Blog Marcel Fratzscher vom 21. Juni 2024
Der Staat könnte kurzfristig Geld sparen, wenn Geflüchtete aus der Ukraine kein Bürgergeld mehr erhielten. Doch der langfristige Schaden dieser Politik ist folgenschwer.
Politiker überbieten sich mit ihren Forderungen, Ukrainer sollten kein Bürgergeld mehr erhalten, und sprechen gar vom größten Fehler der Ampelkoalition. Das Bürgergeld verleite ukrainische Männer zur Fahnenflucht, reduziere den Willen, in Deutschland Arbeit zu finden, koste den deutschen Staat zu viel Geld und reduziere die Leistungen für Deutsche.
Sind diese Argumente zutreffend – und was könnte diese Debatte für die Landtagswahlen im September bedeuten?
Diese Kolumne erschien am 21. Juni 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Im März 2022 traf die Europäische Union – und damit auch alle ihre Mitgliedsländer – die Entscheidung, dass Menschen aus der Ukraine in den EU-Staaten kein Asyl beantragen müssen, sondern sofort eine Aufenthaltsberechtigung erhalten. Damit ist aber auch das Recht verbunden, vom ersten Tag an arbeiten zu können und in Deutschland Zugang zum Bürgergeld zu haben. Diese Regelung wurde erst vor wenigen Wochen bis März 2026 verlängert — mit voller Zustimmung aller demokratischer Parteien auf Bundes- und Länderebene in Deutschland. Eine Kehrtwende der deutschen Politik wäre somit ein Bruch mit den Regeln, denen sie selbst zugestimmt hat.
Der Schutzstatus der ukrainischen Geflüchteten kann daher nicht einfach so aufgehoben werden. Denkbar ist jedoch, dass den Menschen aus der Ukraine nicht sofort Bürgergeldleistungen zustehen, sondern zum Beispiel nur die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Ließe sich damit Geld sparen?
Kurzfristig wäre dies tatsächlich der Fall. Denn wenn Ukrainerinnen wie andere Schutzsuchende behandelt würden, dann erhielten sie für die ersten 36 Monate Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz — also 460 Euro statt 563 Euro pro Monat. Man würde also 103 Euro pro Monat und geflüchteter Person sparen. Bei knapp 1,1 Millionen Ukrainern in Deutschland (ein Drittel davon sind Kinder) wäre dies bis zu eine Milliarde Euro im Jahr.
Diesen Einsparungen stehen jedoch Kosten gegenüber – denn ein solcher Übergang erfordert jede Menge Bürokratie, die staatlichen Institutionen wären stark belastet. Jobcenter müssten nach einer solchen Änderung etwa prüfen, ob Ukrainerinnen ein bestimmtes Jobangebot annehmen dürfen. Und auch andere Behörden hätten zusätzlichen Aufwand. Vor allem langfristig wären die finanziellen Kosten enorm. Die Hürden, Arbeit aufnehmen zu können, werden durch das Asylbewerberleistungsgesetz deutlich erhöht. Ukrainerinnen würden weniger häufig und deutlich später in Arbeit kommen.
Will man Kosten sparen, geht es darum, dass Geflüchtete schnell und gut in Arbeit kommen. Generell gilt: Weniger Beschäftigte, die später und schlechter Arbeit finden, bedeuten höhere Sozialausgaben für den Staat und weniger Arbeitskräfte für die Wirtschaft und damit auch geringere Steuereinnahmen für den Staat, die er bei seinem Festhalten an der Schuldenbremse dringender denn je benötigt.
Hinzu kommen andere negative Effekte. So zeigte kürzlich eine Studie des DIW Berlin, dass die Verlängerung des Asylbewerberleistungsgesetzes zu einem bis zu zwölf Monate späteren Zugang zu den vollen gesundheitlichen Leistungen und somit zu einem schlechteren Gesundheitszustand vieler Geflüchteter führt. Eine schlechtere Gesundheit erschwert aber nicht nur die Aufnahme von Arbeit, sondern kostet den deutschen Sozialstaat deutlich mehr Geld.
Geflüchteten aus der Ukraine das Bürgergeld zunächst zu verwehren, mag daher kurzfristig zu finanziellen Einsparungen führen. Aber langfristig wird diese Entscheidung für Staat und Gesellschaft sehr teuer werden.
Auch das Argument, das Bürgergeld führe lediglich dazu, dass noch mehr Ukrainer nach Deutschland kommen, ist nicht richtig. Zuallererst gibt es keinerlei Beleg dafür, dass die 103 Euro mehr beim Bürgergeld statt Asylbewerberleistungsgesetz Menschen aus der Ukraine bewegen sollten, zu fliehen. Der Grund für die Flucht ist der Krieg. Und die Wahl des Landes wird getroffen, weil die Menschen vielleicht schon Anknüpfungspunkte haben. Auch die geografische Nähe spielt eine Rolle. Daher haben Nachbarländer wie Polen oder die Tschechische Republik einen höheren Anteil an Geflüchteten aus der Ukraine. Es fehlen aber empirische Grundbelege für die Behauptung, dass sich die Menschen Deutschland vor allem wegen der großzügigen sozialen Leistungen aussuchen.
Und verhindert das Bürgergeld, dass sich die Menschen eine Arbeit suchen? In der Diskussion wird oft auf Länder wie die Niederlande oder Dänemark verwiesen, in denen ein deutlich höherer Anteil der Ukrainer arbeitet. Doch auch dieses Argument kann einer genaueren Betrachtung nicht standhalten. Denn auch in den Niederlanden und in Dänemark werden die ukrainischen Geflüchteten finanziell unterstützt, die Höhe dieser Leistungen ist nicht sehr viel geringer als in Deutschland. Und die Tatsache, dass mehr Ukrainerinnen in diesen Ländern arbeiten als in Deutschland, belegt doch, wo und bei wem das Problem liegt. Die geringere Erwerbstätigkeit der Geflüchteten hierzulande liegt vor allem an der Bürokratie und den hohen Hürden, überhaupt eine gute Beschäftigung finden zu können.
Will man dies ändern, sind eine schnellere Verwaltung, mehr Flexibilität bei der Anerkennung von Qualifikationen und in der Ausbildung, bessere Unterstützung bei der Kinderbetreuung und noch mehr Sprachkurse erforderlich. Die Verantwortung hierfür liegt nicht bei den Ukrainerinnen, sondern bei den staatlichen Institutionen. Viele Kommunen und Städte leisten hervorragende Arbeit. Viele deutsche Unternehmen engagieren sich und wollen Geflüchtete in Ausbildung bringen, da sie einen riesigen Arbeitskräftemangel haben. Aber beide brauchen mehr Unterstützung, finanziell und administrativ, damit dies besser gelingen kann.
Eine Studie für Dänemark zeigt (PDF), dass starke Kürzungen von sozialen Leistungen für Geflüchtete die Armut vergrößern, die Bildungschancen für die Kinder reduzieren und letztlich zu einer schlechteren Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft führen. Auch aus dieser Perspektive wäre eine Verweigerung des Bürgergelds für ukrainische Geflüchtete eine der schlechtesten Ideen.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass keines der Argumente einer genaueren Betrachtung standhält. Welches Ziel verfolgen die Politiker, wenn sie solche Forderungen und Behauptungen aufstellen?
Menschen aus der Ukraine sind mit knapp 1,1 Millionen die größte Gruppe von Geflüchteten in Deutschland. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Zahl steigen wird. Je länger der Krieg andauert, desto mehr Menschen werden fliehen müssen. Auch wenn der Krieg vorbei ist, könnten immer noch viele Menschen nach Deutschland kommen. Denn ein immer größerer Teil des Landes ist zerstört, und damit auch das Zuhause und die Lebensgrundlage viele Menschen. An dieser Tatsache werden die falschen Behauptungen nichts ändern, sondern die immer aufgeheiztere Debatte über Leistungskürzungen wird lediglich zu einer schlechteren Integration der Ukrainerinnen führen und damit einen Schaden für alle verursachen.
Die Vermutung liegt nahe, dass es im Grunde um Wahlkampf geht und blanker Populismus geschürt wird. Es sollen deutsche Bürgergeldbezieher gegen Geflüchtete ausgespielt werden und Menschen im Niedriglohnbereich gegen Bürgergeldbezieher.
Wählerinnen und Wähler dürften diesen Populismus demokratischer Parteien wohl eher nicht belohnen. Denn letztendlich machen solche Forderungen genau die Politikerinnen der AfD und des BSW, indem sie Ukrainerinnen und Ukrainern diskreditieren, ukrainischen Männern die Fahnenflucht für deutsches Bürgergeld vorwerfen und damit auch den Krieg und die Verteidigung der Ukraine delegitimieren. Das Resultat dürfte eine Stärkung von AfD und BSW bei den kommenden Landtagswahlen im September bedeuten.
Wann werden auch einflussreiche Politiker demokratischer Parteien verstehen, dass Populismus gegen verletzliche Gruppen keine Wahlen gewinnen kann, sondern lediglich die Gesellschaft spaltet und die Demokratie schwächt?
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Migration , Öffentliche Finanzen