Pressemitteilung vom 24. Juni 2020
Abstand zwischen gesetzlicher Rente und Grundsicherung ist kleiner geworden und sorgt damit für höhere Mindestbeitragszeiten – Problem dürfte sich vor allem in Städten mit hohen Wohnkosten verschärfen – Rentenversicherung könnte Legitimationsprobleme bekommen
27,4 Jahre – so lange muss ein Durchschnittsverdiener beziehungsweise eine Durchschnittsverdienerin Stand des Jahres 2018 in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, um später eine Rente in Höhe der Grundsicherung zu erhalten. Das geht aus einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) hervor. Die Simulationsberechnungen für die Jahre bis 2045 zeigen zudem, dass diese sogenannte Mindestbeitragszeit weiter zunehmen könnte. Die tatsächliche Entwicklung hängt aber insbesondere von den Wohnkosten ab, die bei der Berechnung der Grundsicherung und damit für den Abstand zur gesetzlichen Rente eine große Rolle spielen. Dort, wo die Wohnkosten schon hoch sind und noch weiter steigen dürften, etwa in großen Städten und Ballungszentren, wird die Mindestbeitragszeit zur Vermeidung von Grundsicherung im Alter wohl stärker steigen als andernorts.
„Besonders in großen Städten lebende Menschen mit unterdurchschnittlichen Gehältern müssen länger in die Rentenversicherung einzahlen, um später mehr rauszubekommen als eine Rente auf Grundsicherungsniveau“, sagt Johannes Geyer, stellvertretender Leiter der Abteilung Staat am DIW Berlin. „Wenn die Politik nicht sicherstellt, dass Menschen, die viele Jahre erwerbstätig waren und Beiträge geleistet haben, eine Rente deutlich über dem Existenzminimum erhalten, könnte die Rentenversicherung ein Legitimationsproblem bekommen.“
© DIW Berlin
Gemeinsam mit Hermann Buslei, Anna Hammerschmid und Mia Teschner aus der Abteilung Staat des DIW Berlin hat Johannes Geyer die Mindestbeitragszeiten einer durchschnittlich verdienenden Person für eine Rente auf dem durchschnittlichen Grundsicherungsniveau berechnet. Mit einem Modell wurde – auf Basis des heutigen Rechtsstandes – die Entwicklung der Rente für die nächsten 25 Jahre vorausberechnet. Der Bruttobedarf der Grundsicherung, der sich in dieser Rechnung aus dem Regelsatz und den Wohnkosten zusammensetzt, wurde fortgeschrieben. Aus diesen Komponenten lassen sich die Mindestbeitragszeiten für eine durchschnittlich verdienende Person berechnen.
„Besonders in großen Städten lebende Menschen mit unterdurchschnittlichen Gehältern müssen länger in die Rentenversicherung einzahlen, um später mehr rauszubekommen als eine Rente auf Grundsicherungsniveau.“ Johannes Geyer
Demnach würde die Mindestbeitragszeit zunächst bis 2025 um knapp ein Jahr fallen. Neben Lohnsteigerungen, die sich auch in höheren Rentensteigerungen niederschlagen, ist dafür vor allem die sogenannte Haltelinie verantwortlich. Diese sorgt dafür, dass das Rentenniveau bis Mitte dieses Jahrzehnts nicht unter 48 Prozent fällt. Mit dem Wegfall der Haltelinie wird der Rentenwert ab 2025 unter den getroffenen Annahmen aber langsamer steigen als der Grundsicherungsbedarf. Das liegt auch an den dann zunehmenden Renteneintritten der sogenannten Babyboomer-Jahrgänge: Die steigende Zahl der RentnerInnen und die sinkende Zahl der BeitragszahlerInnen dämpft den Anstieg des Rentenwerts. Folglich steigt die Mindestbeitragszeit – bis zum Jahr 2038 auf mehr als 28 Jahre. Danach geht sie aufgrund wieder höherer Rentenanpassungen voraussichtlich leicht zurück, bleibt unter dem Strich aber höher als heute. Vieles wird von den Wohnkosten abhängen, deren Entwicklung unsicher und vor allem regional sehr unterschiedlich ist. Gerade in Städten und Ballungszentren dürfte sich die Lage daher wohl stärker zuspitzen.
Die für die Berechnungen getroffenen Annahmen sind infolge der Corona-Krise derzeit insgesamt noch unsicherer als ohnehin schon. Das genaue Ausmaß des Wirtschaftseinbruchs und damit einhergehender Lohneinbußen, die sich auch in der Rente niederschlagen, ist noch nicht absehbar und wurde in den Rechnungen nicht berücksichtigt.
Damit die gesetzliche Rente gerade für Geringverdienende nicht an Legitimation verliert, sollte die Politik zügig handeln. Den StudienautorInnen zufolge könnten Geringverdienenden bis zu einer bestimmten Einkommensschwelle mehr Rentenpunkte zugesprochen werden als Gutverdienenden. Auch könnten für einzelne Gruppen von Nichterwerbstätigen, insbesondere ALG-II-EmpfängerInnen, Rentenansprüche über steuerfinanzierte Beiträge entstehen. Als flankierende Maßnahme käme eine Stabilisierung des Rentenniveaus in Betracht, verbunden allerdings mit einem höheren Finanzierungsbedarf, da hierdurch die Leistungen für alle Versicherten erhöht würden.
Die Grundrente in ihrer derzeit geplanten Form adressiert das Problem nicht systematisch. Ein Grund hierfür ist, dass Personen unterhalb der Mindestversicherungsdauer gar nicht davon profitieren. Die geplante Einkommensprüfung für die Bewilligung des Zuschlags ist nicht nur aufwendig, sie vermischt auch Elemente des Versicherungs- und des Fürsorgesystems. Letztlich erhält nur ein kleiner Kreis von Versicherten meist überschaubare Zuschläge.
Themen: Rente und Vorsorge