Blog Marcel Fratzscher vom 15. Mai 2020
Viele Pflegebedürftige werden von der Familie versorgt – vor allem von Frauen. In der Pandemie riskieren sie ihre Gesundheit. Sie hätten mehr Unterstützung verdient.
Viele verstehen erst jetzt in der Krise, wie wichtig für unsere Gesellschaft die Leistungen der Beschäftigten in sogenannten systemrelevanten Berufen sind. Wir können zu keiner Zeit auf medizinisches Personal, Verkäuferinnen, Erzieher, Reinigungs- und Sicherheitskräfte verzichten – und auch nicht auf einige andere mehr. Viele begreifen derzeit auch, wie schwierig es vor allem für junge Eltern ist, Beruf und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bekommen.
Viel zu wenig wird jedoch über eine weitere Gruppe gesprochen, die in diesen Krisenzeiten noch mehr als sonst leistet und dabei nicht nur ihre eigene Gesundheit riskieren muss, sondern auch die naher Angehöriger: Es sind die über vier Millionen Menschen in Deutschland, die informell Pflege leisten, meist für Familienmitglieder, und zudem nicht selten selbst zur Risikogruppe derer gehören, die im Fall einer Infektion mit dem Coronavirus besonders gefährdet wären.
Die Ergebnisse einer neuen Kurzstudie des DIW Berlin zeichnen ein eindeutiges Bild: Es gibt in Deutschland knapp 3,7 Millionen Menschen, die Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen. Nur 800.000 davon werden in Pflegeheimen betreut, der Großteil also zu Hause. In 80 Prozent der Pflegehaushalte wird die informelle Pflege teilweise oder ganz privat geleistet, meist von Familienmitgliedern, häufig Partnerinnen oder Partnern, in vielen Fällen aber auch von den Kindern. Die meisten Pflegebedürftigen erhalten zwar Pflegegeld oder Sachleistungen, aber ein großer Teil der Pflege wird unentgeltlich und informell erbracht.
Dieser Beitrag ist am 15. Mai 2020 in der ZEIT ONLINE–Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen erschienen. Hier finden Sie alle Beiträge von Marcel Fratzscher.
Knapp die Hälfte der Pflegenden ist berufstätig, viele davon sogar in Vollzeit. Nicht überraschend ist, dass rund zwei Drittel der Menschen, die informell Pflege leisten, Frauen sind. Und: Der Großteil der Pflegenden ist selbst älter als 50 Jahre – diese Altersgruppe gehört zur erweiterten Risikogruppe hinsichtlich einer Infizierung mit dem Coronavirus.
Die Corona-Krise hat das Leben für die Menschen, die ihre Angehörigen oder Freunde zu Hause pflegen, in vielerlei Hinsicht nochmals deutlich erschwert. Eine Reihe von Pflegeheimen hat während der Krise einen Aufnahmestopp verhängt, entweder weil ihnen das Personal fehlt, oder um das Ansteckungsrisiko zu begrenzen. Hinzu kommen Einreisestopps für private Pflegekräfte, die häufig aus Osteuropa kommen, um Menschen in Deutschland zu Hause zu pflegen. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber es könnte vor der Krise in Deutschland bis zu 800.000 solcher Pflegekräfte gegeben haben. In die Bresche springen meist Angehörige, die jetzt häufig noch deutlich mehr Zeit für die Pflege aufbringen müssen als in normalen Zeiten ohnehin schon.
Die Tatsache, dass Kitas und Schulen geschlossen sind und Kinder zu Hause betreut werden müssen, macht es für Pflegende mit minderjährigen Kindern noch schwerer, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. Auch die psychologische Belastung durch die Pflege älterer Menschen, zum Beispiel mit Demenz, ist in einer solchen Krise enorm. Hinzu kommt die Angst, Angehörige anzustecken: Informell Pflegende haben meist keinen ausreichenden Zugang zu Schutzkleidung oder anderen Vorsorgemaßnahmen, die Pflegeheimen zur Verfügung stehen.
Die allermeisten Opfer der Corona-Krise sind ältere und pflegebedürftige Menschen. Aber auch die Menschen, die sich um die Pflege kümmern und selbst häufig zur Risikogruppe gehören, sind gefährdet. Diese Pflegenden tun dies häufig in vollem Bewusstsein, welches Risiko sie für sich und ihre Angehörigen eingehen. Aber sie haben letztlich keine andere Möglichkeit, als dieses Risiko einzugehen.
Die Familie ist der größte Pflegedienst Deutschlands. Und es sind wieder einmal die Frauen, die den bei weitem größten Teil dieser Leistung für die Gesellschaft erbringen und ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen, seien es berufliche, private oder gesundheitliche. Es gibt sicherlich keine leichte und schnelle Lösung für diese Herausforderungen. Aber die Politik kann eine Menge tun, um diese Menschen besser zu unterstützen.
Eine Ausweitung des Rechtsanspruchs auf Pflegezeit oder Familienpflegezeit und eine Aussetzung der Pflicht zur Rückzahlung von in der Pflegezeit gewährten Darlehen wären zwei konkrete Maßnahmen, um Pflegende zu unterstützen und ihnen mehr gesellschaftliche Wertschätzung entgegenzubringen. Die Bundesregierung plant einen Bonus von bis zu 1.500 Euro für Beschäftigte in der Pflegebranche – wieso sollte eine finanzielle Entlastung auch der informell Pflegenden also nicht möglich und angemessen sein?
Zudem sollten Pflegende dringend bevorzugten Zugang zu Schutzkleidung und anderen Hilfen für die Vorsorge erhalten. Aber auch die Tagespflege und der Zugang zu Pflegeheimen sollten dringend verbessert werden, um die Angehörigen zu entlasten, das Risiko einer Ansteckung für alle zu verringern und somit zu helfen, die Pandemie nachhaltig in den Griff zu bekommen.
Es ist wichtig, die Debatte um die Entwicklung der Ungleichheit von Einkommen differenziert und ausgewogen zu führen. Es wäre vereinfacht und falsch, die starke Zuwanderung als den Hauptgrund dafür zu sehen, dass die Einkommensungleichheit nicht stärker sinkt. Viele andere Gruppen in Deutschland sind stark und zunehmend von niedrigen Einkommen betroffen. Dazu gehören die vielen Alleinerziehenden, meist Mütter und deren Kinder, für die das Armutsrisiko ebenfalls bei über 25 Prozent liegt, und die stetig steigende Anzahl von Rentnerinnen und Rentnern, für die die Altersarmut zunehmend zum Problem wird. Die Lehre aus den vergangenen Krisen, so schwer diese auch mit der jetzigen Pandemie vergleichbar sein mögen, ist, dass die Sicherung von Beschäftigung, die Vermeidung von Arbeitslosigkeit und ein starker Sozialstaat essenziell sind, um einen Anstieg von Einkommensungleichheit und Armutsrisiko zu verhindern.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Familie , Gender , Gesundheit