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Einstellungen zu Geschlechterrollen sind in Deutschland im Laufe der Zeit egalitärer geworden

DIW Wochenbericht 46 / 2024, S. 717-724

Lukas Menkhoff, Katharina Wrohlich

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  • Studie untersucht sich verändernde Einstellungen zur Rolle von Frauen auf Basis von Daten des World Value Survey.
  • Frauen haben tendenziell egalitärere Vorstellungen über die Rolle der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt als Männer.
  • Das Frauenbild in Deutschland erweist sich als modern, ist aber weniger egalitär als in den nordischen Ländern.
  • In Spanien und Italien gab es zuletzt keine weitere Modernisierung.
  • Unsicher ist, ob das Frauenbild innerhalb Europas und im Rest der Welt weiterhin egalitärer wird.

„Das Frauenbild in Deutschland hat sich in den letzten 70 Jahren weg von einer spezifischen Rolle hin zu einer eher egalitären Position entwickelt.“ Lukas Menkhoff

Gesellschaftliche Einstellungen zur Rolle von Männern und Frauen am Arbeitsmarkt, in der Familie, Bildung oder Politik unterliegen einem zeitlichen Wandel. Berechnungen auf der Grundlage von Daten des World Value Survey zeigen, dass das gesellschaftliche Rollenbild der Frau in den letzten Jahrzehnten in Deutschland deutlich moderner geworden ist. In der letzten Befragungswelle lehnten mehr als 80 Prozent eine Bevorzugung von Männern bei Jobknappheit am Arbeitsmarkt ab. In den Befragungen stellt sich heraus, dass Frauen tendenziell egalitärere Vorstellungen zu Geschlechterrollen am Arbeitsmarkt haben als Männer. Im internationalen Vergleich herrschen heutzutage in Deutschland relativ egalitäre Vorstellungen zu Geschlechterrollen vor. Insbesondere unter den nördlichen EU-Mitgliedstaaten gibt es jedoch einige Länder mit deutlich egalitäreren Einstellungen. Hingegen findet sich in vielen Teilen der Welt ein deutlich weniger egalitäres Rollenbild. Eine weltweite Modernisierung des Frauenbilds ist indes nicht zwangsläufig. Zuletzt geriet der Modernisierungsprozess sogar innerhalb Europas, in Ländern wie Italien und Spanien, ins Stocken.

Die Rolle, in der Frauen in der Gesellschaft gesehen werden, ändert sich über die Zeit und unterscheidet sich nach Ländern. Dieses Frauenbild war in der Vergangenheit traditionell geprägt, so dass Frauen relativ zu Männern eine eher komplementäre und untergeordnete Rolle zugesprochen wurde.infoIn Westdeutschland war bis zur Eherechtsreform 1976 die „Hausfrauenehe“ das gesetzliche Leitbild in der Ehe. Demnach war gesetzlich festgelegt, dass Frauen für Haushaltsführung und Kindererziehung und Männer für den finanziellen Unterhalt der Familie verantwortlich waren. Ehefrauen durften nur dann berufstätig sein, wenn dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar war. Dieses Leitbild wurde erst 1976 durch das „Partnerschaftsprinzip“ ersetzt, das keine konkrete Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern gesetzlich vorschreibt. Diese Vorstellung hat sich in der deutschen Gesellschaft seit der zweiten Welle der Frauenbewegung in den 1960er Jahren, wie in vielen anderen Ländern auch, in den letzten Jahrzehnten erheblich gewandelt. Diese Veränderung in den Geschlechterrollen fügt sich ein in einen breiteren gesellschaftlichen Wandlungsprozess, der als Modernisierung bezeichnet wird. Zentrales Merkmal dieser Modernisierung ist die Angleichung des Rollenverständnisses von Frauen und Männern, so dass individuelle Eigenschaften und Präferenzen zunehmend stärker über den Lebensweg entscheiden als das Geschlecht.infoClaudia Goldin (2014): A Grand Gender Convergence: Its Last Chapter. American Economic Review, 104 (4), 1091–1119 (online verfügbar, abgerufen am 22. Oktober 2024. Dies gilt für alle Onlinequellen dieses Berichts). Weitere Merkmale dieses gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses sind die abnehmende Bedeutung von familiärer Herkunft und Religion für individuelle Lebensentscheidungen.

Die vorliegende Untersuchung zeichnet die Veränderung des Frauenbilds zunächst anhand mehrerer Einstellungen zur Rolle von Frauen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, über die letzten Jahrzehnte auf Basis von Daten des World Value Survey (WVS) nach. Anschließend wird die deutsche Entwicklung in Beziehung zu anderen Gesellschaften in der Welt gesetzt. Es zeigt sich, dass die Veränderung des Frauenbilds ein weltweites Phänomen ist. Das heute „typische“, also das von einer Mehrheit der Bevölkerung des jeweiligen Landes befürwortete Frauenbild entspricht allerdings in der Mehrzahl der im WVS berücksichtigten Länder grob dem Frauenbild, das in Deutschland in den 1950er Jahren und damit vor etwa 70 Jahren vorherrschend war.

Die Analyse beruht auf allen verfügbaren Befragungen des WVS aus den Jahren 1981 bis 2022 (Kasten).infoWie in der Forschung üblich werden die Daten aus dem World Value Survey mit dem parallel durchgeführten European Value Survey zusammengeführt, um möglichst viele Beobachtungen zu erhalten. Aus diesen, in den jeweiligen Ländern repräsentativen, Befragungen der Werte und Einstellungen werden vier Kernaussagen und die jeweiligen Einstellungen dazu analysiert. Dies betrifft die Rolle der Frauen hinsichtlich Familie, Bildung, Arbeitsmarkt und Politik.

Der World Value Survey (WVS) ist ein internationales Projekt, das seit 1980 in bis zu 90 Ländern etwa alle fünf Jahre eine jeweils repräsentative Befragung der erwachsenen Bevölkerung vornimmt. Aufgrund der Freiwilligkeit sind nicht alle Länder in jeder Erhebungswelle vertreten, zudem werden nicht alle Fragen in jeder Welle erhoben. Für europäische Länder werden die Daten des World Value Surveys häufig mit Daten des European Value Surveys gepoolt.

Zur Ermittlung des Frauenbilds werden Aussagen berücksichtigt, die sowohl über die Zeit (also die Erhebungswellen) als auch über die Breite der Länder häufig erhoben wurden:

 Aussage zur Familie: „Ein Vorschulkind leidet, wenn die Mutter arbeitet“

 Aussage zu Bildung: „Universitätsbildung ist für Jungen wichtiger als für Mädchen“

 Aussage zum Arbeitsmarkt: „Männer sollten bei Jobknappheit mehr Recht auf einen Job haben als Frauen“

 Aussage zur Politik: „Männer sind bessere politische Führungspersonen als Frauen“

Für Deutschland liegen Erhebungen in sechs Wellen (Wellen 2 bis 7 des WVS) aus den Jahren 1990 bis 2017/18 vor.

Um die Einstellungen zum Frauenbild in einem Land vor der ersten Erhebungswelle des WVS abzuschätzen, das heißt für Deutschland für die Jahre vor 1990, werden Schätzungen in drei Szenarien vorgestellt. In allen Fällen werden der Einfachheit halber die Jahrgänge gleich gewichtet. Szenario 1: Ausgehend von den Antworten der jeweiligen Jahrgänge in der frühesten Erhebungswelle (also 1990), wird dieser Kohorteneffekt linear rückwärts gerechnet. Dabei wird die lineare Steigung aus den durchschnittlichen Antworten der Jahrgänge 1909 bis 1972 errechnet. Mit diesem Steigungskoeffizienten werden die Antworten aller früheren Jahrgänge, anknüpfend an den Jahrgang 1909, kalkuliert. Szenario 2: Hier wird angenommen, dass die Antworten der Jahrgänge vor 1909 gleich ausfallen wie diejenigen der Jahrgänge 1909 bis 1914, dass es also vor 1909 keine Veränderung in den Einstellungen gab. Szenario 3: In diesem Szenario wird zusätzlich zum Vorgehen in Szenario 1 noch ein Zeiteffekt angenommen. Dieser wird als durchschnittlicher Abstand der Antworten identischer Jahrgänge zu unterschiedlichen Zeitpunkten (das Jahr 1990 gegenüber 2017) ermittelt und beträgt 0,23. Die geschätzten Werte für die Rückrechnung der Einstellungen aus Szenario 1 werden dann um diesen durchschnittlichen Abstand der Antworten korrigiert.

Wegen der eingeschränkten Datenverfügbarkeit zur Aussage über die Rolle der Frau in der Familie beruht der Frauenbild-Score für den internationalen Vergleich nur auf den drei übrigen Aussagen. Zur Vergleichbarkeit werden alle Antwortskalen auf 1 bis 4 normiert. Danach werden die Antworten der einzelnen Person addiert und durch den Maximalwert, das heißt einen Wert von 16 (ergibt sich aus vier Items mal vier als jeweils höchster Wert) geteilt. Dadurch liegt der Score jeder Person immer zwischen 0 und 1. Auf Länderebene wird daraus der Mittelwert gebildet.

Befragungen zeigen ein sich über den Zeitablauf modernisierendes Bild der Frau am Arbeitsmarkt

Das Frauenbild auf dem Arbeitsmarkt wird anhand der Einstellungen zu der Aussage „Männer sollen bei Jobknappheit mehr Anrecht auf einen Job haben als Frauen“ erhoben (Abbildung 1). In einer Gesellschaft gleichberechtigter Geschlechter macht diese Aussage keinen Sinn und sie würde allgemein abgelehnt. Rechtlich ist diese Situation in Deutschland gegeben, aber wirtschaftlich (siehe persistente geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der BezahlunginfoAnnekatrin Schrenker und Katharina Wrohlich (2022): Gender Pay Gap ist in den letzten 30 Jahren fast nur bei Jüngeren gesunken. DIW Wochenbericht Nr. 9, 149–154 (online verfügbar)., in der Aufteilung der Erwerbs- und SorgearbeitinfoRachel A. Rosenfeld, Heike Trappe und Janet C. Gornick (2004): Gender and Work in Germany; Before and After Reunification. Annual Review of Sociology, 103–124 (online verfügbar). sowie die geringe Repräsentanz von Frauen in hohen FührungspositioneninfoVirginia Sondergeld, Katharina Wrohlich und Anja Kirsch (2024): Frauenanteil in Vorständen großer Unternehmen gestiegen, meist bleibt es aber bei höchstens einer Frau. DIW Wochenbericht Nr. 3, 26–23 (online verfügbar).) und kulturellinfoStefan Bauernschuster und Helmut Rainer (2012): Political Regimes and the Family: How Sex-Role Attitudes Continue to Differ in Reunified Germany. Journal of Population Economics 25, 5–27 (online verfügbar) sowie Denise Barth et al. (2020): Mütter in Ost und West: Angleichung bei Erwerbstätigenquoten und Einstellungen, nicht bei Vollzeiterwerbstätigkeit. DIW Wochenbericht Nr. 38, 699–706 (online verfügbar). noch nicht vollständig. Dies spiegelt sich in den Antworten wider, die ablehnend (entspricht Wert 2), zustimmend (Wert 0) oder indifferent sind (Wert 1). Tatsächlich lautet der Durchschnittswert der Antworten in der letzten Erhebung des WVS aus dem Jahr 2017 für Deutschland 1,7 (Abbildung 2, links oben).infoDie bisher letzte Erhebungswelle wurde in Deutschland im Jahr 2017 durchgeführt, weltweit erstreckt sich diese siebte Welle über die Jahre 2017 bis 2022. Die achte Welle ist für die Jahre 2024 bis 2026 geplant. Passend dazu lehnen gut 80 Prozent der Bevölkerung die Aussage ab, nur knapp acht Prozent stimmen zu und zwölf Prozent sind indifferent (Abbildung 1).

Die individuelle Einstellung zur hier untersuchten Aussage ist nicht unabhängig von anderen individuellen Merkmalen, die einem modernen (versus traditionellen) Frauenbild zuzuordnen sind. In Deutschland lehnen Frauen die Aussage häufiger ab (83 Prozent) als Männer (78 Prozent). Jüngere bis zu einem Alter von 40 Jahren lehnen sie deutlich eher ab als Ältere über 60 Jahre (mit 86 zu 72 Prozent), Personen mit Studienabschluss eher als solche ohne abgeschlossenes Studium (88 zu 77 Prozent) und Ostdeutsche eher als Westdeutsche (84 zu 79 Prozent).infoZahlreiche Studien belegen bedeutende Unterschiede in den Einstellungen zu Geschlechterrollen zwischen Ost- und Westdeutschland, zum Beispiel Bauernschuster und Rainer (2012), a.a.O. und Quentin Lippmann, Alexandre Georgieff und Claudia Senik (2020): Undoing gender with institutions: Lessons from the German division and reunification. The Economic Journal 130, 1445–1470 (online verfügbar). Ein Literaturüberblick hierzu findet sich in Quentin Lippmann und Claudia Senik (2019): The impact of the socialist episode on gender norms in Germany. ifo DICE Report III/2019, 30–35 (online verfügbar). In der Summe lehnen junge, gebildete Frauen, die aus Ostdeutschland stammen, einen Vorzug von Männern gegenüber Frauen bei Jobknappheit eher ab als andere Personengruppen.

Die erheblich modernere Einstellung der Jüngeren im Vergleich zu den Älteren unterstützt die Vermutung, dass die Einstellung, Männer sollten bei Jobknappheit kein Vorrecht erhalten, mit der Zeit zugenommen haben könnte.infoIn der ersten Welle war diese Frage in Deutschland nicht gestellt worden. Erkennbar ist dies an einem nahezu kontinuierlichen Anstieg der Ablehnung in den beobachteten 30 Jahren: 1990 lehnten dies nur 55,5 Prozent ab, während 28,9 Prozent dafür waren. Die befragten Männer weisen konsistent eine geringere Ablehnung auf als Frauen. Das bedeutet, dass Frauen tendenziell egalitärere Vorstellungen zu Geschlechterrollen am Arbeitsmarkt haben als Männer.infoDie Studie von Daniela Grunow, Katia Begall und Sandra Buchler (2018): Gender Ideologies in Europe: A Multidimensional Framework. Journal of Mariage and Family (online verfügbar) gibt einen Überblick über empirische Studien, die in vielen europäischen Ländern ebenfalls eine Entwicklung zu egalitäreren Einstellungen zu Geschlechterrollen über die Zeit finden. Ebenso verweist der Aufsatz auf zahlreiche Studien, die zeigen, dass Frauen tendenziell egalitärere Einstellungen haben als Männer.

Für die Zeit vor 1990 stehen für Deutschland keine vergleichbaren Daten zur Verfügung. Allerdings sind die Befragten mit ihren Geburtsjahrgängen erfasst, so dass beschrieben werden kann, wie sich die Geschlechterrollen in verschiedenen Geburtskohorten unterscheiden. Es lässt sich also untersuchen, ob und wie stark sich das Frauenbild von Personen, die in der Nachkriegszeit geboren sind, vom Frauenbild von Personen, die davor geboren wurden, unterscheidet. Die Auswertung der Antworten nach Geburtsjahrgängen in beiden Erhebungswellen (1990 und 2017) zeigt einen Anstieg der Ablehnung zur Aussage „Männer sollten bei Jobknappheit mehr Recht auf einen Job haben als Frauen“ (Abbildung 2, rechts oben). Zu beiden Erhebungszeitpunkten sind demnach die Jüngeren moderner eingestellt als die Älteren. In den Daten von 1990, die im Kern Geburtsjahrgänge von 1909 bis 1972 abbilden, zeigt sich der Anstieg recht kontinuierlich. So liegt die durchschnittliche Antwort der Geburtsjahrgänge von 1915 bis 1925 leicht unter eins; diese Personen, die zum Befragungszeitpunkt 65 bis 75 Jahre alt waren, lehnen die Gleichbehandlung von Männern und Frauen leicht ab. Zum selben Zeitpunkt antworten die Jüngeren mit einem Wert von 1,5, also deutlich zugunsten von Gleichbehandlung. In der Befragungswelle 2017/2018 ist die Ablehnung bei den Jahrgängen ab 1965 mit Werten von 1,75 und darüber noch größer. Hier verbleibt kaum Spielraum nach oben, da der Maximalwert 2,0 beträgt.

Die modernere Einstellung der Jüngeren im Vergleich zu den Älteren zu einem Zeitpunkt, also der Kohorteneffekt, ist demnach für die Geburtsjahrgänge von 1915 bis etwa 1965 gut erkennbar. Grob überschlagen wird die Antwort zur Bevorzugung von Männern bei der Arbeit in diesem Zeitraum um etwa 0,81 Einheiten ablehnender (von 0,56 für 1915 bis 1,37 für 1965), das heißt für Personen, die jeweils zehn Jahre später geboren wurden, steigt die Ablehnung um etwa 0,16 Einheiten. Hinzu kommt ein Zeiteffekt, da derselbe Jahrgang im Jahr 1990 traditioneller geantwortet hat als im Jahr 2017. Personen einer Kohorte sind somit zu einem späteren Zeitpunkt moderner eingestellt. Dieser Effekt macht zum Beispiel für die 1965 Geborenen einen Unterschied von 1,37 bei der Befragung im Jahr 1990 zu 1,74 bei der Befragung im Jahr 2017/18 aus, allerdings bei größeren zufälligen Schwankungen über die Jahre. Im Durchschnitt der Jahre, für die beide Werte vorliegen, beträgt dieser Effekt 0,23 Einheiten.

Rückrechnungen ergeben traditionelle Einstellungen vor dem Jahr 1990

Unter Nutzung dieser beiden genannten Effekte, Kohorten- und Zeiteffekt, kann durch Rückrechnungen abgeschätzt werden, wie das Rollenverständnis von Personen früher vermutlich ausgesehen hätte (Abbildung 2, links unten). Der Einfachheit halber werden alle Jahrgänge gleich gewichtet. Ein Zeitraum von 64 Jahren wird erfasst (also die Altersspanne von 18 bis 81 Jahren). In Szenario 1 wird eine lineare Veränderung der Einstellung der Kohorten angenommen. Unter der Annahme, dass sich Rollenbilder linear – also in jedem Jahr gleich stark – verändert haben, ergibt sich für den Mittelwert der arbeitsmarktbezogenen Rolleneinstellungen ein Schätzwert von etwa 0,65 für das Jahr 1950 und 0,35 für das Jahr 1930. Da diese Schätzung mit Unsicherheit behaftet ist, werden zwei weitere Szenarien (Szenarien 2 und 3) berechnet. In Szenario 2 wird angenommen, dass Geborene vor 1909 dieselbe Einstellung hatten wie die zwischen 1909 und 1914 Geborenen. Damit wird über die Kohorten hinweg ein vor dem Ersten Weltkrieg unverändertes Frauenbild unterstellt. Entsprechend fällt die Ablehnung der Aussage stärker aus als im ersten Szenario. Hingegen wird die Ablehnung für die früheren Jahrzehnte schwächer als in der Ausgangsrechnung (Szenario 1) eingeschätzt, wenn neben dem Kohorteneffekt zusätzlich ein Zeiteffekt berücksichtigt wird (Szenario 3).

Wenngleich alle drei Szenarien mit erheblichen Unsicherheiten behaftet sind, sind doch die Einstellungen ab dem Geburtsjahrgang 1909 recht verlässlich bekannt. Sie liegen etwas unter dem Wert von 1,0. Die Jahrgänge 1915 bis 1930 waren im Jahr 1950 erst zwischen 20 und 35 Jahre alt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die noch früher Geborenen, die weitgehend im Deutschen Kaiserreich sozialisiert wurden, nochmals traditioneller dachten. Folglich ist davon auszugehen, dass der Bevorzugung von Männern bei Jobknappheit im Jahr 1950 und erst recht im Jahr 1930 tendenziell zugestimmt wurde. Wie stark diese Zustimmung ausfällt, ist mit Unsicherheit behaftet. Zudem ist plausibel, dass größere gesellschaftliche Veränderungen durch Kriege oder wirtschaftliche Schocks zu Abweichungen von linearen Trends führen. Wahrscheinlich ist, dass der Übergang zur Weimarer Republik mit der Einführung des Frauenwahlrechts 1918 auch mit einer stärkeren Ablehnung der Bevorzugung von Männern bei Jobknappheit einherging.

Überlegungen wie für Deutschland können auch für andere Länder angestellt werden (Abbildung 2, rechts unten). Hierzu werden für Europa exemplarisch Schweden und Italien sowie zusätzlich die USA betrachtet. Auch für diese Länder lassen sich auf Basis der verfügbaren Erhebungswellen des WVS Rückrechnungen bis 1950, analog zum Vorgehen für Deutschland, durchführen.

Es kristallisieren sich deutliche Länderunterschiede heraus. Während die Antworten für die USA ähnlich zu denen für Deutschland ausfallen, ist die Ablehnung einer Bevorzugung von Männern auf dem Arbeitsmarkt in Schweden seit den 50er Jahren erkennbar größer. Nach diesen Berechnungen waren die Einstellungen in Schweden um 1950 ähnlich zu denen in Deutschland um 2013 (der vorletzten Erhebungswelle).infoZu ähnlichen Ergebnissen für Deutschland, Schweden und die USA kommt auch die Studie von Byron Miller et al. (2021): A comparative analysis of attitudes towards female and male breadwinners in Germany, Sweden and the United States. Journal of Gender Studies 30/3, 358–370 (online verfügbar) . Dagegen ist die Einstellung in Italien im erfassten Zeitraum deutlich weniger ablehnend als in den drei anderen berücksichtigten Ländern. Interessanterweise sank sie zuletzt wieder etwas und entsprach damit dem deutschen Wert im Jahr 1990.

Umfassendes Frauenbild weist nicht nur weltweit, sondern auch innereuropäisch durchaus Unterschiede auf

Um das Frauenbild auf eine breitere Basis zu stellen, wird neben dem Arbeitsmarkt das Frauenbild in Familie, Bildung und Politik betrachtet. In allen vier Dimensionen ist die Modernisierung des Frauenbilds erkennbar (Abbildung 3).

Auf Basis der Antworten zu den Aussagen über die vier Bereiche wird ein Mittelwert gebildet. Dafür werden für jede befragte Person die Antworten zu den entsprechenden Aussagen mit gleicher Antwortskala und gleicher Gewichtung berücksichtigt. Das Ergebnis wird auf einer Skala von 0 bis 1 abgetragen. Wie bisher zeigen höhere Werte eine tendenzielle Ablehnung traditioneller Einstellungen an. Deutschland erreicht in der jüngsten Erhebungswelle von 2017 einen Score von 0,79.

Dieser Score wird für alle im WVS erfassten Länder berechnet und in eine Weltkarte übertragen (Abbildung 4). Je höher der Score und damit je egalitärer die Einstellung, desto dunkler ist die Farbe. Deutschland zählt weltweit zu den Ländern mit dem modernsten Frauenbild. Im Vergleich zum Weltdurchschnitt (einfacher Durchschnitt der Ländermittelwerte) ist das Frauenbild in vielen europäischen Ländern modern. Doch auch innereuropäisch gibt es erhebliche Unterschiede (Abbildung 5). Die Ländermittelwerte sowie die Mittelwerte von Regionen weisen regionale Muster auf: Das modernste Frauenbild herrscht in Nordeuropa vor, in Süd- und (Mittel-)Osteuropa ist es deutlich traditioneller, West- und Mitteleuropa liegen dazwischen.infoJulia Schmieder und Katharina Wrohlich (2021): Gender Pay Gap im europäischen Vergleich: Positiver Zusammenhang zwischen Frauenerwerbsquote und Lohnlücke. DIW Wochenbericht Nr. 9, 141–147 (online verfügbar). Im europäischen Vergleich hat Deutschland also noch Modernisierungspotenzial.

Da der Frauenbild-Score auf vier Dimensionen beruht und für viele Länder verfügbar ist, kann er prinzipiell mit dem jährlichen Global Gender Gap Index des World Economic Forum verglichen werden, der ebenfalls vier verwandte Dimensionen abbildet.infoWorld Economic Forum (2023): Global Gender Gap Report. Genf, Juni (online verfügbar). Die Dimensionen sind etwas verkürzt: Ökonomische Teilhabe, Bildung, Gesundheit und Politik. Allerdings ist dieser Index deutlich aufwendiger erstellt und hat den Anspruch, den Gender Gap objektiv zu messen,infoEine objektive Messung wird beispielsweise erreicht durch Einbeziehung von Indikatoren wie der geschlechtsspezifischen Lohnlücke und der geschlechtsspezifischen Ungleichheit in der Repräsentation in hohen Führungspositionen. während es bei den Daten des WVS – und entsprechend dem hier vorgeschlagenen Score – um subjektive Einstellungen geht. Dennoch zeigt sich, dass der Gender Gap Index und das Frauenbild der jeweiligen Länder stark miteinander verbunden sind (Abbildung 6). In diesem Sinn informiert die Einstellung (Frauenbild) auch über die Verhältnisse (Gender Gap).

Fazit: In Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten das Frauenbild moderner geworden, es bleibt aber unter der EU-Spitze

Die Daten des WVS zeigen einen erheblichen Wandel des Frauenbilds in Deutschland über die letzten 30 Jahre. Diese Modernisierung in Richtung einer Angleichung der Geschlechter gilt für alle vier untersuchten Dimensionen, also Familie, Bildung, Arbeitsmarkt und Politik. Diese Veränderung zeigen die Wellen des WVS von 1990 bis 2017 für Deutschland klar auf. Im internationalen Vergleich herrscht in Deutschland ein modernes Frauenbild vor, auch wenn es in skandinavischen Ländern nochmals moderner ist.

Der Modernisierungsprozess, der sich in Deutschland vollzog, ist nicht zufällig, sondern folgt aus der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung und nicht zuletzt der normativen Vorgabe der Gleichberechtigung der Geschlechter, wie sie im Grundgesetz bereits 1949 verankert wurde. Unsicher ist, ob und wann Deutschland zu den skandinavischen Ländern aufschließen wird. Auch für andere Länder ist eine weitere Modernisierung nicht zwangsläufig. In jüngster Vergangenheit sind in Italien und Spanien keine Fortschritte mehr zu verzeichnen. Aus dem aktuellen Frauenbild Europas und der USA kann daher nicht geschlossen werden, dass der Wandel zu einem modernen Frauenbild in der näheren Zukunft die Blaupause für andere Länder der Welt sein wird.

Lukas Menkhoff

Senior Research Associate in der Abteilung Makroökonomie

Katharina Wrohlich

Leiterin in der Forschungsgruppe Gender Economics



JEL-Classification: N34;Z13;J22
Keywords: social norms, gender equality, historical development
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-46-3

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