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Darum ist Zuwanderung die Grundlage für unseren Wohlstand

Blog Marcel Fratzscher vom 17. Juni 2024

Viele Menschen sind unzufrieden mit der Migrationspolitik und wünschen sich mehr Abschottung. Das wäre grundfalsch. Zeit, um mit drei Fehlannahmen aufzuräumen.

Viele Menschen in Deutschland sind unzufrieden mit der Migrationspolitik. Dieser Unmut hat auch die größte Rolle für die Wahlentscheidung bei der Europawahl vergangene Woche gespielt. Die Hälfte der Wählerinnen und Wähler der AfD gab Migrationspolitik in Befragungen als Grund für ihre Entscheidung an. Laut einer aktuellen ECFR-Studie hält fast jede dritte Person in Deutschland Migration für das größte Problem unserer Zeit. Damit halten mehr Menschen die Zuwanderung für ein größeres Problem als Klimakrise, Kriege oder die wirtschaftliche Entwicklung. Die Studie zeigt auch, dass in keinem der anderen der elf untersuchten EU-Länder so viele Menschen Migration als die größte Herausforderung sehen. Was ist los mit Deutschland? Warum machen sich die Menschen hierzulande so viele Sorgen über Migration?

Diese Kolumne erschien am 14. Juni 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Eine Erklärung ist, dass drei falsche Wahrnehmungen den öffentlichen Diskurs bestimmen – und leider auch von Politiker*innen demokratischer Parteien immer wieder befeuert werden.

Die erste falsche Wahrnehmung ist der Glaube, die Zuwanderung sei ein sozialer und wirtschaftlicher Nachteil für Deutschland. Manche behaupten, Migration sei schädlich, weil es vor allem eine Zuwanderung in die Sozialsysteme sei, die die Daseinsfürsorge für Deutsche erodiert. So wird beispielsweise behauptet, Geflüchtete ließen sich "die Zähne machen", während Deutsche auf einen Termin warten müssten. Dadurch wird ein Verteilungskampf geschürt, bei dem verletzliche Gruppen von Deutschen und Zugewanderten gegeneinander ausgespielt werden sollen.

Wohlstand dank Zuwanderung

Fakt ist: Die Zuwanderung der letzten 50 Jahre war und ist im Ganzen eine Erfolgsgeschichte für Deutschland. Fast 30 Prozent der Menschen in Deutschland heute haben einen Migrationshintergrund – sie sind also selbst ohne deutsche Staatsangehörigkeit geboren oder zumindest ein Elternteil. Ohne diese Zugewanderten und ihre Kinder wäre das Wirtschaftswunder und der große Wohlstand heute nicht möglich gewesen. Dies gilt insbesondere für die vergangenen zehn Jahre, in denen über 50 Prozent des Aufbaus der Beschäftigung durch Zuwanderung zustande gekommen ist. Im letzten Jahr war es sogar 100 Prozent. Denn die Zahl der Deutschen im erwerbstätigen Alter sinkt seit geraumer Zeit. Ohne die starke Zuwanderung wäre das goldene Jahrzehnt der 2010er-Jahre nicht möglich gewesen und das Arbeitskräfteproblem heute um ein Vielfaches größer.

Für Unternehmen ist Zuwanderung notwendig

Immer wieder ist fälschlicherweise zu hören, gerade die Geflüchteten, die ab 2015 nach Deutschland gekommen sind, würden sich nicht gut in den Arbeitsmarkt integrieren. Das stimmt nicht. Denn mit 86 Prozent ist die Erwerbsquote der Männer, die in den Jahren 2014 bis 2016 nach Deutschland geflüchtet sind, höher als die Erwerbsquote deutscher Männer. Gerade Unternehmen gehören meist zu den größten Unterstützern dieser Zuwanderung und werden nicht müde, die Notwendigkeit für Migration und den Erfolg bei der Integration zu betonen. Dabei ist dieser Erfolg sicherlich nicht ohne Kehrseiten und einzelne Misserfolge. Die Erwerbsquote von Frauen ist unter Geflüchteten sehr gering, häufig brauchen Reformprozesse zu lange und natürlich gibt es auch vereinzelten Missbrauch sozialer Leistungen. Aber: Gerade in den letzten zehn Jahren wurden viele wichtige Reformen umgesetzt, sodass die Integration von Zugewanderten in Arbeitsmarkt und Gesellschaft besser gelungen ist, als damalige Prognosen vorhergesagt haben. 

Deutschland ist für viele Fachkräfte unattraktiv

Der zweite Irrglaube basiert auf der Behauptung, Deutschland sei zu attraktiv als Zuwanderungsland und ziehe vor allem Menschen mit geringen Qualifikationen an, oder Personen, die eine andere Kultur und Religion haben. Man müsse daher die sogenannten Pull-Faktoren schwächen, also soziale Leistungen kürzen, Bezahlkarten und harte Wohnsitzauflagen einführen oder Migranten erst später Zugang zur vollen Gesundheitsversorgung ermöglichen. 

Eine Studie für Dänemark zeigt, wie kontraproduktiv dieser Kurs sein kann. Denn gekürzte Leistungen erhöhen die Armut und erschweren die Integration. Und sie reduzieren die Zuwanderung von Menschen mit geringen Qualifikationen nur geringfügig. Dagegen reduzieren sie die Migration von Menschen, die Deutschland heute dringend benötigt, nämlich von qualifizierten Ingenieurinnen, Pflegekräften und IT-Programmierern. Denn diese Menschen haben Optionen und werden weiterhin einen großen Bogen um Deutschland machen, wenn Migration eigentlich nicht gewünscht ist. Deutschland ist für viele Menschen weltweit nicht das Paradies auf Erden. Zumal Deutschland bei seiner Willkommenskultur mit am schlechtesten abschneidet. Die gegenwärtige Migrationspolitik gehört daher zu der schlechtesten der Welt: Sie reduziert die Zuwanderung von Fachkräften und erschwert die Integration derer, die bereits in Deutschland sind.

Zuwanderung lässt sich nicht steuern

Der dritte Irrglaube ist die Behauptung, Deutschland könne Zuwanderung steuern. Die Forderung auch mancher Politiker demokratischer Parteien nach einer konkreten Obergrenze von beispielsweise 200.000 Migrant*innen pro Jahr ist perfide, weil sie den Fokus des Diskurses verschiebt. Eine solche konkrete Zahl ist unmöglich zu nennen und die Vorstellung, Deutschland könne Zuwanderung frei wählen und die Grenzen schnell und kategorisch schließen, wenn die Höchstzahl erreicht ist, ist schlicht absurd. Wer eine Obergrenze fordert, der fordert zumindest implizit eine Beschneidung des Asylrechts und eine Veränderung des Grundgesetzes.

Wer behauptet, man könne Zuwanderung steuern, lenkt von der sehr viel dringenderen Aufgabe ab: Wie kann die Integration derer, die sich bereits in Deutschland befinden, besser und schneller gestaltet werden kann? Kommunen und Städte stehen vor großen Herausforderungen, wenngleich nicht alle pauschal überfordert sind. Denn 70 Prozent der Kommunen geben an, dass sie weiterhin handlungsfähig sind. Aber Kommunen benötigen deutlich mehr logistische und finanzielle Unterstützung durch Bund und Länder, die sich häufig gegenseitig die Verantwortung zuschieben.

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