DIW Wochenbericht 50 / 2024, S. 844
Jürgen Schupp, Rolf G. Heinze
get_appDownload (PDF 117 KB)
get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF 3.5 MB - barrierefrei / universal access)
Man muss kein kalter Neoliberaler sein, um festzustellen: Der deutsche Sozialstaat ist ineffizient. Und nicht nur das: Er ist auch zu kompliziert und muss dringend einfacher, unbürokratischer und transparenter werden. Diese Auffassung wurde zuletzt auch vom Nationalen Normenkontrollrat geteilt.
Komplexitätsfallen des Sozialstaats führen dazu, dass er zu einem Sanierungsfall geworden ist und trotz relativ hoher finanzieller Aufwendungen von Bürger*innen immer öfter nicht mehr verstanden wird. Während Bürger*innen auf einen funktionsfähigen Sozialstaat in ihren unterschiedlichen Lebenslagen angewiesen sind, handeln die sozialstaatlichen Institutionen primär gemäß ihren Zuständigkeiten. Ob bei kommunaler Jugendhilfe, Schulbehörde, Gesundheitsamt, Jobcenter oder Wohngeldstelle: Die Grenzen der Zuständigkeiten sind nicht identisch mit den Abgrenzungen von Problemen.
Aus verwaltungswissenschaftlicher Perspektive wird argumentiert, dass das System überhaupt nur noch funktioniert, weil viele Bürger*innen es wegen Überforderung gar nicht nutzen. Dies muss auch vor dem Hintergrund sozialer Gerechtigkeit ernst genommen werden. Parallel geht auch das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Politik zurück – und dies trifft zunehmend auch die Verwaltungen. Dies wird in den Kommunen durchaus registriert: Es bewegt sich inzwischen etwas mit Blick auf die Überwindung geteilter Zuständigkeiten durch ressortübergreifende Zusammenarbeit.
Hier ist aber auch die Bundesebene gefragt: Das Scheitern des großen Projekts Kindergrundsicherung etwa ist nicht allein an der Kostenfrage festzumachen, sondern vor allem daran, dass die Hilfesysteme in der politischen Verantwortung von drei unterschiedlichen Ministerien liegen sowie von drei verschiedenen Behörden verwaltet werden. Vor diesem Hintergrund plädieren wir für eine Transparenz-Offensive des Sozialleistungssystems sowie für mehr Zugänglichkeit sozialpolitischer Leistungen. Hier sollte als Sofortmaßnahme eine nutzerfreundliche „Sozialstaats-App“ auf den Weg gebracht werden.
In Zeiten von Künstlicher Intelligenz ist auch die digitale Integration der über 160 Einzelleistungen keine Raketenwissenschaft mehr – selbst dann nicht, wenn man die sozialstaatlichen Leistungen auch mit steuerlichen Freibeträgen plus Steuer- und Abgabenbelastung verknüpfen würde, um auf diese Weise realistische Netto-Einkommenshöhen zu ermitteln.
Der Thinktank „Agora Digitale Transformation“ hat hierfür in Zusammenarbeit mit dem Caritasverband unter dem Titel „Den digitalen Sozialstaat nutzendenorientiert gestalten“ einen machbaren Fahrplan entwickelt: Dieser zielt darauf ab, Initiativen von Wohlfahrtsverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen bei der Entwicklung digitaler Antragsassistenten zusammenzuführen. Auch Vizekanzler Robert Habeck formulierte in einem Impulspapier das Ziel: „Eine einzige digitale Plattform in Form einer Deutschland-App, auf der alle Sozialleistungen direkt beantragt werden können, sollte das Ziel sein.“
Dieses Ziel dürfte aber trotz der von Bund, Ländern und Kommunen grundsätzlich bekräftigten Kooperationsbereitschaft auch in der nächsten Legislaturperiode nicht erreicht werden. Als unmittelbare Maßnahme wäre deshalb viel gewonnen, wenn die nächste Bundesregierung zunächst ein ressortübergreifendes Pilot-Projekt starten würde, das auf das engere Feld der Sozialpolitik beschränkt ist. Darin sollte als erster Schritt jedoch nicht die digitale Beantragungsfunktion stehen, sondern man könnte mit einer transparenten „Anspruchsberechtigungsfunktion“ – zunächst ohne Rechtsverbindlichkeit – starten, die mit einer örtlichen Adress-Datenbank verlinkt wäre. Sozial engagierte Stiftungen und Wohlfahrtsverbände könnten zudem einen jährlichen Preis für die bürgerfreundlichste Sozialpolitik-App ausschreiben, die beim jährlichen Digitalgipfel der Bundesregierung öffentlichkeitswirksam verliehen und ausgezeichnet wird. Hierdurch könnte als Nebeneffekt das Vertrauen in einen bürokratieärmeren und transparenten Sozialstaat wieder gestärkt werden.
Dieser Kommentar ist in einer längeren Version am 2. Dezember 2024 in der taz erschienen.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Steuern, Familie