Medienbeitrag vom 29. Mai 2017
Glaubt man den politischen Parteien, dann scheint die Steuerlast in Deutschland ungerecht verteilt zu sein. Sie überbieten sich im Bundestagswahlkampf mit Versprechen von Steuererleichterungen an ihre Wähler oder mit Forderungen nach Steuererhöhungen für Reiche. Die hohen fiskalischen Überschüsse von fast 24 Milliarden Euro im vergangenen Jahr haben Begehrlichkeiten geweckt. Der Bundestagswahlkampf wird wohl in den kommenden Monaten immer mehr zu einem Steuerwahlkampf. Gibt es dafür einen guten Grund, wie sieht die Steuerbelastung für die Menschen wirklich aus?
Das deutsche Steuersystem beruht auf dem Grundprinzip der Leistungsfähigkeit. Menschen mit hohen Einkommen aus Arbeit und Kapital sollen demnach einen höheren Anteil ihres Einkommens zum staatlichen Steueraufkommen leisten – Steuern sollen prinzipiell progressiv sein. Das heißt, sie sollen prozentual mit dem Einkommen steigen.
Aber wie progressiv ist das deutsche Steuersystem wirklich? Veranschaulicht in einer Grafik liefert die Studie meines DIW-Kollegen Stefan Bach und seiner Co-Autoren vom IW Köln und der FU Berlin dazu die Antwort. Zu entnehmen ist, welche Prozentanteile des gesamten Haushaltseinkommens für welche Steuern und Abgaben aufgebracht werden. Die Haushalte mit den geringsten Einkommen werden links, die mit den höchsten ganz rechts in der Grafik gezeigt.
Diese Grafik hat den Spitznamen „Wal in der Badewanne“ bekommen. Die Badewanne zeigt die Summe der indirekten Steuern und der direkten Steuern. Der Wal veranschaulicht die Sozialbeiträge. Für viele ist der „Wal in der Badewanne“ ein überraschendes Bild, denn offensichtlich ist das Steuersystem Deutschlands weit weniger progressiv als von vielen angenommen.
Dabei ist es wichtig, zwischen direkten Steuern (Einkommen- und Unternehmensteuern) und indirekten Steuern (Mehrwertsteuer, Versicherungsteuer, Energiesteuern, Tabak-, Alkohol- und Wettsteuern, Grundsteuer, Kfz-Steuer und sonstige Steuern) zu unterscheiden. Die Abgaben für Sozialbeiträge (unterteilt in Anteilen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einerseits und der Arbeitgeber andererseits) sind dagegen keine Steuern, denn Menschen erwerben hierfür eine Versicherungsleistung, also Forderungen an den Staat.
Das Bild zeigt deutlich, dass die Einkommen- und Unternehmensteuern deutlich progressiv sind. Fast der gesamte Anteil dieser direkten Steuern wird von der reichsten Hälfte der Haushalte bezahlt. Einige Politiker prangern diese Progressivität an und fordern niedrigere Einkommensteuersätze, was aber nach fast allen Vorschlägen der politischen Parteien vor allem den Besserverdienenden zu Gute kommen würde.
Die indirekten Steuern spielen im Wahlkampf hingegen meist gar keine Rolle. Dabei sind gerade sie das Gegenteil von progressiv, nämlich degressiv: Menschen mit geringen Einkommen wenden einen sehr viel höheren Anteil ihres Einkommens für indirekte Steuern auf als Menschen mit hohen Einkommen. So zahlt beispielsweise ein Haushalt in der Gruppe der 10 Prozent mit den niedrigsten Einkommen mehr als 20 Prozent seines Einkommens als indirekte Steuern an den Staat. Ein Haushalt, der zu den oberen 10 Prozent gehört, zahlt dagegen knapp 8 Prozent seines Einkommens als indirekte Steuern.
Das ist eigentlich wenig überraschend, denn Menschen mit geringen Einkommen können kaum etwas sparen und brauchen diese fast ausschließlich, um ihre Grundbedürfnisse zu decken. Bei einem Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent auf die meisten Güter und Dienstleistungen (mit zahlreichen Ausnahmen wie bei Lebensmitteln) bedeutet dies nun mal, dass hier ein signifikanter Teil des Einkommens in indirekte Steuern fließt. Die Konsumquote von Menschen mit hohen Einkommen dagegen ist viel geringer, sodass die indirekten Steuern hier einen deutlich niedrigen Anteil ausmachen.
Im Gesamtbild aber sind direkte Steuern und indirekte Steuern fast gleich wichtig: Der deutsche Staat nimmt jedes Jahr knapp 380 Milliarden Euro durch Einkommen- und Unternehmensteuern und 330 Milliarden Euro durch indirekte Steuern ein.
Die zwei Arten von Steuern sind jedoch sehr ungleich zwischen dem Einkommensgruppen verteilt. So zahlen die 10 Prozent einkommensstärksten Haushalte 60 Prozent der gesamten Einkommensteuer, aber nur 20 Prozent aller indirekten Steuern. Die unteren 50 Prozent der Einkommensverteilung zahlen 4 Prozent der gesamten Einkommensteuer, aber immerhin 36 Prozent des gesamten indirekten Steueraufkommens.
Die gesamten Abgaben sind in Deutschland nicht durchgehend progressiv. Menschen am unteren Ende der Einkommensverteilung haben nur eine leicht geringere Steuerbelastung als Menschen am oberen Ende. So ist das Steuersystem in Deutschland gar degressiv bis zum 20. Perzentil der Einkommensverteilung. Danach bleibt die steuerliche Belastung bis hin zum Medianeinkommen bei knapp 18 Prozent konstant und steigt danach erst langsam an.
Auch für Haushalte mit relativ hohen Einkommen ist die gesamte Steuerbelastung geringer als von vielen wahrgenommen. So zahlt ein Haushalt aus den 10 Prozent einkommensstärksten (ab dem 90. Perzentil) knapp 25 Prozent seines Einkommens an Steuern. Dies ist nur geringfügig mehr als die 20 Prozent, die ein Haushalt mit den 10 Prozent der niedrigsten Einkommen (10. Perzentil) durchschnittlich an Steuern zahlt.
So ist das deutsche Steuersystem also weder durchgehend progressiv, noch ist es für Menschen mit hohen Einkommen stark progressiv. Nur für die Menschen unter den 5 Prozent einkommensstärksten Haushalten (ab dem 95. Perzentil) steigt die Steuerbelastung recht stark an, wenn sie in eine noch höhere Einkommensgruppe aufsteigen.
Fast durchgehend progressiv dagegen sind die Sozialbeiträge, also gesetzliche Versicherungen für Rente, Gesundheit und Pflege, zumindest bis zu den 15 Prozent einkommensstärksten Haushalten (85. Perzentil), wo dann die Beitragsbemessungsgrenze wirksam wird. Es ist wichtig, die Sozialbeiträge von Steuern zu unterscheiden, denn durch Sozialbeiträge erwerben Menschen direkt Ansprüche an den Staat. So soll das Äquivalenzprinzip der gesetzlichen Rentenversicherung sicherstellen, dass jeder eingezahlte Euro auch die gleichen Rentenansprüche erzielt, unabhängig vom Einkommen des Haushalts. Dies gilt jedoch nicht, oder zumindest sehr viel weniger, für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, sodass die Sozialbeiträge sehr wohl eine Verteilungswirkung von oben nach unten haben.
Das deutsche Steuersystem insgesamt betrachtet ist also alles andere als stark progressiv, zumindest wenn man die indirekten Steuern berücksichtigt. Vor allem Menschen im unteren Viertel der Einkommensverteilung erfahren eine degressive Besteuerung – für sie geht ein geringeres Einkommen mit einer prozentual höheren Besteuerung einher.
Würden die Einkommensteuersätze verändert, könnte man damit die Menschen mit geringen Einkommen nicht entlasten, denn sie zahlen kaum oder keine Einkommensteuer. Ein Absenken der Mehrwertsteuer oder anderer indirekter Steuern, wie der EEG-Umlage, wäre hier der bessere Ansatz. Für Menschen mit mittleren Einkommen würde eine Reduzierung der relativ hohen Sozialbeiträge helfen, wogegen Menschen mit hohen Einkommen am ehesten von einer geringeren Einkommen- und Unternehmensbesteuerung profitieren würden.
Es gibt keine überzeugenden Anzeichen, dass das deutsche Steuersystem für die Mehrheit der Deutschen besonders ungleich ist – mit der wichtigen Ausnahme der 25 Prozent der Geringverdiener. Sie werden steuerlich relativ stark belastet. Aber diese Botschaft hört keine der politischen Parteien gerne, da sie schwer in Einklang mit der von vielen praktizierten Klientelpolitik zu bringen ist.
Dieser Beitrag ist am 26. Mai in der ZEIT ONLINE–Kolumne „Fratzschers Verteilungsfragen“ erschienen.
Themen: Steuern , Verteilung