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Zeit für soziale Experimente

Blog Marcel Fratzscher vom 1. März 2021

Dieser Text ist am 26. Februar 2021 in der ZEIT ONLINE–Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen erschienen.

Die Pandemie gibt uns die Chance, Dinge neu zu denken: Die Politik sollte nicht länger Getriebene des Wandels sein und sich für die Idee eines Grundeinkommens öffnen.

Sicherheit plus Eigenverantwortung

Kaum ein Thema wird in Deutschland derzeit so kontrovers diskutiert wie das bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Wenig überraschend passiert dies gerade in einer Krise, in der Millionen Menschen um ihre wirtschaftliche und soziale Existenz bangen. Die soziale Polarisierung war bereits vor der Pandemie groß und verstärkt sich nun drastisch. Gerade jetzt wächst das Bedürfnis nach einer grundlegenden Reform der sozialen Sicherungssysteme – und die Pandemie gibt uns die Chance, viele Dinge neu zu denken. So könnte die soziale Sicherung nicht nur darauf angelegt sein, existenzielle Löcher zu stopfen, sondern jedem und jeder Einzelnen in unserer Gesellschaft neben einem Minimum an Sicherheit auch mehr Eigenverantwortung zu geben.

Soziale Gegensätze nehmen zu

Der technologische Wandel und eine stetig voranschreitende Globalisierung werden die soziale Polarisierung weiter beschleunigen. Während die einen von diesem Wandel profitieren werden und ihn klug für sich persönlich nutzen können – er eröffnet neue Freiheiten und Chancen –, werden andere dagegen, vor allem solche mit geringeren Qualifikationen und schlechteren Startchancen, eine wertschätzende Arbeit verlieren und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Dies ist nicht nur eine in die Zukunft gerichtete Sorge; diese gesellschaftlichen Verschiebungen zeichnen sich seit zwei Jahrzehnten ab und sind für viele verstärkt in der Pandemie Realität geworden. Die US-Präsidentschaft Donald Trumps, der Brexit und der Aufstieg populistischer und rechtsextremer Parteien überall in Europa, auch in Deutschland, sind ein Resultat dieser zunehmenden sozialen Polarisierung.

Mehr Sozialstaat ist nicht die Lösung

Angesichts dieser Verwerfungen rufen viele nach einem größeren Sozialstaat, der mehr finanzielle Ressourcen umverteilt, damit aber letztlich die Abgehängten und Chancenlosen nur ruhigstellt. Dies kann keine Lösung sein und war es auch nie. In Deutschland hat sich ja gezeigt, dass trotz eines wachsenden Sozialstaats die Ungleichheit von Arbeitsmarktchancen, Einkommen und Vermögen zugenommen hat. Der Grund für die soziale Polarisierung liegt nicht darin, dass der Sozialstaat in Deutschland nicht groß genug wäre. Ein Mehr an Sozialleistungen wird daher die soziale und wirtschaftliche Polarisierung auch nicht stoppen, geschweige denn reduzieren.

Selbstbestimmung statt Abhängigkeit

Die Lösung liegt vielmehr in einer grundlegenden Umgestaltung des Sozialstaats, der nicht länger versucht, Menschen ruhig zu stellen oder zu sanktionieren. Erforderlich ist ein Sozialstaat, der jedem Menschen die Chance auf Eigenverantwortung und soziale Teilhabe gibt, der wirkliche Chancengleichheit in allen Bereichen, vom Bildungssystem bis hin zum Arbeitsmarkt, gewährleistet. Es ist ein Sozialstaat, der die Menschen ermutigt und befähigt, ihr eigenes Leben zu gestalten, Autonomie zu erlangen und nicht in einer anhaltenden Abhängigkeit vom Sozialstaat zu verbleiben.

Hin zu einem aktivierenden Sozialstaat

Genau dies ist die grundlegende Idee des bedingungslosen Grundeinkommens – die intrinsische Motivation in jedem Einzelnen zu stärken und zu unterstützen, sein eigenes Potenzial zu nutzen und einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. In anderen Worten: Erforderlich ist eine Umgestaltung von einem ruhigstellenden hin zu einem aktivierenden Sozialstaat.

Viele zweifeln daran, dass das bedingungslose Grundeinkommen der richtige Weg ist, um dieses Ziel zu erreichen. Viele dieser Zweifel sind berechtigt. Einige Menschen werden durch ein Grundeinkommen ihre Arbeit aufgeben und nicht mehr, sondern weniger in ihre Bildung und Qualifizierung investieren. Aber einigen Menschen wird es helfen, eigene Träume und Pläne zu realisieren und sich damit auch verstärkt in die Gesellschaft einzubringen.

Wichtiger Modellversuch

Wir wissen nicht, wie und für wen ein bedingungsloses Grundeinkommen funktionieren wird und was es mit den Menschen machen wird. Und deshalb ist es so wichtig und wertvoll, dies durch einen breit angelegten Modellversuch herauszufinden. Genau dies will die privat finanzierte Initiative Mein Grundeinkommen tun, der es im vergangenen Jahr gelungen ist, zwei Millionen Interessierte für einen Feldversuch zum bedingungslosen Grundeinkommen zu rekrutieren. Unter diese zwei Millionen werden in einem mehrstufigen Verfahren am Ende 1.500 Studienteilnehmende zufällig ausgewählt, von denen 122 Menschen ab Juni diesen Jahres 1.200 Euro monatlich für drei Jahre erhalten. Eine andere Initiative – Expedition Grundeinkommen – versucht, mit Städten, Kommunen und Bundesländern einen eigenen öffentlich finanzierten Modellversuch zu starten. Beide sind extrem wichtige Initiativen, die das DIW Berlin als unabhängiger Partner wissenschaftlich begleiten wird.

Wer glaubt, solche Modellversuche würden ein binäres Resultat produzieren – Grundeinkommen ja oder nein –, der irrt. Das Gegenteil wird der Fall sein: Für viele Menschen wird ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht funktionieren, für andere ganz oder teilweise schon. So werden Hartz-IV-Beziehende mit gesundheitlichen Problemen und einer geringen Qualifikation wenig bis gar nichts von einem solchen Grundeinkommen haben; sie benötigen meist eine viel stärkere und aktivere direkte Unterstützung durch SozialarbeiterInnen, im Gesundheitswesen oder bei der Wohnungssuche. Andere dagegen, beispielsweise junge Eltern, die finanzielle Sicherheit brauchen, aber sich gleichzeitig beruflich neu orientieren müssen oder wollen, könnten stark profitieren.

Finanzielle Sicherheit kann auch die Demokratie stärken

Zudem wird sich ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht nur auf den Arbeitsmarkt auswirken, sondern auf fast jede Facette unseres täglichen Lebens. Bisherige kleinere und unvollständigere Modellversuche mit dem bedingungslosen Grundeinkommen zeigen, dass sich auch die Lebenszufriedenheit und Gesundheit von Menschen durch eine solche finanzielle Sicherheit verbessern kann. Sie zeigen auch, dass sich der gesellschaftliche Zusammenhalt verändert, dass die Demokratie durch eine größere Partizipation und Teilhabe gestärkt werden könnte, dass Familien und Frauen durch die Sicherheit mehr Stabilität erhalten und dass sich auch das Verhalten der Menschen in Bezug auf die Umwelt verändern wird.

Breit angelegte und wissenschaftlich begleitete Modellversuche des bedingungslosen Grundeinkommens sind dringender denn je notwendig, um den grundlegenden Wandel unserer Sozialsysteme und unseres Gesellschaftsvertrags zu verhandeln und umzusetzen. Dies erfordert, neue Wege zu gehen und mit neuen Modellen zu experimentieren. Modellversuche zum bedingungslosen Grundeinkommen stoßen in der Bevölkerung auf enorme Zustimmung. Und nicht nur aus Eigeninteresse, wie man vorschnell unterstellen könnte. Die 200.000 finanziellen Unterstützerinnen und Unterstützter für den privaten Modellversuch von Mein Grundeinkommen zeigen, dass sie diese Veränderung selbstlos wollen und dafür auch in die eigene Tasche greifen.

Wann, wenn nicht jetzt?

Das bedingungslose Grundeinkommen ist einer der radikalsten Ideen für die Reform der Sozialsysteme und des Gesellschaftsvertrags. Dabei ist es gerade diese Radikalität und Einfachheit, die es Politik und Gesellschaft ermöglichen, klare Erkenntnisse darüber zu gewinnen, welche Elemente der Reformen funktionieren und welche nicht. Und wenn nicht jetzt, wann dann? Die Pandemie macht die Zeit reif dafür, sich für eine Erprobung des bedingungslosen Grundeinkommens zu öffnen. Die Politik sollte nicht länger die Getriebene des Wandels sein, sondern diesen aktiv gestalten.

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