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Die soziale Notlage trifft schon längst die breite Masse

Blog Marcel Fratzscher vom 29. August 2022

Die Mehrheit der Deutschen kann in der Krise nicht sparen und 40 Prozent konnten es schon vorher nicht: Die Politik muss handeln, sonst zerbricht der Sozialstaat.

60 Prozent der Deutschen können in dieser Krise nicht sparen – so die erstaunliche Zahl, die diese Woche viel Aufmerksamkeit erregt hat. Dabei ist dieser Befund gar nicht  überraschend, haben doch fast 40 Prozent der Menschen in Deutschland kein nennenswertes Vermögen, konnten also auch in der Vergangenheit nie systematisch sparen. Dies sind jene Menschen, die jetzt von der Krise dreifach betroffen sind: Sie erfahren individuell eine drei- bis viermal höhere Inflation, haben wenig Einkommen, um diese Teuerung auszugleichen,  und verfügen zudem über keine Ersparnisse, auf die sie zurückgreifen können. Das Resultat ist eine soziale Notlage, in der viele Menschen in Existenznot geraten.

Dieser Text erschien am 26. August 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Wie konnte es dazu kommen? Wieso sind so viele Menschen so verletzlich und können in einem so reichen Land eine solche Krise nicht selbst bewältigen? Ein zentraler Grund liegt in den gebrochenen Versprechen des Sozialstaats, der 70 Jahre lang – als Teil des Gesellschaftsvertrags – den Menschen zugesichert hat, dass sie sich in jeder Not auf ihn verlassen können. Jetzt wird uns schmerzvoll vor Augen geführt, dass der Sozialstaat diese Versprechen nicht immer halten kann.

Die Fakten zum Sparen in Deutschland sind für viele überraschend: Es gibt kaum ein Land, in dem die Ungleichheit der Ersparnisse so hoch ist, also die Menschen zwar so viel sparen, aber gleichzeitig auch sehr viele überhaupt kein eigenes Erspartes aufbauen können. Das Besorgniserregende ist jedoch, dass mit den erwähnten 40 Prozent ungewöhnlich viele der Menschen in Deutschland so gut wie keine Ersparnisse haben. Sie haben somit privat keine Absicherung für Notfälle, für Krisen, für die Familie oder im Alter.

Viele konnten noch nie sparen

Was sind die Ursachen für diese Vermögensarmut in Deutschland? Zum einen können viele Menschen nicht sparen, da sie geringe Einkommen haben. Man darf nicht vergessen: Deutschland hat einen der größten Niedriglohnsektoren der westlichen Länder, Arbeit wird ungewöhnlich stark besteuert und die steigenden Lebenshaltungskosten erodieren die Kaufkraft vieler Menschen mit geringen Einkommen stark.

Der zweite Grund ist das fast blinde Vertrauen so vieler Menschen in Deutschland in den Sozialstaat. Von klein auf wird den  Menschen suggeriert, der Sozialstaat sei stark und versichere Menschen gegen Notlagen. Doch das ist eher eine Illusion. So wird Deutschland seinem Versprechen der Aufstiegschancen durch Bildung und Arbeit immer weniger gerecht, die Bildungsmobilität ist eine der geringsten in Europa. Auch das Versprechen, der Staat garantiere günstige Mieten und stabile Wohnverhältnisse, ist in den vergangenen 15 Jahren wie eine Seifenblase zerplatzt. Die Mieten sind explodiert – trotz Lohnsteigerungen hatten viele Menschen allein wegen der gestiegenen Wohnkosten weniger Geld zur Verfügung.

Auch das Versprechen des ehemaligen Bundessozialministers Norbert Blüm (CDU) und seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger, die Rente sei sicher, hat sich als falsches Versprechen erwiesen. Bei einem Rentenniveau von weniger als 48 Prozent des durchschnittlichen Lebenseinkommens kommt heute kaum jemand  mehr über die Runden. Menschen, die privat keine Ersparnisse haben, sind allzu häufig im Alter gezwungen, ihren Lebensstandard deutlich zu senken, weiter zu arbeiten oder staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen.

Der Bundesfinanzminister schützt lieber die höheren Einkommen

Und nun in dieser Krise bricht der Staat ein weiteres Versprechen: In dieser Notsituation verweigert er Menschen mit mittleren und geringen Einkommen die notwendige Unterstützung. Stattdessen sieht der Bundesfinanzminister es als Gebot von Gerechtigkeit und Solidarität, Menschen mit besseren Einkommen durch den Ausgleich der kalten Progression zu unterstützen. Vielen scheint die soziale Notlage heute nicht bewusst zu sein, immer mehr Menschen müssen die Tafeln aufsuchen; immer mehr Menschen verschulden sich und laufen Gefahr, ihre Lebensgrundlage zu verlieren.

Die Bundesregierung muss nun dringend eine Kehrtwende vollziehen und darf nicht länger die Augen vor der sozialen  Notlage verschließen. Sie muss dringend mit einem dritten Entlastungspaket Menschen mit geringen und mittleren Einkommen zielgenau, ausreichend und dauerhaft finanziell unterstützen. Der deutsche Staat hat das Geld mehr als anderswo in der Welt. Die Schuldenbremse ist nicht mehr als ein Feigenblatt, welches keinerlei Rechtfertigung gegen ein entschiedenes Handeln der Politik  sein kann. Die Bundesregierung sollte nun sicherstellen, dass der deutsche Staat nicht auch noch ein weiteres Versprechen bricht und die Menschen in dieser Notlage alleinlässt.

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