DIW Wochenbericht 37 / 2024, S. 579-585
Jo Seldeslachts, Jan Malek, Melissa Newham, Reinhilde Veugelers
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„Am Mythos der Killer-Akquisitionen, mit denen vor allem große Pharmafirmen kleine Firmen aus dem Markt drängen, ist nach unserer Analyse nicht viel dran. Die meisten Übernahmen tätigen kleine, forschungsorientierte Unternehmen. Zwar ist es für die Wettbewerbsbehörden schwierig, die Motive für Übernahmen in der Forschungsphase zu beurteilen, aber durch die Analyse der Patenttexte machbar.“ Jo Seldeslachts
Da der Pharmasektor eine der forschungsintensivsten Branchen weltweit ist, können Übernahmen erhebliche negative wie positive Auswirkungen auf Innovationen haben. In diesem Wochenbericht werden auf Basis von internationalen Unternehmensdaten der Jahre 1997 bis 2017 Übernahmen in der pharmazeutischen Industrie im schnell wachsenden Markt für Antidiabetika untersucht. Bei der großen Mehrzahl der Übernahmen handelt es sich um Akquisitionen zwischen kleinen Unternehmen, die noch keine Diabetes-Produkte auf dem Markt haben, aber in der Entwicklung eines Produkts stecken. Die Marktführer hingegen konzentrieren sich eher auf ihre eigene Forschung. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Übernahmen in der Regel nicht dazu genutzt werden, potenzielle Wettbewerber aus dem Markt zu drängen (Killer-Akquisitionen). Daher sollten die Wettbewerbsbehörden ihre Aufmerksamkeit mehr auf Übernahmen in Innovationsmärkten richten. Diese sind schwierig zu beurteilen, da kleine, forschungsorientierte Unternehmen oft noch keine Produkte auf den Markt gebracht haben, die Umsätze generieren. Auf Patentebene ließen sich aber Instrumente einsetzen, um die Auswirkungen von Übernahmen auf die Innovationsmärkte zu analysieren.
Unternehmen nutzen Firmenübernahmen in der Regel, um ihre Marktposition zu stärken, ihr Produktportfolio zu erweitern und Zugang zu innovativen Technologien zu erhalten. Sie spielen insbesondere in der Pharmaindustrie, eine der forschungsintensivsten Branchen weltweit, eine besondere Rolle. Unter bestimmten Voraussetzungen können Übernahmen jedoch auch eine Bedrohung für den Wettbewerb darstellen. Jüngere Untersuchungen weisen auf Gefahren durch sogenannte Killer-Akquisitionen in der Pharmabranche hin, bei denen vielversprechende Forschungs- und Entwicklungsprojekte (F & E-Projekte) nach der Übernahme eingestellt werden.Vgl. zum Beispiel Colleen Cunningham, Florian Ederer und Song Ma (2021): Killer acquisitions. Journal of Political Economy 129 (3), 649–702.
Daher betonen die Wettbewerbsbehörden in den USA und der EU die Notwendigkeit, Übernahmen mit „potenziellen“ oder „aufstrebenden“ Wettbewerbern genauer unter die Lupe zu nehmen, bei denen große Unternehmen kleinere, forschungsorientierte Firmen in einem ähnlichen oder verwandten therapeutischen und technologischen Bereich erwerben.Vgl. Jay Modrall (2021): EU commission launches major merger control reform. Kluwer Competition Law Blog vom 1. April (online verfügbar, abgerufen am 16. August 2024. Dies gilt für alle Onlinequellen in diesem Bericht); Mike Cowie und James A. Fishkin (2022): Back to the drawing board: FTC and DOJ rethink merger guidelines. Reuters vom 7. März (online verfügbar). Es wird befürchtet, dass diese Übernahmen zur Beseitigung eines potenziellen Wettbewerbers führen und dem Wohl der Verbraucher*innen schaden.
Der vorliegende Wochenbericht geht der Frage nach, ob es bei Übernahmen in der Pharmabranche in den vergangenen 20 Jahren mehrheitlich darum ging, dass große Unternehmen kleine, innovative Firmen vom Markt drängen.Dieser Wochenbericht basiert auf Jan Malek, Melissa Newham, Jo Seldeslachts und Reinhilde Veugelers (2024): Acquiring R & D Projects: Who, When, and What? Evidence from Antidiabetic Drug Development. DIW Discussion Paper Nr. 2073 (online verfügbar). Er konzentriert sich dabei auf den therapeutischen Markt für Antidiabetika, die zur Behandlung der Stoffwechselerkrankung Diabetes mellitus eingesetzt werden. Dieser Markt ist wichtig, weil Diabetes 2 ein großes und wachsendes globales Gesundheitsproblem darstellt.Der therapeutische Markt für Antidiabetika ist groß und wächst. Im Jahr 2021 lebten weltweit etwa 537 Millionen Erwachsene mit Diabetes. Diese Zahl wird bis zum Jahr 2045 voraussichtlich auf 783 Millionen steigen, vgl. Internationale Diabetes-Vereinigung (2021): IDF-Diabetes-Atlas: Diabetes Fakten & Zahlen (online verfügbar). Weltweit arbeiten zahlreiche Unternehmen an der Entwicklung neuer Therapien zur Behandlung von Diabetes, und es sind häufige Wechsel bei den Eigentümern dieser F & E-Projekte zu beobachten.Projekte sind Diabetes-Produkte, die sich noch im Stadium der Forschung und Entwicklung (F & E) befinden. Jedes pharmazeutische Produkt beginnt mit der Entwicklung in einem Labor. Sobald ein Produktkandidat identifiziert ist, führen die Forscher*innen vorklinische Studien mit Hilfe von Laborexperimenten und Tests an Tieren durch. Ist der Produktkandidat vielversprechend, wird er in drei Phasen am Menschen getestet. In Phase I wird die Sicherheit des Produkts an einer kleinen Stichprobe (ca. 20–100) gesunder Personen getestet. In Phase II wird die Wirkung des Produkts an ca. 50 bis 300 Personen getestet. In Phase III wird die Wirksamkeit an großen Gruppen von Probanden getestet.
Dazu wertet die Untersuchung Daten zu Übernahmen weltweit in den Jahren 1997 bis 2017 aus, an denen Unternehmen beteiligt waren, die Produkte oder Entwicklungsprojekte auf dem Diabetes-Markt hatten. In diesem Zeitraum wurden weltweit 186 Transaktionen auf Basis verschiedener Datenbanken identifiziert (Kasten). Die Auswertung differenziert dabei nach Größe der Unternehmen und ihrer Marktpositionierung bei Diabetes-Produkten.Für mehr Details vgl. Malek et al. (2024), a.a.O. Hier werden alle F & E-Aktivitäten der Unternehmen für einzelne Antidiabetika-Projekte im Zeitraum von 1997 bis 2017 erfasst. Dort finden sich auch Informationen über die Position der Unternehmen in den Produktmarktsegmenten und die technologischen Merkmale der Projekte der beteiligten Unternehmen unter Verwendung detaillierter Patentinformationen.
Die Basis der Auswertung ist die Pharmaprojects-Datenbank von Citeline, die eine umfassende Liste der weltweiten F & E-Aktivitäten in der Pharmaindustrie auf Projektebene bietet. Es wurden alle Projekte berücksichtigt, die sich auf die Behandlung von Diabetes beziehen und im Entwicklungsstadium sind, was für den Zeitraum 1997 bis 2017 zu einer Stichprobe von 2711 Projekten bei 958 Unternehmen führt. Die Pharmaprojects-Datenbank enthält zwar Informationen über die Namen von Medikamenten und Firmen, aber keine Informationen über den Verlauf der Projekte.
Diese Informationen sind aber in der öffentlich zugänglichen AACT-DatenbankVgl. die Website von AACT (online verfügbar). verfügbar. Diese Datenbank listet jedes Projekt auf, das bei Clinical-Trials.gov registriert ist – einem Repositorium für klinische Studien, die auf der ganzen Welt durchgeführt werden. Anhand dieser Informationen lassen sich die Anfangs- und Enddaten der Phasen ermitteln, die jedes Projekt durchlaufen hat. Auf diese Weise kann die Entwicklungsgeschichte von 2378 Projekten rekonstruiert werden (88 Prozent der Projekte). Die Eigentümerwechsel für jedes Projekt in der Datenbank werden identifiziert, indem die Reihenfolge der aufeinanderfolgenden Eigentümer eines Projekts sorgfältig zurückverfolgt wird. Dazu werden die in der Pharmaprojects-Datenbank enthaltenen Textinformationen zu den Projektentwicklern als Ausgangspunkt genommen und verschiedene Methoden (Text Mining, algorithmische Disambiguierung, Fuzzy-String-Abgleich) und manuelle Überprüfungen zum Abgleich angewandt. Um zu vervollständigen und zu überprüfen, dass diese Änderungen tatsächlich auf Änderungen der Eigentumsverhältnisse und nicht auf Namensänderungen zurückzuführen sind, werden die betreffenden Firmen mit den Datenbanken Zephyr und SDC Platinum abgeglichen.
Für eine differenzierte Betrachtung der weltweiten Übernahmen ist eine Einteilung der beteiligten Unternehmen notwendig.Malek at al. (2024), a.a.O. Dazu werden zwei Dimensionen kombiniert: Unternehmensgröße nach Marktanteil in der gesamten Pharmabranche und Marktpositionierung des Unternehmens bei Diabetes-Produkten. Ziel ist es, die Unternehmen so einzuteilen, dass sie sich in ihren Fähigkeiten, finanziellen Ressourcen und Anreizen für Übernahmen ähneln und jeweils nur einer Gruppe zugeordnet werden können. Die Größe, die erste Dimension, spielt im Zusammenhang mit Firmenübernahmen aus zwei Gründen eine Rolle: Einerseits verfügen größere Unternehmen über mehr Finanzressourcen und können von Größen- und Verbundvorteilen profitieren, wenn es um klinische Studien, die Erlangung der behördlichen Zulassung sowie Produktions- und Vermarktungskapazitäten und Fachwissen geht.Ashish Arora et al. (2009): A breath of fresh air? Firm type, scale, scope, and selection effects in drug development. Management Science 55 (10), 1638–1653 (online verfügbar); Jan Bena und Kai Li (2014): Corporate innovations and mergers and acquisitions. The Journal of Finance 69 (5), 1923–1960. Andererseits können große Unternehmen mit der F & E-Dynamik kleiner Unternehmen oft nicht konkurrieren, so dass es für sie von Vorteil sein kann, sich durch eine Übernahme Zugang zu Innovationen zu verschaffen.Gordon M. Phillips und Alexei Zhdanov (2013): R & D and the Incentives from Merger and Acquisition Activity. The Review of Financial Studies 26 (1), 34–78.
Aus der Sicht eines kleinen Unternehmens kann es in späteren Phasen der Innovation schwierig werden, zur Marktreife zu kommen, weil ihm die finanziellen und kommerziellen Möglichkeiten fehlen. Daher kann ein Verkauf die einfachste Lösung sein, um die Produkte auf den Markt zu bringen.
Auch die zweite Dimension, die Marktpositionierung bei Antidiabetika, kann sich auf die Akquisitionsmotive auswirken: Unternehmen mit bereits einem Diabetes-Produkt auf dem Markt haben mehr Anreize, ihre aktuelle Marktposition zu verteidigen oder auszubauen.
Große Unternehmen sind in diesem Bericht definiert als Unternehmen mit einem Marktanteil in der gesamten Pharmaindustrie von durchschnittlich mindestens einem Prozent während des gesamten Stichprobenzeitraums (Tabelle). Unter Verwendung des Kriteriums der Marktpositionierung als zweiter Dimension wird diese Gruppe in Marktführer, große auf dem Diabetes-Markt etablierte Unternehmen und große nichtetablierte Unternehmen aufgeteilt. Die etablierten Unternehmen haben im Gegensatz zu den nichtetablierten Unternehmen mindestens ein Antidiabetikum auf dem Markt. Marktführer sind auf dem Diabetes-Markt etablierte Unternehmen mit einem Marktanteil von mindestens zehn Prozent bei Diabetes-Produkten.
Anzahl der Unternehmen weltweit pro Kategorie in Klammern
Größe nach Umsatz im Pharmamarkt | Marktpositionierung1 bei Antidiabetika | ||
---|---|---|---|
Marktanteil bei Diabetes-Produkt > 10 Prozent | Mindestens ein Diabetes-Produkt auf dem Markt | Kein Diabetes-Produkt auf dem Markt, aber Projekt im F & E-Stadium | |
Marktanteil ≥ 1 Prozent (große Unternehmen) | Marktführer (7) | Große, etablierte Unternehmen (11) | Große, nichtetablierte Unternehmen (19) |
Marktanteil < 1 Prozent (kleine Unternehmen) | Kleine, etablierte Unternehmen (10) | Kleine, nichtetablierte Unternehmen (195) | |
Marktanteil von < 0,75 auf > 1 Prozent gewachsen | Schnell wachsende Unternehmen (8) | ||
Unternehmen ohne Umsatz durch Pharmaprodukte | Pipeline-Unternehmen mit Patenten älter als 5 Jahre (300) | ||
Pipeline-Unternehmen mit Patenten jünger als 5 Jahre (408) |
1 In den Jahren vor 2003, in denen zu Marktanteilen keine Daten verfügbar sind, entstammen diese Informationen Unternehmensberichten. Andernfalls entsprechen die Werte den 2003er Werten im ersten Scoreboard-Bericht.
Quellen: Pharmaprojects-Datenbank 1997–2017; R & D Scoreboard 2003–2017; AACT-Datenbank 1997–2017.
Kleine Unternehmen sind definiert als Unternehmen, die mindestens ein Produkt auf einem beliebigen Pharmamarkt auf den Markt gebracht haben, deren durchschnittlicher Marktanteil während des gesamten Stichprobenzeitraums jedoch weniger als ein Prozent betrug. Diese Gruppe wird ebenfalls in kleine, auf dem Diabetes-Markt etablierte und nichtetablierte Unternehmen unterteilt.
Zudem gibt es noch einige wenige schnell wachsende Pharmaunternehmen, in der Regel Bio-Pharma-Unternehmen, die über den betrachteten Zeitraum ihren Marktanteil auf dem Pharmamarkt von 0,75 Prozent auf mehr als ein Prozent erhöhen konnten, bisher aber kein Diabetes-Produkt auf dem Markt haben.
Schließlich gibt es eine große Gruppe von Unternehmen, die noch keine Arzneimittel auf den Pharmamarkt gebracht haben und sich auf dem Antidiabetika-Markt bisher ausschließlich mit F & E-Aktivitäten befassen, die sogenannten Pipeline-Unternehmen. Da es sich hier um eine große und heterogene Gruppe handelt, bei der eine weitere Unterteilung anhand der Einnahmen nicht möglich ist, wird das Datum der ersten Patentanmeldung eines Unternehmens verwendet. Dadurch werden die Pipeline-Firmen in zwei homogenere Gruppen unterteilt: Jüngere Pipeline-Firmen werden als Unternehmen definiert, deren erste Patentanmeldung weniger als fünf Jahre zurückliegt; ältere Pipeline-Firmen sind alle Unternehmen, deren erste Patentanmeldung mehr als fünf Jahre zurückliegt.
Die ausgewerteten Daten der 186 Übernahmen zeigen, dass die sieben Marktführer im Segment der Antidiabetika (Aventis, Eli Lilly, Hoechst Marion Roussel, Merck & Co., Novo Nordisk, Sanofi, Sanofi-Aventis) wenig aktiv bei Übernahmen von Antidiabetika-Projekten anderer Unternehmen sind (Abbildung 1). Dies zeigt sich sowohl im Vergleich zu den Übernahmeaktivitäten der anderen, weniger großen Unternehmen (nur drei Prozent der Übernahmen werden von Marktführern getätigt) als auch im Vergleich zu denjenigen Diabetes-Projekten, die über den betrachteten Zeitraum in ihrem Besitz blieben (13 Prozent versus drei Prozent hinzugekaufte Projekte).Malek at al. (2024), a.a.O.
Der Branchenführer bei Antidiabetika, Novo Nordisk, ist beispielsweise rein organisch gewachsen. Sein wichtigstes und zugleich umsatzstärkstes Diabetes-Produkt wurde intern entwickelt, was zeigt, dass das Unternehmen interne Forschung und Entwicklung gegenüber Übernahmen bevorzugt.
Festzustellen ist außerdem, dass Pharmaunternehmen ohne eigenes Diabetes-Produkt (nichtetablierte Unternehmen, egal welcher Größe) überproportional viele Zukäufe tätigen. Sie nutzen diese Übernahmen wohl meist, um in den Markt für Antidiabetika einzutreten (Abbildung 1). Ein Beispiel für diese Art von Transaktion ist die Übernahme von Kos Pharmaceuticals durch Abbott Laboratories im Jahr 2007. Abbott Laboratories ist ein großes globales Gesundheitsunternehmen mit einem breiten Portfolio. Kos Pharmaceuticals ist ein kleines Spezialpharmaunternehmen, das über mehrere vielversprechende Diabetes-Projekte in der späten Entwicklungsphase verfügte. Dies bot Abbott die Möglichkeit, in neue therapeutische Segmente einzusteigen.
Übernahmen, die noch nicht auf dem Markt vertretenen, finanzstarken Unternehmen den Markteintritt erleichtern und dazu beitragen, neue Antidiabetika auf den Markt zu bringen, können Vorteile haben. Angesichts des langwierigen und kostspieligen Entwicklungsprozesses in der pharmazeutischen Industrie sind große Pharmaunternehmen im Vorteil, wenn es darum geht, Produkte zur Marktreife zu bringen, da sie ihr Fachwissen, ihre Größe und ihre finanziellen Ressourcen nutzen können. Neue Produkte können also schneller und effizienter auf den Markt gebracht werden, wenn sie in den Händen eines großen Unternehmens sind.
Zwischen 1997 und 2017 sind 186 Transaktionen erfasst. Davon sind bis auf sechs Übernahmen alle erworbenen Projekte von Firmen, die noch keine Antidiabetika-Produkte auf dem Markt hatten, sondern nur daran forschen (nichtetablierte Unternehmen und Pipeline-Firmen). Doch sind in den meisten Fällen auch die Erwerber keine auf dem Antidiabetika-Markt etablierten Firmen. 151 Transaktionen (oder 81,2 Prozent) fanden zwischen einem Erwerber und einem Zielunternehmen statt, die beide (noch) kein Diabetes-Produkt auf den Markt gebracht hatten.Dies sind alle Transaktionen, an denen keine etablierten Unternehmen beteiligt waren. Mehr noch, davon fanden 59 Übernahmen (31,7 Prozent) zwischen einem Erwerber und einem Zielunternehmen statt, die beide (noch) kein einziges Projekt auf irgendeinem Pharmamarkt auf den Weg gebracht hatten, also zwischen zwei Pipeline-Firmen (Abbildung 2).
Zwar gab es in dem betrachteten Zeitraum auch einige Übernahmen, bei denen Marktführer oder große auf dem Antidiabetika-Markt etablierte Unternehmen Pipeline-Firmen erworben haben (insgesamt 18), was auf Killer-Akquisitionen hinweisen könnte. Aber der überwiegende Teil der Übernahmen fand zwischen kleinen und rein innovativen Unternehmen statt, die (noch) keine Diabetes-Produkte verkaufen. Ein Beispiel für ein Geschäft zwischen zwei Pipeline-Unternehmen ist die Übernahme von AmCyte Inc. durch ReNeuron Group Plc im Jahr 2007. Durch die Integration der Zellverkapselungstechnologie von AmCyte mit der eigenen Stammzellenkompetenz wollte ReNeuron innovative Therapien gegen Diabetes entwickeln. Diese Transaktion verdeutlicht das Potenzial kleinerer Biotech-Unternehmen, ihre Stärken zu bündeln und neuartige Behandlungsansätze in den frühen Phasen der therapeutischen Entwicklung voranzutreiben.
Abgesehen von den Synergien im Bereich Forschung und Entwicklung können Übernahmen zwischen kleineren pharmazeutischen Unternehmen dem fusionierten Unternehmen größere finanzielle Ressourcen und eine stärkere Marktpräsenz verschaffen, wodurch das Unternehmen für Investoren und potenzielle Partner attraktiver wird. Die Vorteile von Übernahmen zwischen kleinen Unternehmen mit in der Pipeline befindlichen Projekten können über verschiedene Kanäle entstehen. Beispielsweise können Übernahmen zwischen diesen Unternehmen zu einer Bündelung von geistigen Ressourcen, Technologien und Fachwissen führen und so die Entdeckung und Entwicklung neuer Therapien beschleunigen. Darüber hinaus können Übernahmen diesen Firmen die notwendigen finanziellen Mittel verschaffen, um ihre Forschung fortzusetzen. Zudem kann die Förderung von Geschäften zwischen kleinen Biotech-Firmen auch den Wettbewerb in der pharmazeutischen Industrie fördern: Dies gilt insbesondere im Bereich der Innovation, da diese Partnerschaften die Dominanz größerer etablierter Unternehmen in Frage stellen und die etablierten Unternehmen anspornen können, durch die Initiierung eigener Projekte aufzuholen.
Neben den Vorteilen ist aber nicht ausgeschlossen, dass sich einige dieser Übernahmen nachteilig auf die Innovation und letztlich auf das Wohl der Verbraucher*innen auswirken. Dies ist der Fall, wenn die Übernahme der Beseitigung künftiger Wettbewerber dient. Die Wettbewerbsbehörden in den USA und der EU haben begonnen, die Auswirkungen von Übernahmen auf die Entwicklung von Produkten und damit auf Innovationen zu berücksichtigen. Allerdings bewerten sie nur den potenziellen Wettbewerb zwischen pharmazeutischen Produkten, die kurz vor der Markteinführung stehen.
Drei bemerkenswerte Trends hat die vorliegende Untersuchung bei Übernahmen auf dem Markt für Antidiabetika aufgezeigt. Erstens sind die Branchenführer auf dem Markt für Antidiabetika bei der Akquisition von Projekten eher untätig und entwickeln stattdessen in der Regel Diabetes-Produkte im eigenen Haus. Zweitens: Pharmaunternehmen, die bisher keine Diabetes-Produkte auf dem Markt haben, nutzen häufig Übernahmen, um in den Markt einzutreten. Drittens findet die große Mehrzahl der Übernahmen in der Branche zwischen kleinen, rein forschungsorientierten Unternehmen statt, die weder Pharmaprodukte noch speziell Antidiabetika auf dem Markt haben und oft zu klein sind, um aus eigener Kraft ihre Projekte zur Marktreife zu bringen. Diese Befunde laufen der gängigen Vorstellung entgegen, dass meistens große etablierte Unternehmen mittels Übernahmen kleinere, innovative Firmen aus dem Markt drängen.
Letztlich zeigen die Ergebnisse, dass der Fokus der Wettbewerbsbehörden und politischen Entscheidungsträger*innen dementsprechend weniger auf die Killer-Akquisitionen als vielmehr auf die sogenannten Innovationsmärkte gerichtet sein sollte, wo der Schwerpunkt noch in der Forschung und Entwicklung liegt. Während die Wettbewerbsbehörden derzeit bemüht sind, potenzielle Wettbewerber mit Produkten kurz vor der Markteinführung genauer zu bewerten, bleiben Übernahmen von Unternehmen, deren Projekte weit von der Markteinführung entfernt sind, meist unbemerkt. Dafür ist ein nuancierter Ansatz bei der Bewertung von Übernahmen in der Pharmaindustrie erforderlich.
In diesem Stadium betreffen die meisten Übernahmen Pipeline-Projekte, die in der Regel ohnehin nicht das Zulassungsstadium erreichen werden; die Erfolgswahrscheinlichkeit für Projekte in diesen frühen Stadien ist statistisch gering.Die Chancen, ein marktfähiges Medikament zu entwickeln, sind verschwindend gering: Nur einer von 5000 bis 10000 potenziellen Wirkstoffen, die von US-amerikanischen Pharmaunternehmen untersucht werden, wird von der Food and Drug Administration (FDA) zugelassen, vgl. Elina Petrova (2013): Innovation in the pharmaceutical industry: The process of drug discovery and development. Innovation and Marketing in the Pharmaceutical Industry: Emerging Practices, Research, and Policies. Springer, New York, 19–81. Die Absichten hinter der Übernahme eines Pipeline-Unternehmens und die wettbewerbsrechtlichen Folgen sind für die Wettbewerbsbehörden schwer zu beurteilen.
Die Wettbewerbsbehörden sollten den Umfang ihrer Untersuchungen auf Transaktionen in der Frühphase zwischen kleinen Unternehmen ausweiten. Um die Auswirkungen dieser Transaktionen zu bewerten, müssen sie diese Innovationsmärkte definieren und analysieren sowie bessere Instrumente zur Bewertung der potenziellen Auswirkungen von Übernahmen auf die Innovationsmärkte einsetzen. Diese Instrumente sind vorhanden: Man kann Projekte mit Patenten verknüpfen und diese Märkte nicht nur auf der Grundlage des Wirkmechanismus der Antidiabetika definieren, sondern auch anhand von Patentmerkmalen. Anhand der Textanalyse dieser Patente kann beurteilt werden, wie die Projekte auf den Innovationsmärkten positioniert sind, wie sie relativ zueinanderstehen und welche Effekte eine Übernahme hätte.Sam Arts, Jianan Hou und Juan Carlos Gomez (2021): Natural language processing to identify the creation and impact of new technologies in patent text: Code, data, and new measures. Research Policy 50 (2), 104144; Bruno Cassiman et al. (2005): The impact of M & A on the R & D process: An empirical analysis of the role of technological-and market-relatedness. Research Policy 34 (2), 195–220.
JEL-Classification: L41;L65;O31
Keywords: Mergers and Acquisitions (M & A), Innovation, Pharmacy, Technology, Patents
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-37-1