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Diese Migrationspolitik ist der größte Fehler der Ampel

Blog Marcel Fratzscher vom 23. September 2024

Der Diskurs zur Migrationspolitik wird falsch geführt und stärkt AfD und BSW. Sich gegen Zuwanderung abzuschotten, schadet Deutschland auch wirtschaftlich enorm.

Nach dem Messerangriff in Solingen und den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen erleben wir den endgültigen Dammbruch im öffentlichen Diskurs und im politischen Handeln zur Migration. Die AfD hat recht mit ihrer Behauptung, die demokratischen Parteien hätten nun die AfD-Positionen übernommen und implementierten deren Forderungen. Sowohl der aktuelle politische Diskurs als auch das Handeln beruhen jedoch auf fünf falschen Behauptungen zur Zuwanderung. Sie werden katastrophale soziale, politische, rechtliche und wirtschaftliche Konsequenzen für Deutschland und Europa haben. Und diese Entscheidungen dürften sich als das größte Versagen der Bundesregierung erweisen.

Zuallererst: Bessere Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus und Gewalt, insbesondere von Islamisten und ausländischen Straftätern, sind zweifelsohne richtig. Die Verschiebung des öffentlichen Diskurses auf die Behauptung, dass Migration das größte Problem Deutschlands sei, und die Folge daraus, dass Geflüchtete und Menschen aus dem Ausland pauschal abgelehnt werden, ist jedoch falsch und schädlich.

Diese Kolumne erschien am 20. September 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Diese Wahrnehmung ist so erstaunlich, weil der heutige Wohlstand Deutschlands ohne hohe Zuwanderung gar nicht möglich gewesen wäre. Fast 30 Prozent der Menschen hierzulande haben ausländische Wurzeln, sind als selbst zugewandert oder sind die Kinder von Zugewanderten. Der zukünftige Wohlstand wird noch sehr viel stärker davon abhängen, ob Deutschland attraktiv für Zuwanderung ist und ob ausreichend Arbeitskräfte kommen wollen. Ohne Menschen aus dem Ausland wird in den kommenden 15 Jahren wohl ein erheblicher Teil vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen in Deutschland pleitegehen, weil sie schlichtweg keine Beschäftigten mehr finden können.

Die deutsche Wirtschaft benötigt dringend Beschäftigte

Die zweite falsche Behauptung ist, es würden die "falschen" Menschen nach Deutschland kommen, weil diese meist gering qualifiziert seien und die Wirtschaft deutlich mehr hoch qualifizierte Fachkräfte benötige. Einige Lobbyorganisationen behaupten gar, ausländische Arbeitskräfte mit einem unterdurchschnittlichen Einkommen seien ein Verlust für Deutschland, weil diese zu wenig Steuern und Beiträge zu den Sozialversicherungen zahlten.

Diese Behauptungen sind unsinnig, weil nach dieser Logik auch 80 Prozent der Deutschen ein Verlustgeschäft für den deutschen Staat wären und Deutschland daher besser verlassen sollten. Ein Unternehmen und auch eine Wirtschaft als Ganzes können nur im Team, im Zusammenspiel von Beschäftigten und wirtschaftlichen Akteuren funktionieren. Die Pandemie sollte uns allen bewusst gemacht haben, dass unser tägliches Leben ohne die systemrelevanten Beschäftigten in der Pflege, dem Gesundheitswesen, der Grundversorgung in den Supermärkten oder im öffentlichen Nahverkehr nicht funktionieren kann – also meist Beschäftigte, die unterdurchschnittlich viel verdienen. Der Mangel an Arbeitskräften mit geringen und mittleren Qualifikationen ist heute so riesig, dass die deutsche Wirtschaft sehr gut alle 3,2 Millionen Schutzsuchenden in Deutschland in Arbeit bringen könnte.

Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft sollte Gradmesser sein für erfolgreiche Politik

Die dritte falsche Behauptung ist, dass man sich primär auf die Steuerung statt auf die Integration von Migration fokussieren sollte. Manche Politiker*innen und Lobbyorganisationen überbieten sich mit Forderungen, wie Abschiebungen in großem Stil stattfinden sollten oder wie man Menschen in Zukunft davon abhalten könne, nach Deutschland zu kommen. Angriffe wie der in Solingen befeuern die Debatte immer wieder. Natürlich ist die Frage der Steuerung wichtig. Aber eine ehrliche Analyse zeigt, dass sie nur begrenzt möglich ist.
Viel sinnvoller ist die Frage, wie die 3,2 Millionen Schutzsuchenden schneller und besser in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integriert werden können. Die Verantwortlichen in der Politik sollten ihren Erfolg in der Migrationspolitik nicht daran messen, wie viele Menschen sie abschieben, sondern wie gut und schnell die Integration der neu Angekommenen in Deutschland erfolgt.

Integration erleichtern statt erschweren

Die vierte falsche Behauptung ist, die Integration von Geflüchteten sei eine Geschichte des Scheiterns. Das Gegenteil ist der Fall. Vor allem in den vergangenen zehn Jahren ist die Integration von Geflüchteten viel erfolgreicher gelungen, als wir realistisch hätten erwarten können. Ein sehr viel höherer Anteil der Menschen ist sehr viel besser und dauerhaft in Arbeit gekommen und hat die deutsche Sprache erlernt. Die OECD hat kürzlich unser Land für viele Aspekte der Integration, wie zum Beispiel die Sprachvermittlung, explizit gelobt und unterstrichen, dass Deutschland dies besser macht als die meisten Nachbarländer. Ein anderes Beispiel: 86 Prozent der Männer, die zwischen 2014 und 2016 nach Deutschland flüchteten, sind heute erwerbstätig – das ist ein höherer Anteil als unter den deutschen Männern.

Natürlich gibt es auch zahlreiche Misserfolge. Die Kürzungen von Leistungen und die Erhöhung der Hürden, so wie sie nun von der Politik umgesetzt werden, sind kontraproduktiv: Sie werden die Misserfolge vervielfachen und die Integration erschweren, die Anzahl der Fachkräfte reduzieren und den deutschen Staat langfristig sehr viel mehr Geld kosten. Eine schnellere und bessere Anerkennung von Qualifikationen, weniger Bürokratie und regulatorische Hürden, bessere Unterstützung für Unternehmen und für Kommunen und deutlich mehr Bemühungen bei der Betreuung der Kinder sind nur einige Beispiele, wo die wirklichen Lösungen vieler Probleme liegen.

Gefährliches Nullsummendenken

Die fünfte falsche Behauptung ist, dass Menschen in Deutschland weniger Unterstützung oder Leistungen erhielten, weil nun Geflüchtete bei uns sind. Dieses Nullsummendenken ist eine der Ursachen, wieso der Populismus und die oben genannten falschen Behauptungen zu Migration bei so vielen Menschen in Deutschland verfangen. Fakt ist, dass praktisch alle der genannten Probleme auch schon vor der höheren Zuwanderung von Geflüchteten existierten und dass es Deutschland auch nicht an Geld mangelt, um in Bildung, Infrastruktur oder Innovation zu investieren oder die Daseinsvorsorge für alle sicherzustellen. Doch solange das Nullsummendenken den öffentlichen Diskurs bestimmt, wird es Populisten auch weiter gelingen, verletzliche Gruppen gegeneinander auszuspielen und vor allem Deutschen mit wenig Einkommen und in strukturschwächeren Regionen zu suggerieren, ihnen ginge es besser, wenn wir nur andere verletzliche Gruppen schlechter behandeln würden.

Verschiebung des Diskurses verstärkt die Ausgrenzung

Die Konsequenzen des von der Bundesregierung und vielen demokratischen Parteien eingeschlagenen Weges zur Migration sind katastrophal. Die Verschiebung des öffentlichen Diskurses und der politischen Schritte vergrößert die soziale Polarisierung, sie verstärkt das Ausgrenzen und das Ausspielen verletzlicher Gruppen gegeneinander. Sie erhöht die politische Spaltung und wird AfD und BSW stärker und nicht schwächer machen – wieso demokratische Parteien wählen, wenn das Original sich letztlich durchsetzt

Grenzschließungen sind ein Schlag ins Gesicht Europas

Der Diskurs zu Migration in Deutschland ist so emotional geworden, dass einige sich nicht mehr trauen, dem falschen Narrativ der Feinde von Demokratie und Vielfalt die Stirn zu bieten. Unternehmen befürchten den Widerspruch ihrer Belegschaft und Kundschaft. 

Es ist eine moralische Bankrotterklärung unserer Gesellschaft, Familien an der Grenze zurückweisen und in Lagern verwahren zu wollen. Wir laufen damit Gefahr, das individuelle Recht auf Asyl im Grundgesetz und mit der Genfer und der Europäischen Menschenrechtskonvention zu brechen. Es ist ein Schlag ins Gesicht für Europa und die europäischen Nachbarn, die Opfer des nationalen Alleingangs Deutschlands sind. Und die Grenzschließungen richten einen enormen wirtschaftlichen Schaden an, weil sie Menschen von ihrem Arbeitsplatz fernhalten und den Handel blockieren – und weil sie ein fatales Signal an ausländische Fachkräfte sind, besser nicht nach Deutschland zu kommen.

Die Akzeptanz dieses falschen Diskurses zu Migration wird keines der Probleme lösen, sondern die Gesellschaft weiter polarisieren, die Demokratie aushöhlen, die AfD stärken und den wirtschaftlichen Wohlstand schmälern.

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