russisches Erdgas über die Ukraine oder die Türkei und ohne LNG-Importe ausreichend versorgt wäre.
Die mittel- und langfristige europäische Erdgasversorgung wird nachfolgend mit dem Global-Gas-Modell (GGM) analysiert, das seit vielen Jahren in Forschung und Politikberatung eingesetzt wird (Kasten 2). Für Europa sind insbesondere die Auswirkungen weltweiter klimapolitischer Trends auf die globale Erdgasproduktion und -nachfrage sowie die geopolitischen Entwicklungen im Verhältnis zu Russland entscheidend. Daher werden zwei globale Klimaschutzszenarien auf der Nachfrageseite mit drei Szenarien für russische Lieferungen auf der Angebotsseite kombiniert.
Das Global-Gas-Modell wurde von Wissenschaftler*innen der Norwegischen Technischen Universität (NTNU) und des DIW Berlin entwickelt und wird seit über zehn Jahren regelmäßig aktualisiert.Ruud Egging und Franziska Holz (2019): Global Gas Model: Model and Data Documentation v3.0. DIW Data Documentation 100 (online verfügbar). Das Modell bildet alle relevanten Akteure im Erdgassektor ab: Erdgasförderer, Erdgashändler, LNG-Exportterminals (Verflüssigung), LNG-Schiffe, LNG-Importterminals (Regasifizierung), Pipelinebetreiber, Speicherbetreiber und eine durch verschiedene Sektoren zusammengesetzte Endnachfrage. Für jeden Akteur und jedes Land sind Kosten, Kapazitätsannahmen sowie Annahmen über die Kosten für Kapazitätserweiterungen der Infrastruktur im Modell hinterlegt. Es werden 136 Regionen (sogenannte Knoten) im Modell unterschieden, die per Pipeline oder Flüssiggastransportrouten miteinander verbunden sind. In den Modellrechnungen sind sowohl die heute bestehenden Import- und Transportkapazitäten berücksichtigt als auch die Möglichkeit des Ausbaus von Leitungs- oder Hafenkapazitäten. Die Erdgasverkäufer können Marktmacht ausüben, wobei dies insbesondere für Russland, USA, Katar, Iran, Saudi-Arabien und Algerien gilt. Die Modellrechnungen werden in Fünf-Jahres-Schritten bis 2060 vorgenommen. Dafür müssen Annahmen über zukünftige Nachfrage- und Produktionsmengen in allen Ländern getroffen werden, die für die Parametrisierung der Nachfrage- und Angebotsfunktionen benötigt werden. Für die in diesem Bericht dargestellten Ergebnisse wurden die Daten im Modell aktualisiert und auf das Startjahr 2020 gesetzt, damit Investitionen für das erste Betrachtungsjahr 2025 getätigt werden können. Außerdem wird nun eine aktualisierte und quelloffene Version bereitgestellt.Modellcode und -Daten sind online verfügbar.
Die unterschiedlichen klimapolitischen Ambitionen der EU werden in zwei Szenarien abgebildet. Im ersten Szenario erfolgt eine zeitnah beginnende Reduktion der globalen Erdgasnachfrage bis zum Jahr 2050, wie es in ambitionierten Klimaschutzszenarien zu erwarten wäre (schnell sinkende Erdgasnachfrage). Dabei handelt es sich um das Referenzszenario. Im zweiten Szenario kann die Erdgasnachfrage nur verzögert reduziert werden, bis sie 2050 ebenfalls auf null fällt (langsam sinkende Erdgasnachfrage). Dies wäre zum Beispiel denkbar, wenn Erdgas zunächst die wegfallende Energieerzeugung aus Kernkraftwerken kompensieren müsste. Die Nachfrage nach Erdgas bleibt dadurch in der EU bis 2030 etwa konstant. Zeitgleich erfolgt ein deutlicher Rückgang der europäischen Produktion von Erdgas. Daher weist dieses Szenario die größte Importabhängigkeit in der kurzen Frist auf (Abbildung 1).Weitere Szenarien sind denkbar, unter anderem auch solche, in denen bis 2050 kein vollständiger Ausstieg aus der Erdgasnutzung erreicht wird. So wurden zwei Szenarien definiert, die nicht den Ansprüchen des Pariser Klimaschutzabkommens genügen. Das „Moderate Climate Ambition“-Szenario beinhaltet dabei einen Rückgang der weltweiten Erdgasnachfrage und moderat verbesserte Klimaschutzambitionen in Europa. Das „No Climate Ambition“-Szenario sieht hingegen eine unbegrenzte Nutzung fossilen Erdgases ohne Klimaschutzmaßnahmen vor. Beide Szenarien führen zu einem geringeren mittelfristigen Importbedarf in Europa als das im Text beschriebene Szenario mit einem verzögerten Erdgasausstieg. Die Szenarienrechnungen sind online einsehbar (online verfügbar).
Die beiden Nachfrageszenarien werden mit unterschiedlichen Annahmen für die Verfügbarkeit russischen Erdgases in Europa kombiniert: Das sogenannte New-Normal-Szenario entspricht in etwa der heutigen Situation mit teilweise verfügbaren Kapazitäten über die Ukraine und die Türkei sowie unbeschränkten LNG-Importen aus Russland. Dieses wird verglichen mit einem kompletten Lieferstopp Russlands nach Europa (Sanktionsszenario) und mit einem Szenario, das erhöhte Importe aus Russland annimmt (Vorkriegsszenario). Im letzten Szenario ist eine verstärkte Diversifizierung der europäischen Importe gegenüber den 2010er Jahren berücksichtigt.
Im Jahr 2022 hat sich gezeigt, dass russisches Erdgas in Europa durch eine Kombination von Nachfragerückgang und Ersatzlieferungen aus anderen Quellen weitgehend ersetzt werden konnte. Allerdings wird in Mittel- und Osteuropa sowohl Pipelinegas als auch LNG weiterhin aus Russland bezogen. Ein Fortsetzen dieser Importstrategie ist mittelfristig möglich, wie im New-Normal-Szenario dargestellt wird – bei schnell sinkender Nachfrage (Abbildung 2 oben) ebenso wie bei nur verzögert sinkender Nachfrage (Abbildung 3 oben). Der Anteil Russlands würde sich dann langfristig bei rund zehn bis 15 Prozent des europäischen Erdgasangebots bewegen.
Die Modellrechnungen zeigen, dass bei leicht rückläufigem Verbrauch aufgrund ausreichend vorhandener Importkapazitäten und Erdgasmengen auf dem globalen Markt auch ein vollständiger Verzicht auf russisches Erdgas (Sanktionsszenario) für die EU möglich wäre (Abbildung 2 Mitte).Die im Modell berechneten Preise steigen dabei nur moderat in den EU-Mitgliedsländern (rund zehn Prozent). Es ist aber zu berücksichtigen, dass sogenannte Gleichgewichtspreise berechnet werden, die also Faktoren wie Unsicherheit und kurzfristige Anpassungen nicht aufgreifen. Diese Faktoren haben den enormen Preisanstieg 2022 auf zeitweise das Zehnfache des Vorkriegspreises verursacht. In diesem Fall würde insgesamt mehr LNG importiert werden, zum Beispiel aus den USA. Selbst im Szenario, in dem die Erdgasnachfrage in der EU bis 2030 konstant hoch bleibt, wäre eine vollständige Versorgung ohne russisches Erdgas möglich (Abbildung 3 Mitte).
Im Vorkriegsszenario, in dem Importe aus Russland wieder in größerem Umfang möglich wären, würde Russland im Szenario mit zunächst konstant hoher Nachfrage (Abbildung 3 unten) mehr nach Europa liefern als im Szenario mit schnell sinkender Nachfrage (Abbildung 2 unten). Allerdings wäre Russland als Lieferant aufgrund stärkerer Diversifizierung nicht so dominant, wie dies vor dem Krieg der Fall gewesen ist.
Norwegen wurde im Jahr 2022 wichtigster Erdgaslieferant der EU und wird das auch in alternativen Szenarien und in den nächsten Jahrzehnten bleiben. Der Anteil Norwegens an den EU-Importen wird vor allem in den nächsten Jahren von der Rolle Russlands abhängen. In der längeren Frist bestimmt die Ausprägung der Klimaschutzbemühungen die Höhe der Importe aus Norwegen, die im schnelleren Gasausstiegsszenario erwartungsgemäß niedriger sind als im Szenario mit langsam sinkender Nachfrage. Die mittel- und langfristige Erdgasstrategie ist in Norwegen noch umstritten, da auch aus Vorkommen nördlich des Polarkreises produziert werden muss, wenn die bisherige jährliche Förderkapazität von 100 Milliarden Kubikmeter beibehalten werden soll. Aufgrund seiner Nähe zur EU und der privilegierten politischen Beziehungen kann Norwegen bis in die 2030er Jahre hinein mehr als 50 Milliarden Kubikmeter pro Jahr in die EU liefern und bis zum vollständigen Gasausstieg Europas eine wichtige Rolle behalten.
Flüssigerdgas hat im Jahr 2022 relativ schnell einen größeren Anteil an den europäischen Importen übernommen als zuvor, um die Reduktion des russischen Erdgases zu kompensieren. Dies war möglich, weil zum einen bereits ungenutzte LNG-Importkapazität in signifikanter Höhe entlang der europäischen Küsten zur Verfügung stand. Zum anderen haben sich seit 2016 das LNG-Angebot und die globalen Verflüssigungskapazitäten vergrößert, wobei insbesondere der Einstieg der USA und Russlands in den LNG-Handel maßgeblich war.
Entsprechend spielen LNG-Importe in den Modellergebnissen eine größere Rolle als in den 2010er Jahren, auch in der mittleren Frist (Abbildung 4). Im New-Normal- und im Sanktionsszenario kann der deutliche Rückgang der pipelinegebundenen Importe aus Russland nur zum Teil durch anderen Pipeline-Importe, insbesondere aus Norwegen, Nordafrika und dem kaspischen Raum, kompensiert werden.
Der Anteil von LNG an den Gesamtimporten steigt vor allem im Szenario mit langsamem Nachfragerückgang, das einen konstant hohen Verbrauch bis Anfang der 2030er Jahre bei zeitgleich niedriger EU-Produktion annimmt. In der Spitze würden in diesem Szenario im Jahr 2030 bis zu 167 Milliarden Kubikmeter LNG in die EU importiert, was nahezu 50 Prozent der gesamten Gasimporte entsprechen würde.
In fast allen kombinierten Szenarien könnten diese LNG-Importe jedoch ohne die derzeit in Planung befindlichen LNG-Ausbauten, die die Kapazität in der EU auf deutlich über 200 Milliarden Kubikmeter pro Jahr steigern sollen, bewältigt werden.Institute for Energy Economics and Financial Analysis (2024): European LNG Tracker (online verfügbar). Diese Zahlen sind exklusive Spanien und Portugal, da die dortigen LNG-Terminals aufgrund geringer Pipelinekapazitäten nach Frankreich nicht für den Import in den Rest der EU genutzt werden können. Nur im Szenario mit hoher Nachfrage und vollständigem Ausfall der russischen Lieferungen wird ein geringfügiger Ausbau von LNG-Import-Kapazitäten notwendig, konkret in Kroatien und Italien. In Kontinental-Nordwest-Europa werden die bestehenden Kapazitäten höher ausgelastet, als dies in den vergangenen Jahren zu beobachten war, insbesondere im New-Normal- und im Sanktionsszenario mit geringen beziehungsweise keinen Importen aus Russland. Im Szenario mit sofort sinkender Nachfrage beträgt bei vollständigem Ausfall russischer Lieferungen der maximale Importbedarf für Flüssigerdgas in die EU 127 Milliarden Kubikmeter.
Europa verfügt über ein umfangreiches Pipelinenetz, so dass auch Importeure in Ländern ohne LNG-Häfen Flüssigerdgas über die Weltmeere beziehen können. Beispielsweise importierte Deutschland auch ohne eigene Terminals LNG über die Häfen in Belgien und den Niederlanden. Jedoch sind die umfangreichen LNG-Importkapazitäten der iberischen Halbinsel (Spanien und Portugal mit insgesamt über 60 Milliarden Kubikmeter Importkapazität pro Quartal) vom Rest Europas abgeschnitten, da die Pipelinekapazitäten zwischen Spanien und Frankreich sehr begrenzt sind.Das Problem der geringen grenzüberschreitenden Kapazität zwischen Spanien und Frankreich ist seit vielen Jahren bekannt, vgl. beispielsweise Hella Engerer (2014), a.a.O.. Im Zuge der Energiekrise gab es im Jahr 2022 kurzzeitig politische Bemühungen, sich über einen Ausbau zu einigen, die jedoch im Sande verlaufen sind.
Viele mittel- und osteuropäische EU-Staaten, zum Beispiel Ungarn und Österreich, sind weiterhin stark von russischem Erdgas abhängig. Die Modellrechnungen zeigen, dass auch diese Länder einen vollständigen Ausfall russischer Lieferungen kompensieren können (Abbildung 5). Insbesondere würden dabei LNG-Importe aus den USA und Katar sowie von pipelinegebundenem Erdgas aus Norwegen und der kaspischen Region (zum Beispiel Aserbaidschan und Turkmenistan) eine Rolle spielen. Für einige Länder ist weiterhin die eigene Förderung wichtig, insbesondere für Rumänien.
Russland kann die weggebrochenen Exporte nach Europa nur teilweise durch Exporte nach Asien kompensieren. Kurzfristig sind die Exportmöglichkeiten auf LNG und die Power-of-Siberia-Pipeline nach China beschränkt. Es ist anzunehmen, dass mittel- und langfristig die Pipelinekapazitäten ausgebaut werden können.
Russische Gasexporte orientieren sich bereits seit längerem vermehrt Richtung Asien, unabhängig von der geopolitischen Lage.Franziska Holz, Philipp M. Richter und Ruud Egging (2015): A Global Perspective on the Future of Natural Gas: Resources, Trade, and Climate Constraints. Review of Environmental Economics and Policy 9 (1), 85–106 (online verfügbar). Dies ist das Ergebnis sowohl wachsender Nachfrage in Asien als auch einer insgesamt schrumpfenden Nachfrage in Europa.
Allerdings ist bekannt, dass China eine niedrigere Zahlungsbereitschaft hat als frühere europäische Importeure, so dass von einem Rückgang der Einnahmen Russlands ausgegangen werden muss. Niedrige – weil staatlich festgesetzte – Preise erzielt Russland auch mit denjenigen Mengen, die sich auf den einheimischen Markt verlagert haben.
Neben der Diversifizierung der Erdgasbezüge und der Nachfragereduktion kann auch eine effizientere Nutzung bestehender Erdgasinfrastrukturen zu einer weiteren Entspannung der Situation in Europa beitragen. Bisher werden diese Infrastrukturen nicht effizient genutzt, insbesondere im grenzüberschreitenden Erdgashandel. Bei diesem werden die kommerziell nutzbaren Pipelinekapazitäten bilateral verhandelt; damit kann unter Umständen nicht die gesamte zur Verfügung stehende Infrastruktur genutzt werden.
Aber auch innerhalb einiger Mitgliedstaaten verhindert die aktuelle Engpassbewirtschaftung – das sogenannte „Entry-Exit-System“ – eine vollständige Infrastrukturnutzung und schafft künstliche Knappheit.Beim Entry-Exit-System muss der Händler stückweise Netzkapazität erwerben, die von den einzelnen Netzbetreibern relativ beliebig eingeschränkt werden kann. Dagegen würde bei einer effizienten Nutzung eine Betreiber-übergreifende Optimierung erfolgen, wie sie im Stromsektor in den USA seit langem praktiziert wird.Siehe Fred C. Schweppe et al. (1988): Spot Pricing of Electricity. Boston, USA: Kluwer; sowie William W. Hogan (1992): Contract Networks for Electric Power Transmission. Journal of Regulatory Economics 4 (3), 211–242 (online verfügbar). Die ineffiziente Netzbewirtschaftung in der Erdgaswirtschaft wird seit der Liberalisierung in Europa 1998 kritisiert, ist jedoch bis heute – trotz schrittweiser Fortschritte – nicht gelöst.Vgl. Christian von Hirschhausen (2008): Infrastructure, Regulation, Investment and Security of Supply: A Case Study of the Restructured US Natural Gas Market. Utilities Policy 16 (1), 1–10 (online verfügbar); sowie Jeff D. Makholm (2012): The Political Economy of Pipelines: A Century of Comparative Institutional Development. The University of Chicago Press.
Die deutsche und europäische Energiewirtschaft hat den Wegfall russischer Pipeline-Exporte insgesamt ohne größere Verwerfungen überstanden. Verstärkte Einsparbemühungen, die Diversifizierung der Bezugsquellen und eine flexible Netzbewirtschaftung haben die Engpässe ausgeglichen. Die Erdgaspreise im Großhandel sind seit September 2022 stark gefallen, Lieferengpässe sind nicht aufgetreten und die „Krise“ der Erdgaswirtschaft ist spätestens seit dem Frühling 2023 vorbei.
Immer noch bezieht die EU jedoch pipelinegebundenes Gas oder LNG aus Russland. Das Thema Gassanktionen gegen Russland ist angesichts der andauernden Kriegshandlungen in der Ukraine nicht vom Tisch. Aktuell erwägt die EU Sanktionen gegen russisches LNG. Demnach will die Europäische Kommission verbieten lassen, dass europäische Häfen zur Weiterverschiffung von russischem LNG in Drittstaaten genutzt werden, was derzeit insbesondere in Zeebrugge (Belgien) in großem Umfang geschieht.
Die vorgenommenen Modellrechnungen zeigen, dass die Versorgung der EU auch ohne russisches Erdgas gewährleistet werden kann, selbst wenn sich die Nachfrage nicht verringern sollte. Kurzfristig tragen zusätzliche Lieferungen aus Norwegen und Importe von Flüssigerdgas in bestehende Importterminals zur Diversifizierung bei. Mittel- und langfristig steuert die europäische Energiewirtschaft auf einen Erdgasausstieg zu. Dabei zeigt sich, dass der rasche Umstieg auf erneuerbare Energien maßgeblich dazu beitragen kann, bestehende Importabhängigkeiten und damit die vermeintliche Erpressbarkeit einiger europäischer Staaten zu verringern. Die Versorgungssicherheit ist also für die EU kein Grund, nicht auch russische Gasexporte zu sanktionieren.
Die europäischen Erdgasinfrastrukturen, wie Pipelines, LNG-Terminals und Verdichter, sind seit dem ersten russisch-ukrainischen Gasstreit 2005/06 stark ausgebaut worden und bedürfen – selbst bei moderaten Klimaschutzbemühungen und damit weiterhin hoher Erdgasnachfrage – nur geringfügiger Ausbauten. Insbesondere erscheint der aktuell geplante Ausbau europäischer LNG-Kapazitäten überdimensioniert. Eine effiziente Nutzung bestehender Leitungskapazitäten stärkt dagegen die Versorgungssicherheit und hält die Kosten gering.
Themen: Ressourcenmärkte, Europa, Energiewirtschaft
JEL-Classification: C61;L71;L95;Q34
Keywords: global gas markets, Europe, Russia, energy security
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-21-1