Blog Marcel Fratzscher vom 29. Januar 2025
Bei kaum einem anderen Wahlkampfthema liegen die Parteien so weit auseinander wie bei der Schuldenbremse. Doch es gäbe eine Lösung für eine Reform, die auch die Interessen jüngerer Generationen berücksichtigt.
Kaum ein Thema polarisiert die Gesellschaft so sehr wie die Schuldenbremse, über die auch im Wahlkampf gestritten wird. Für die einen schützt sie vor einem übergriffigen und ineffizienten Staat, für die anderen lähmt sie Wirtschaft und Gesellschaft, da sie notwendige Investitionen verhindert. Dabei bleibt die Frage der Generationengerechtigkeit oft ein blinder Fleck: Wie müsste eine Schuldenregel gestaltet sein, um auch künftige Generationen zu schützen? Eine generationengerechte Schuldenregel erfordert konkrete Reformen, die die nächste Bundesregierung mit höchster Priorität angehen muss.
Dieser Gastbeitrag von Marcel Fratzscher erschien am 29. Januar 2025 in Der Spiegel.
Seit ihrer Aufnahme ins Grundgesetz 2009 wird die Schuldenbremse zunehmend kontrovers diskutiert. Sie begrenzt die Möglichkeiten eines Staates, Schulden zu machen, stärker als die europäischen Vorgaben. So muss der Bund die strukturelle Neuverschuldung auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beschränken – das entspricht durchschnittlich etwa 14 Milliarden Euro jährlich. In wirtschaftlich schlechten Zeiten darf diese Grenze leicht überschritten werden, in guten Zeiten muss die Verschuldung jedoch geringer ausfallen. Noch strikter gilt die Regel für die Bundesländer: Sie dürfen keinerlei strukturelle Neuverschuldung aufnehmen. Zur Bewältigung unvorhersehbarer Krisen kann der Bundestag temporäre Ausnahmen beschließen. Das Bundesverfassungsgericht schränkte diese jedoch in einem Urteil im November 2023 stark ein.
Kritiker betrachten die Schuldenbremse als Selbstkasteiung, die notwendige Zukunftsinvestitionen blockiert und es erschwert, Krisen und Transformationen zu bewältigen. Da viele öffentliche Konsumausgaben kurzfristig kaum gekürzt werden können, bleibt in wirtschaftlich schwachen Zeiten oft nur die Option, öffentliche Investitionen zu reduzieren – mit teils verheerenden Folgen für die Daseinsvorsorge und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts. Die Instandhaltung von Schulen, Verkehrsinfrastruktur und öffentlichen Einrichtungen wird oft verschoben oder gestrichen, da dies kurzfristig einfacher erscheint als beispielsweise die Gehälter im öffentlichen Dienst zu kürzen.
Infolgedessen lebt der deutsche Staat seit mehr als 20 Jahren von seiner Substanz: Die öffentlichen Nettoinvestitionen sind seit den Nullerjahren fast durchgängig negativ, der Wertverfall der Infrastruktur übersteigt die staatlichen Investitionen. Dadurch verschlechtert sich sowohl die Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bürger als auch das Umfeld für Unternehmen.
Verfechter der Schuldenbremse argumentieren, der Staat dürfe nicht ständig mehr von der Wirtschaftsleistung beanspruchen. Eine hohe Staatsquote belaste die Unternehmen und damit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes. Notwendige Ausgaben für Sicherheit, Infrastruktur, Bildung und soziale Sicherung seien gerechtfertigt, darüber hinausgehende Ausgaben jedoch nicht. Sie sind lediglich eine Umverteilung, die private Innovations- und Investitionspotenziale schmälere. Eine strikte Schuldenregel verhindere die exzessive Verschuldung und wahre die Selbstkontrolle des Staates.
Beide Positionen erscheinen unvereinbar, doch müssen sie dies nicht zwingend sein. Mit vier gezielten Anpassungen der Schuldenregel könnte ein Kompromiss gefunden werden, der zudem die Generationengerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt.
Erstens sollte die gegenwärtig kontraproduktive Schuldenbremse hin zu einer nominalen Ausgabenregel umgestellt werden. Der Staat dürfte dann in jedem Jahr nur so viele zusätzliche Ausgaben einplanen, wie es dem Wachstum der Wirtschaftsleistung entspricht. Dadurch würde die Nettoverschuldung des Staates bei 60 Prozent stabilisiert. Gleichzeitig könnte der Staat über den Konjunkturzyklus effektiver auf Schwächephasen und besondere Herausforderungen reagieren.
Zweitens sollten sinnvolle Zukunftsinvestitionen ausgenommen werden, wenn diese langfristig zur Leistungsfähigkeit von Wirtschaft und Sozialstaat beitragen. Diese sogenannte Goldene Regel sollte so ausgelegt werden, dass die Nettoinvestitionen immer positiv sind. Dadurch würde erreicht, dass der öffentliche Kapitalstock nicht schrumpft und der Staat nicht länger von seiner Substanz lebt.
Aber der Staat muss – gerade in Zeiten einer riesigen demografischen Schrumpfung – seine öffentlichen Konsumausgaben für die direkt und indirekt Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung reduzieren, um nicht einen weiter steigenden Anteil der Wirtschaftsleistung für sich zu beanspruchen. Die öffentlichen Konsumausgaben sollten proportional zur Gesamtzahl aller Beschäftigten in Deutschland reduziert werden.
Die Umsetzung dieser beiden Elemente macht es erforderlich, auf allen föderalen Ebenen eine neue Form der Kostenrechnung einzuführen. Heute ist dem Staat der wahre Wert seines Vermögens häufig unbekannt, weil er nicht berücksichtigt, wie Straßen, Kanäle und andere Einrichtungen der öffentlichen Infrastruktur über die Zeit an Wert verlieren. Deshalb sollten Bund, Länder und Gemeinden künftig wie private Unternehmen zur doppelten Haushaltsführung gezwungen werden, um sowohl Schulden als auch Vermögen messbar und nachvollziehbar zu machen. Das Problem heute ist nicht, dass Deutschland zu viele Schulden hätte, sondern dass der Staat seit 25 Jahren von seiner Substanz lebt und der Wert der öffentlichen Infrastruktur und Daseinsfürsorge schrumpft.
Zweitens hat Deutschland ein riesiges ungenutztes Potenzial bei der Erwerbstätigkeit von Ausländer*innen, insbesondere derer, die bereits in Deutschland leben. Im Juni 2024 befanden sich rund 3,3 Millionen Schutzsuchende in Deutschland. Obwohl die Integration in den Arbeitsmarkt der vielen Geflüchteten, die seit 2015 nach Deutschland gekommen sind, besser gelingt als erwartet, besteht nach wie vor großes Potenzial. Viele dieser Menschen befinden sich auch Jahre nach der Ankunft noch nicht in Beschäftigung. Dies gilt insbesondere für geflüchtete Frauen.
Häufig ist es auch der Fall, dass Menschen in Jobs tätig sind, die deutlich weniger Qualifikationen erfordern, als viele der ausländischen Mitmenschen mitbringen. Vor allem viele bürokratische Hürden, wie schleppende und intransparente Genehmigungsverfahren von Visa, schrecken viele ausländische Fachkräfte von außerhalb der EU ab, Deutschland als Zielland zu wählen.
Drittens müssen die impliziten Zukunftsverpflichtungen des Sozialstaats, für Verteidigung und insbesondere für die Kosten der Klimakrise und des Verlusts von Umwelt und Biodiversität berücksichtigt werden. Bereits heute sehen wir die enormen, auch finanziellen Kosten, die Naturkatastrophen, Kriege und Pandemien verursachen. Staat und Gesellschaft dürfen nicht länger blind fliegen und aufs Beste hoffen, sondern müssen sich auf die dadurch verursachten steigenden Kosten für die Zukunft vorbereiten. Zudem hat der Staat den Babyboomern gigantische Versprechen bei Rente, Gesundheit und Pflege gemacht, die letztlich von der jungen Generation finanziert werden müssen. Diese Belastungen sind so stark, dass dies der Wirtschaft und damit dem Wohlstand aller in Deutschland schaden wird. Solche impliziten Staatsschulden müssen begrenzt werden, um die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen sicherzustellen und künftige Generationen nicht über Gebühr zu belasten.
Viertens sollte die Schuldenregel auch die Verteilung von Chancen und Ressourcen innerhalb der Gesellschaft explizit berücksichtigen. Der Staat darf sich nicht weiter aus der Daseinsvorsorge zurückziehen und die Vorsorge für Alter, Gesundheit und Pflege, für Bildung und Ausbildung und sozialen Frieden privatisieren. Der Staat muss dem Anspruch eines exzellenten Bildungssystems mit hoher Chancengleichheit, der Sicherung eines auskömmlichen Existenzminimums und gleichwertiger Lebensbedingungen überall in Deutschland gerecht werden.
Wie realistisch ist eine generationengerechte Reform der Schuldenbremse? Vielleicht stehen die Chancen schlecht, denn junge Generationen finden nach wie vor kaum Gehör im öffentlichen Diskurs. Die Verlockung für die heute verantwortlichen Babyboomer ist groß, ihre Lebensgewohnheiten unverändert beizubehalten und notwendige Veränderungen und Reformen auf künftige Generationen abzuschieben.
Die Hoffnung besteht jedoch, dass die hier vorgeschlagenen Reformen auch die Verteidiger der heutigen Schuldenbremse überzeugen, da sie auch vom Staat verlangen, Ausgaben zu reduzieren und effizienter zu werden. Eine Schuldenregel ist aus Sicht junger und künftiger Generationen gut, wenn sie die heutigen Entscheider zu verantwortungsvollem Handeln verpflichtet und die Interessen junger und künftiger Menschen explizit berücksichtigt. Daher sollte die neue Bundesregierung dringend eine Reform der Schuldenbremse umsetzen, die der Perspektive der Generationengerechtigkeit einen zentralen Stellenwert einräumt.
Themen: Öffentliche Finanzen , Rente und Vorsorge