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Der Draghi-Report als Weckruf für Deutschland: Kommentar

DIW Wochenbericht 38 / 2024, S. 600

Marcel Fratzscher

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Der Bericht des früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi für die EU-Kommission legt schonungslos die wirtschaftlichen und institutionellen Schwächen Europas offen. Draghi fordert mehr Investitionen und marktwirtschaftliche Lösungen, weniger nationale Alleingänge und eine Stärkung europäischer Institutionen. Die Forderungen dürften gerade in Deutschland auf Widerstand stoßen. Dabei wäre die deutsche Wirtschaft der größte Nutznießer solcher Reformen, die eine große Deindustrialisierung verhindern würden.

Keiner von Draghis Befunden und keine seiner Forderungen sind neu. Der Staat und die Unternehmen investieren viel zu wenig. Das Resultat sind ein unzureichendes Bildungssystem, eine verfallende Infrastruktur, zu wenig Innovation und eine fehlende Anpassungsfähigkeit der Unternehmen. Bei digitalen Dienstleistungen und künstlicher Intelligenz läuft Europa Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Und auch bei grünen Technologien könnten chinesische und US-Unternehmen Europa zunehmend abhängen. Europa ist gekennzeichnet von nationalen Alleingängen. Vor allem in Deutschland wurde immer wieder betont, es müsse „nationale Champions“ geben. Die deutschen und französischen Regierungschefs reisen lieber allein nach China, um individuell Deals für nationale Unternehmen auszuhandeln. Nationale Regierungen lassen es zu, dass Autokraten aus China, Russland und anderswo einzelne EU-Staaten gegeneinander ausspielen.

Draghi mahnt die Vollendung des Binnenmarktes für Dienstleistungen, eine Kapitalmarktunion und die Vollendung der Bankenunion an. Er fordert eine Deregulierung, damit es zu einer Konsolidierung einzelner Sektoren kommt – von Telekommunikation bis hin zu Finanzinstitutionen. Und er schlägt eine Stärkung des öffentlichen Einkaufs vor, sodass nationale Regierungen sich etwa bei Rüstungskäufen bessere Qualität zu geringeren Kosten sichern können. Der Draghi-Bericht identifiziert eine europaweite Investitionslücke von 800 Milliarden Euro im Jahr, das entspricht 4,5 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung. Dies klingt nach einer exorbitanten Summe, ist jedoch realistisch. Gerade Deutschland hat seit langer Zeit eine riesige private und öffentliche Investitionslücke, die das DIW Berlin bereits seit 2013 dokumentiert und moniert hat. Deutschland könnte diese Investitionslücke aus eigener Kraft füllen. Denn die Nettoersparnis der deutschen Volkswirtschaft (gemessen an der sogenannten Leistungsbilanz) beträgt rund 250 Milliarden Euro oder mehr als sechs Prozent der Wirtschaftsleistung.

Mit anderen Worten: Deutschland könnte den größten Teil seiner Investitionslücke durch privates Kapital schließen, wenn es einen Teil seiner Nettoersparnisse nicht exportieren, sondern hierzulande verwenden würde. Dafür müssten die deutschen Unternehmen und Finanzinstitutionen jedoch stärker den Investitionsbedarf in Deutschland bedienen. Dies erfordert auch bessere Rahmenbedingungen durch den Staat – von einer leistungsfähigen Infrastruktur über einen deutlichen Abbau der Bürokratie bis hin zur Mobilisierung von Fachkräften. Dafür brauchen wir deutlich mehr öffentliche Investitionen, vor allem für europäische öffentliche Güter wie eine Energieinfrastruktur und eine gemeinsame Industriepolitik. Und dafür wiederum benötigen wir zumindest in einem begrenzten Umfang zwingend eine europäische Fiskalpolitik und die Schaffung einer gemeinsamen sicheren Anleihe. Aber auch auf nationaler Ebene müssen deutlich mehr öffentliche Investitionen mobilisiert werden, beispielsweise für das Bildungssystem sowie Forschung und Innovation. Anders als in Griechenland oder Italien ist die Hürde dafür in Deutschland nicht eine zu hohe Staatsverschuldung, sondern eine schädliche Schuldenbremse, die ausreichende öffentliche Investitionen verhindert.

Draghi drückt aus, was eigentlich eine Binsenweisheit ist: Ohne deutlich mehr private und öffentliche Investitionen werden Produktivität und Wachstum noch schwächer werden, Arbeitsplätze und innovative Unternehmen abwandern und viel des Wohlstands verloren gehen. Die Hoffnung bleibt, dass die verantwortliche Politik in Berlin, Paris und anderswo in Europa endlich ihre nationalen Scheuklappen ablegt, Europa stärkt und dadurch eine große Deindustrialisierung verhindert.

Dieser Kommentar ist am 14. September 2024 bei Focus Online erschienen.

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