Blog Marcel Fratzscher vom 24. März 2025
Der Paradigmenwechsel bei Schulden und Investitionen darf nicht zulasten der jungen Generation gehen. Auch die Babyboomer müssen sich auf mehr Verzicht einstellen.
Die Grundgesetzänderung zu Sondervermögen und Schuldenbremse ist ein Paradigmenwechsel für Politik und Gesellschaft. Die Entscheidung des Bundestages korrigiert ein Stück weit die deutsche Obsession mit Schulden und Sparen. Sie ist ein Eingeständnis, dass Deutschland ohne deutlich mehr öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Verteidigung seinen erheblichen wirtschaftlichen Wohlstand und seine Sicherheit nicht wird gewährleisten können. Vor allem aber könnte dieser Paradigmenwechsel wieder zu mehr Generationengerechtigkeit beitragen.
Diese Kolumne von Marcel Fratzscher erschien am 21. März 2025 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Die Grundgesetzänderung ist eine pragmatische, aber keineswegs ideale Lösung, um mehr Geld für Zukunftsinvestitionen zur Verfügung zu stellen. Daueraufgaben sollten grundsätzlich immer über den Kernhaushalt finanziert werden. Zudem hebelt ein Sondervermögen die demokratischen Kontrollmechanismen ein Stück weit aus, da es nicht den gleichen Transparenz- und Rechenschaftsanforderungen unterliegt wie der reguläre Haushalt, bei dem die Parlamente deutlich mehr Mitspracherecht haben. Darüber hinaus können Sondervermögen auf nationaler Ebene zu Konflikten mit den europäischen Regeln führen und damit auch gemeinsame europäische Absprachen unterlaufen.
Aber ohne deutlich höhere öffentliche Investitionen wird die Transformation der deutschen Wirtschaft nicht gelingen; viele gute Arbeitsplätze und Wohlstand werden verloren gehen und die jungen und künftigen Generationen werden die Hauptleidtragenden sein. Das Sondervermögen ist sicher nicht die beste Lösung, aber es ist deutlich besser, als weiter nichts zu tun und den wirtschaftlichen Niedergang zu verwalten. Wir brauchen einen unabhängigen Fiskalrat, der Zugang zu relevanten Daten hat und dokumentieren kann, inwiefern die Versprechen der künftigen Bundesregierung auch wirklich eingehalten werden.
Mehr Geld für Investitionen ist notwendig, aber nicht ausreichend, um Deutschland zukunftsfähig zu machen. Die neue Bundesregierung muss dafür sorgen, dass vor allem bei den Kommunen, die fast die Hälfte aller öffentlichen Investitionen tätigen, ausreichend Geld ankommt und sie diese wichtigen Projekte umsetzen können. Dies erfordert grundlegende Reformen des Föderalismus, den Aufbau und die Bündelung staatlicher Kapazitäten zur Umsetzung von Infrastrukturprojekten. Es erfordert den Abbau von Bürokratie und Regulierung sowie eine deutlich höhere Geschwindigkeit bei Genehmigungsverfahren.
Darüber hinaus muss die Bundesregierung wichtige Strukturreformen voranbringen, insbesondere in Bezug auf die Sicherung von Fachkräften. Ohne diese Reformen werden keine ausreichenden öffentlichen und privaten Kapazitäten zur Umsetzung von Investitionen geschaffen und viele Mittel bleiben ungenutzt oder führen nur zu höheren Preisen.
Zweitens muss jetzt dringend eine grundlegende Reform der Schuldenbremse folgen. Das Problem Deutschlands ist heute nicht, dass der Staat eine zu hohe explizite Staatsverschuldung durch Kredite und Anleihen hätte – die Staatsschuldenquote ist mit 63 Prozent die niedrigste unter den großen Industrieländern und auch absolut eher gering. Die Probleme liegen vielmehr in zwei anderen Bereichen. Zum einen sind die öffentlichen Vermögenswerte in den vergangenen 25 Jahren geschrumpft. Die Nettoinvestitionen des Staates waren in den meisten Jahren negativ, sodass der Staat von seiner Substanz gelebt hat und die Rahmenbedingungen für private Investitionen heute zu schlecht geworden sind (siehe DIW Berlin: Investitionslücke in Deutschland: Und es gibt sie doch! Vor allem Kommunen sind arm dran).
Zum anderen bestehen erhebliche implizite Staatsschulden in Form von Verpflichtungen in den Sozialsystemen, vor allem gegenüber der Generation der Babyboomer. Die Stiftung Marktwirtschaft hat diese implizite Staatsverschuldung auf über 300 Prozent einer jährlichen Wirtschaftsleistung geschätzt. Auch wenn solche Berechnungen auf vielen Annahmen beruhen, sind sie realistisch und der Unterschied zur expliziten Staatsverschuldung zeigt sehr deutlich, wo das eigentliche Problem liegt. Eine neue generationengerechte Schuldenbremse sollte beide blinde Flecken adressieren.
Das Problem Deutschlands ist heute auch nicht, dass der Sozialstaat zu groß ist. Die Soziale Marktwirtschaft mit ihrem Solidaritätsprinzip und der gemeinsamen Absicherung ist eine große Stärke und die Grundlage unseres wirtschaftlichen Wohlstands. Forderungen nach pauschalen Einschnitten in den Sozialstaat – etwa durch Kürzungen bei Bürgergeld, Rente oder Pflege und Gesundheit – sind daher falsch und schädlich.
Zum einen müssen die Sozialsysteme effizienter werden. Andererseits haben wir in den vergangenen 30 Jahren eine erhebliche Verteilungsschieflage bekommen. Die politische Antwort auf den demografischen Wandel war fast immer eine noch stärkere Umverteilung von Jung zu Alt. Wir haben aber längst den Punkt überschritten, an dem diese Umverteilung exzessiv geworden ist und wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Das muss jetzt korrigiert werden. Zum Teil sicher auch durch Verzicht der Babyboomer auf Leistungen, beispielsweise durch ein höheres Renteneintrittsalter für diejenigen, die dazu in der Lage sind.
Vor allem aber brauchen wir weniger Umverteilung von Jung zu Alt und mehr Umverteilung von Reich zu Arm. Zumal einige unserer Sozialsysteme eher eine Umverteilung von Arm zu Reich bewirken. Menschen mit geringen Einkommen haben im Alter eine um fünf bis sechs Jahre geringere Lebenserwartung bei Renteneintritt als Menschen mit hohem Einkommen. Dadurch und durch das sogenannte Äquivalenzprinzip ist unsere gesetzliche Rente letztlich eine Umverteilung von Arm zu Reich. Kurzum: Wir brauchen dringend Reformen der Sozialsysteme, bei denen starke Schultern wieder einen größeren Anteil der Last tragen und gleichzeitig das Solidaritätsprinzip gewahrt bleibt.
Neben einer großen Reform der Sozialsysteme ist eine grundlegende Steuerreform eine zentrale Aufgabe für die neue Bundesregierung. In Deutschland wird Arbeitseinkommen hoch besteuert und Vermögen so niedrig wie in kaum einem anderen Land. Dabei geht es nicht um die Frage der Gerechtigkeit – das mag jeder anders empfinden –, sondern um die Frage der Effizienz. Unser Steuersystem setzt enorme Fehlanreize, es vermindert vor allem die Anreize für Arbeit bei Menschen mit mittleren und geringen Einkommen und fördert die passive Vermögensbildung. Die neue Bundesregierung sollte die geringen und mittleren Einkommen deutlich entlasten, Fehlanreize wie hohe Transferentzugsraten abbauen und gleichzeitig große Vermögen stärker besteuern.
Die Grundgesetzänderung ist eine riesige Chance, Deutschland zukunftsfähig zu machen und die seit mehr als einem Jahrzehnt verschleppte wirtschaftliche und soziale Transformation auf den Weg zu bringen. Die neue Bundesregierung muss den Mut haben, mit alten Besitzständen zu brechen, Wahlversprechen einzulösen und Reformen anzustoßen. Wenn der neuen Bundesregierung dies gelingt, werden vor allem die jungen und zukünftigen Generationen die großen Gewinner dieser Reformen sein.