Blog Marcel Fratzscher vom 20. Juli 2020
Bisher wurde unterschätzt, wie groß die Vermögen der Deutschen sind – und wie ungleich verteilt. Die große Ungleichheit kann die Erholung nach der Corona-Krise behindern.
Bisher wusste man nicht, wie reich oder arm wir Deutschen wirklich sind. Der deutsche Staat erhebt keine öffentlichen Statistiken zu den Vermögen seiner Bürgerinnen und Bürger – und da vermögende Deutsche nur selten an repräsentativen Umfragen teilnehmen, war es unmöglich zu wissen, wie viel privates Vermögen in Deutschland wirklich vorhanden war. Eine neue, spezifische Erhebung von Daten unter Millionären durch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ändert das: Sie zeigt, dass die Vermögen der reichsten Deutschen bisher stark unterschätzt wurden.
Dieser Beitrag ist am 17. Juli 2020 in der ZEIT ONLINE–Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen erschienen. Hier finden Sie alle Beiträge von Marcel Fratzscher.
So beträgt das gesamte Vermögen der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland nicht 8,2 Billionen Euro, wie bisher geschätzt, sondern mehr als 10,3 Billionen Euro. Die Differenz von rund 2,1 Billionen Euro ist ungefähr so viel wie zwei Drittel der jährlichen deutschen Wirtschaftsleistung.
Es ist nicht überraschend, dass Hochvermögende sich ungern fragen lassen, wie viel Vermögen sie haben, zumal es in Deutschland auch eher verpönt ist, vermögend zu sein. Daher offenbart man den eigenen Wohlstand sehr ungern. Noch weniger gern nimmt man an Umfragen zum Thema teil. Das führte dazu, dass unsere sonst sehr repräsentative Haushaltsumfrage Sozio-oekonomisches Panel des DIW Berlin – für das seit 1984 jedes Jahr mittlerweile knapp 30.000 Personen in gut 20.000 Haushalten befragt werden – das Manko hatte, zu wenige der Hochvermögenden befragen und damit deren Vermögen erfassen zu können.
Das haben meine Kolleginnen und Kollegen Carsten Schröder, Charlotte Bartels, Markus Grabka, Johannes König und Konstantin Göbler nun korrigieren können. Über eine Datenbank mit Informationen zu Eigentümerstrukturen von Unternehmen identifizierten sie Personen mit Wohnsitz in Deutschland, die nennenswerte Anteile an mindestens einem Unternehmen weltweit halten, und baten darum, sie befragen zu dürfen. Nicht alle der Hochvermögenden haben zugestimmt. Aber es haben genug mitgemacht, um erstmals ein repräsentatives Bild der privaten Vermögen in Deutschland zu erhalten. In den neuen Datensatz wurden zudem die 700 Deutschen mit Vermögen von über 250 Millionen Euro aufgenommen, die die Reichenliste des Manager Magazins ausweist.
Die Resultate sind bemerkenswert: Das gesamte private Nettovermögen – Immobilien, Finanzvermögen, Lebensversicherungen, Betriebsvermögen und langfristige Konsumgüter wie Autos, abzüglich von Verbindlichkeiten – ist nicht nur gut ein Viertel höher als bisher bekannt, sondern es ist auch deutlich ungleicher verteilt, als man bisher wusste: Die reichsten zehn Prozent verfügen nicht, wie bisher angenommen, über 59 Prozent des gesamten Nettovermögens – sondern über 67 Prozent. Vor allem das obere Prozent ist deutlich reicher als gedacht: Anstelle der bisher geschätzten knapp 22 Prozent vereinen diese vergleichsweise wenigen Personen mit gut 35 Prozent mehr als ein Drittel des gesamten privaten Nettovermögens auf sich.
Im Vergleich dazu besitzen die ärmsten 50 Prozent der Bevölkerung lediglich rund ein Prozent des privaten Nettovermögens. In konkreten Zahlen ausgedrückt heißt das: Ein durchschnittlicher Millionär hat etwa drei Millionen Euro an Nettovermögen. Dagegen verfügt eine durchschnittliche Bürgerin oder ein durchschnittlicher Bürger in der unteren Hälfte der Verteilung über 3.682 Euro an Nettovermögen. Mehr als jeder Vierte besitzt netto so gut wie gar kein Vermögen oder ist sogar verschuldet.
Im internationalen Vergleich ist die Ungleichheit an privaten Vermögen damit ungewöhnlich hoch. In Europa gehört Deutschland zu den Ländern mit der ungleichsten Verteilung von Vermögen überhaupt. Der Gini-Koeffizient, ein gängiges Maß für die Messung von Vermögensungleichheit (ein Wert von null bedeutet eine völlige Gleichverteilung der Vermögen, ein Wert von 1 eine maximale Ungleichheit), liegt mit den zusätzlichen Daten bei 0,83 und damit noch einmal höher als zuvor ohnehin schon (0,78).
Nun lässt sich herzlich darüber streiten, ob diese Ungleichheit gerecht oder ungerecht ist, wirtschaftlich förderlich oder hinderlich, sozial ausgewogen oder sozial unausgewogen – dies wird der Fokus der nächsten Kolumne sein. Besorgniserregend ist aber, dass so viele Menschen in Deutschland so wenig Vermögen haben und damit gerade in der aktuellen Corona-Krise großen Risiken ausgesetzt sind. Schon jetzt mussten viele Menschen mit geringen Einkommen und Vermögen zumindest einen Teil ihres Ersparten aufbrauchen. Gerade Menschen mit geringen Einkünften und wenig Erspartem sind von der Krise besonders hart getroffen. Ihr Anteil an den fast zehn Millionen Männern und Frauen, die bisher in der Krise ihre Arbeit verloren haben oder in Kurzarbeit gehen mussten, ist überproportional hoch.
Da sollte es nicht überraschen, dass viele den Kinderbonus nicht ausgeben, sondern lieber sparen wollen und dass sie auch trotz der möglichen Einsparungen durch die Mehrwertsteuersenkung nicht konsumieren. Für Menschen mit sehr hohen Vermögen und Einkommen dagegen machen diese zusätzlichen Transfers durch den Staat keinen Unterschied in ihrem Konsumverhalten, da sie dieses auch ohne die Transfers hätten finanzieren können. Dies zeigt, dass eine hohe Ungleichheit an Einkommen und Vermögen gerade auch in Krisenzeiten wie diesen eine weitere Hürde für die wirtschaftliche Erholung ist.
Themen: Ungleichheit , Verteilung